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Zwölftes Kapitel.

An einem klaren, schönen Wintertage fuhr der Oberst Moe von der nächsten Bahnstation nach dem großen Zuchthause hinaus. Der Schnee lag weiß auf den Feldern, und der Tau hatte die nackten Spitzen der Bäume gepudert. Von den Pferden stieg der Dampf auf, und aus den Nüstern bliesen sie heiße Wolken in die kalte Luft hinaus, während sie im scharfen Trabe über den weichen Weg dahinflogen, mutig, wohlzufrieden und von dem klingenden Geläute der Schellen ermuntert, die sie auf dem Rücken trugen.

Der Schlitten war ein geräumiger, auf Kufen gesetzter Arbeitswagen. Der Boden war mit Stroh ausgelegt, der hintere Sitz war aber ganz bequem, und der Oberst, der einen alten Militärmantel trug, würde sich auf der Fahrt sehr wohl befunden haben, wenn ihre Veranlassung keine so traurige gewesen wäre.

Jetzt verglich er nur das Leben in der frischen freien Gottesnatur mit dem traurigen Dasein hinter den dicken Kerkermauern, und er wurde immer niedergeschlagener, je mehr er sich dem großen, gewaltigen Gebäude näherte, das übrigens gar nicht so düster aussah. Sein Erbauer hatte es jedenfalls nicht für nötig gehalten, durch das Aeußere vor dem Aufenthalt im Innern abzuschrecken.

Der Oberst ließ den Schlitten draußen halten und stieg ab. Mit einer gewissen Beklemmung schellte er und hörte Tritte und Schlüsselgerassel drinnen unter den hohen Gewölben, die den schwächsten Laut in dumpfen Lärm verwandelten.

Der Pförtner öffnete. Es war ein alter Unteroffizier, der an dem Schnitt des Mantels den alten Offizierspaletot erkannte und deshalb militärisch die Hacken zusammenschlug.

Wünschen Sie jemand zu sprechen?

Der Oberst wollte gerade antworten, als er zu seinem Erstaunen einen Herrn auf sich zukommen sah, der ihm bekannt erschien. Einen Augenblick später standen sie in vertrautem Gespräch zusammen, während der Pförtner, der ehrerbietig gewartet hatte, die schwere Türe wieder schloß.

Sind Sie es, Herr Pastor? sagte der Oberst. Wie kommen Sie nur hierher? Ich glaubte, daß Sie auf Mors wären.

Wir haben uns lange nicht gesehen, Herr Oberst. Die Zeit eilt schnell dahin.

Ja, ja, meinte der Oberst, der gegen die Wahrheit dieser Bemerkung nichts zu sagen wußte.

Ja, ja! Es ist lange her, und wir haben wohl beide nicht geahnt, daß wir uns im Zuchthause wieder treffen würden.

Der Oberst fühlte sich durch diese in etwas leichtem Tone hingeworfene Bemerkung des Geistlichen wenig angenehm berührt. Für ihn war hier alles Ernst. Er verstand in diesem Augenblick den Scherz nicht, den sich selbst die schwerste Beschäftigung oft mit ihrer eigenen Tätigkeