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Der Rittmeister Bruhn war eine in der ganzen Gegend beliebte und geachtete Persönlichkeit. Obgleich er von Hause aus kein Landmann war, hatte er doch einen angeborenen Blick für das Praktische und war Mitglied verschiedener Kommissionen, in denen sein ruhiges, besonnenes Auftreten ihm ein gewisses Ansehen selbst unter den Fachleuten verschaffte.
Er war alter Dragoneroffizier, hatte als solcher mehrere Schlachten mitgemacht und war erst nach dem Tode seines Vaters aus dem Dienst geschieden, um den väterlichen Besitz »Seehof« zu übernehmen.
Am liebsten wäre er in der Armee geblieben, die Rücksicht auf seine beiden unverheirateten Schwestern veranlaßten ihn aber, die flotte Dragoneruniform mit dem einfachen bürgerlichen Gewande zu vertauschen. Denn für das Gut fand sich damals kein passender Käufer, und bewirtschaftete er es selbst, so war es ihm doch möglich, seine Geschwister zu unterstützen.
Er war erst seit wenigen Jahren verheiratet und hatte ein einziges Kind, die kleine Astrid. Der Frau Rittmeister, die aus der Hauptstadt stammte, wurde es anfänglich nicht leicht, sich in die ländlichen Wirtschaftsverhältnisse hineinzufinden. Sie war eine eigentümliche Frau. Scheinbar milde und sanftmütig, schien sie allem aus dem Wege zu gehen, was sich nicht mit ihren Anschauungen deckte, in Wirklichkeit war sie aber ein tiefes Gemüt, das langsam, aber sicher sein Ziel verfolgt und sich nicht abschrecken läßt, wenn es auch im Anfang auf Widerspruch stößt.
Sie hatte eine stille energische Natur, die unbemerkt auf ihre Umgebung einwirkte und deren Stärke gerade in ihrer scheinbaren Schwäche bestand. Sie widersprach selten jemandem und schien im größeren Kreise oft keine eigene Meinung zu haben, beobachtete man sie aber unbemerkt, so fand man leicht in ihren Augen einen eigentümlich forschenden Ausdruck, der tief in die Seele hineindrang und zeitweise ihre eigenen Gedanken und Erwägungen mit einem sanftmütigen, matten Lächeln begleitete, das den meisten entging.
Die kritische, verschlossene Natur mit dem echt weiblichen Instinkt und Feingefühl hatte einen Abscheu vor Kraftausdrücken, und wenn der alte Soldat, der ein heftigeres, vollblütigeres Gemüt hatte, aufbrauste, schwieg seine Gattin; zu Zeiten konnte sie ihn aber auch durch einen halb vorwurfsvollen, halb überlegenen Blick dahin bringen, daß er mitten in dem ärgsten Wuterguß einhielt und sich ärgerlich zurückzog. In solchen Augenblicken hatte der Gutsbesitzer eine Zeitlang das unbestimmte Gefühl, daß sie die stärkere von ihnen, beiden war.
Vom ersten Tage ihrer ländlichen Tätigkeit entwickelte Frau Bruhn denn auch eine seltene Energie. Sie fand sich bald besser in die neuen Verhältnisse, und obgleich sie nie mit ihren Leuten schalt oder verlangte, als Herrin besonders berücksichtigt zu werden, wurde es doch überall still, wo sie sich zeigte. Knechte und Mägde grüßten sie mit aufrichtiger Achtung und suchten vergebens, in ihren milden wohlwollenden Zügen zu lesen, ob sie zufrieden sei oder nicht. Immer hatten sie aber das unbestimmte Gefühl, daß kein Fehler und keine Nachlässigkeit ihr entgehe und daß sie sich alles wohl gemerkt habe.
Frau Bruhn war deshalb überall gern gesehen. Allerdings gab es auch Menschen, auf die ihre blasse, zarte Erscheinung einen etwas eigentümlichen, fremden Eindruck machte und die sie deshalb für wunderlich und verschroben hielten.
Ohne daß die Eheleute sich im Laufe der Zeit näher gerückt und vertrauter miteinander geworden wären, hatte der Gutsbesitzer doch allmählich einen ausgeprägten Respekt vor seiner Gattin bekommen, und dieser wuchs mit den Jahren.
Nach der unglücklichen Feuersbrunst, die einen so tiefen Eindruck auf Frau Bruhn und ihre vierzehnjährige Astrid gemacht hatte, waren zwischen den Ehegatten merkwürdig wenig Worte über dieses Ereignis gewechselt worden, das doch für die ganze Familie von so durchgreifender Bedeutung war. Es wurde nur selten berührt, und die Unterhaltung möglichst schnell abgebrochen, gewöhnlich zuerst von dem Rittmeister. Man erklärte sich dies damit, daß er Rücksicht auf die schwachen Nerven seiner Gattin nehme, und man fand dies durchaus lobenswert.
Das Verhältnis zwischen Mann und Frau gestaltete sich seit jener Nacht ganz eigenartig. Es war, als habe sich der Frau Bruhn eine kalte majestätische Ruhe bemächtigt. Ein einziger Blick aus ihren Augen brachte den starken Mann bisweilen dahin, daß er, ohne zu wissen weshalb, die Augen niederschlug und unruhig wurde. Dies geschah meistens, wenn sie für sich allein waren. Auffallend war auch, daß der Gutsherr mehr als früher muntere Gesellschaft aufsuchte. Er war dann lustig, fast lauf, während sie im Kreise der Damen still lächelte, und die anderen sich darüber freuten, daß der Rittmeister so vergnügt war.
Waren sie an den langen Winterabenden für sich allein, so wurden nur wenige Worte gewechselt. Er lag gewöhnlich in seinem Arbeitszimmer auf dem Sofa und rauchte, sie saß still im Wohnzimmer und las, während sie unaufhörlich die Stricknadeln in Bewegung hielt, daß man glauben konnte, sie habe eine ganze Kinderschar mit Strümpfen zu versorgen.
Und doch hatten sie nur ein einziges Kind, ihre Astrid, die, wie so oft, wenn zwischen Ehegatten kein gegenseitiges Verständnis herrscht, zu einem Bindeglied zwischen ihnen wurde. Nicht selten verhandelten die Eltern miteinander durch ihre Tochter. Der Vater sagte: Frage deine Mutter, wie sie darüber denkt und die Mutter sagte: Frage deinen Vater, was er meint, und Astrid brachte beiden Bescheid und bewirkte dadurch, daß die Eltern einig wurden.
Dieser Mangel an Vertrauen unter den Eltern selbst verfehlte nicht, auch auf die Tochter einen gewissen Einfluß auszuüben. Sie konnte so merkwürdig naiv, ausgelassen und schlagfertig sein, gleichzeitig war sie aber oft so eigentümlich altklug, daß man sie für viel älter hielt, als sie in Wirklichkeit war.
Diese stille Resignation, die in so scharfem Gegensatz zu ihrem frischen, blühenden Äußeren stand, rief durch den Kontrast einen gewissen Liebreiz hervor, der in hohem Grade ansprechend wirkte, und Fräulein Astrid Bruhn war eine der jungen Damen, die es gleichzeitig verstehen, sich bei den Älteren beliebt zu machen und sich junge Anbeter zu erwerben.
Unter ihnen war der Begünstigste der neunzehnjährige Studiosus Holger Moe, Sohn des Obersten und Kommandeurs des in der benachbarten Stadt garnisonierenden Infanterie-Regiments. Moe war ein alter Freund des Rittmeisters und hatte jahrelang in derselben Garnison mit ihm gestanden. Eine Zeitlang waren die beiden jungen Offiziere Rivalen gewesen. Sie hatten sich gleichzeitig in eine junge Dame der Gesellschaft, die jetzige Herrin auf Seehof, verliebt, und der Oberst hatte dem Kameraden sein Glück gegönnt, sich selbst aber mit einer wohlhabenden Verwandten getröstet, die er bald nach Holgers Geburt wieder verlor. Der Frau Rittmeister Bruhn gegenüber war er nach wie vor der tadellose, aufmerksame Ritter.
Mit Genugtuung sah der Oberst, daß sein Sohn und Astrid Bruhn sich gern hatten. Er wünschte nichts Sehnlicheres, als daß die jungen Leute einmal ein glückliches Paar würden. Das junge Mädchen erinnerte ihn so sehr an die Schwärmerei seiner Jugend.
An dem Tage seines Philosophikums war der junge Moe freudestrahlend auf dem »Seehof« angekommen. Astrid wollte es scheinen, als sei er plötzlich ein Mann geworden, und sie fühlte sich ihm gegenüber im ersten Augenblick etwas verlegen.
Bei Tische hatte der Rittmeister das Wohl des Sohnes seines liebsten Freundes ausgebracht, und als die Tafel aufgehoben wurde, setzte der Wirt sich mit dem Oberst auf die Veranda, während Astrid ihren Freund in den Garten führte. Es war ein prächtiger, warmer Sommernachmittag in der Mitte des Juli. Sie war frisch und sonnenverbrannt in ihrem leichten, weißen Kleide, während er noch etwas blaß und überarbeitet aussah. Sie schritten zum Croquetplatz hinunter, wo sie so oft zusammen gespielt hatten.
Jetzt macht dir das Spiel wohl kein Vergnügen mehr, sagte sie, zu ihm aufschauend.
Wie kommst du nur darauf! Er blickte sie fast vorwurfsvoll an und folgte ihr mit den Augen, und während sie sich zu den Bällen hinabbeugte, die im Grase umherlagen, sah er den mattweißen Hals aus dem weiten Kragen hervortreten, der ihn gegen die Sommersonne geschützt hatte, und es packte ihn eine unbezwingliche Lust, sich zu ihr niederzubeugen und sie zu küssen. Doch in demselben Augenblick erhob sie sich mit einer schnellen Bewegung, sodaß ihr dichter Haarknoten sein Gesicht berührte und er ganz rot dastand, während sie ihn verwundert anblickte.
Kurz darauf wollte er ihr durchaus zeigen, wie sie eine feste Croquade herausbekomme, obgleich sie fast besser als er selbst spielte. Mit dem Hute im Nacken beugte er sich auf das Knie nieder und setzte ihren Fuß auf eine der Kugeln, dann drückte er ihn so fest, daß sie die Wärme seiner Hand durch die dünnen ziegenledernen Stiefel spürte und unwillkürlich, um sich zu stützen, ihre Hand auf seinen Nacken legte. Während sie über ihn gebeugt dastand und er fühlte, wie ihre Wange sein Haar streifte, legte er den einen Arm um ihre Taille. Er erhob sich langsam, und während er sie fester an sich drückte, führte er sie in die Laube, wo sie so oft als Kinder gespielt hatten. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Er nahm aber ihre beiden Hände und küßte sie auf die Augen.
Darauf saßen sie ganz still nebeneinander, bis sie draußen im Garten Schritte hörten, die sie aus ihren Träumen aufschreckten. Sie erhoben sich und begaben sich langsam nach Hause.
Als Holger Moe am Abend mit seinem Vater nach Hause fuhr, saß er während des ganzen Weges still mit strahlenden Augen da. Es war zwischen ihm und Astrid kein Wort gewechselt und doch war er sich darüber klar, daß er ihr stillschweigendes Ja erhalten hatte, das ebenso gut und ebenso bindend war, als wenn sie es mit vielen schönen Worten gesagt hätte.
Er fühlte, daß die unbewußte, milde, fast brüderliche Liebe, die er früher für sie hegte, zu einer Leidenschaft angewachsen war, die sein Herz entzündet hatte.
Er fühlte sich glücklich und ruhig, sicher in seinen Empfindungen der Jugendfreundin gegenüber und fest in seinem jungen Sinn, der noch nichts von der Welt, ihren Launen und ihrem Wechsel kannte.
Astrids Gemütsstimmung war nervös. Sie begriff mit dem eigentümlichen weiblichen Instinkt, daß sie sich gebunden hatte, ohne daß sie ein Gegengelübde besaß. Im Grunde war es ihr auch noch nicht ganz klar, ob sie Holger Moe wirklich liebte.
Als Knabe war er so flink, munter und unverzagt gewesen, er kam ihr jetzt aber weniger männlich, weniger selbständig in seinem Auftreten vor.
Trotzdem fühlte sie, daß sie ihn gern hatte, aber mit einer mehr schwesterlichen als bräutlichen Liebe.
Sie empfand das Bedürfnis, ihre Gedanken zu sammeln, und blieb, nachdem der Besuch fort war, unten im Garten. Es war dunkler geworden. Die Bäume leuchteten mit metallischem Glanze und zeichneten sich scharf gegen den roten Sturmhimmel ab, an dem die Wolken sich in dicken, baumwollartigen Massen draußen über dem Meere sammelten.
Eine eigenartige feierliche Stimmung packte Astrid. Gleichzeitig fühlte sie sich zum ersten Male in ihrem Leben geängstigt und bedrückt, weil sie niemanden besaß, an den sie sich in vollem Vertrauen wenden konnte. Dieses hatte sie dem Vater wie der Mutter gegenüber eingebüßt. Es war ihr durch ihre ewige Vermittelung zwischen den Eltern verloren gegangen, da sie ja jeder auf seine Seite ziehen wollte.
Sie fühlte sich so beklommen, daß sie hätte laut aufschluchzen können. Da hörte sie plötzlich ihren Namen oben von der Veranda herab.
Astrid, warum bleibst du so lange draußen? Kommst du nicht bald?
Sie begab sich langsam in das Innere des Hauses. Ihre Wangen waren mit einer eigenartig fieberhaften Röte bedeckt, und das Blut klopfte in den feinen Schläfen, sodaß man sah, wie das blaue Adernnetz sich senkte und wieder anschwoll.
Der Vater lag drinnen auf dem Sofa. Er hatte seine Pfeife angezündet und schien in der allerbesten Laune zu sein. Als Astrid eintrat, blickte er sie liebevoll an und sagte freundlich, aber durchaus nicht neckend:
Es will mir scheinen, du und Holger habt euch heute nachmittag recht lange im Garten aufgehalten.
Das junge Mädchen antwortete nicht, wurde aber feuerrot.
Der Vater betrachtete sie mit einem zufriedenen Lächeln.
Nun, erzähle mir, was er dir alles gesagt hat, fuhr der Vater scherzend fort. Astrid fühlte sich aber durch den Ton des Vaters gekränkt, der eine so zarte Sache ihrer Ansicht nach so wenig zart behandelte.
Nichts, antwortete sie mit von Tränen erstickter Stimme.
Nun, nun, laß nur gut sein, liebes Kind. Du bist und bleibst doch meine kleine, gute Astrid. Ich will nicht hinter dein Geheimnis dringen. Komm, gib mir einen Kuß.
Astrid drückte dem Vater einen Kuß auf die Stirn. Er strich ihr mit der Hand über das Haar und streichelte ihr die glühenden Wangen, während er munter lächelte.
Als sie ins Wohnzimmer trat, sah die Mutter sie mit einem ängstlichen, forschenden Blick an, darauf küßte sie die Tochter mit auffallender Zärtlichkeit.
Astrid begab sich auf ihr Zimmer. Eine wunderbare, unerklärliche Unruhe hatte sie ergriffen, und sie weinte, bis sie in einen festen Schlummer fiel.
Die Eltern saßen jedes in seinem Zimmer. Der Gutsbesitzer sandte eine Tabakswolke nach der anderen aus seiner großen Meerschaumpfeife in die Luft hinaus. Die Hausfrau saß da und strickte, die Finger versagten aber oft ihren Dienst, und sie starrte mit ihren hellen, kalten Augen leer vor sich hin.
Draußen zog die Luft sich zu einem Gewitter zusammen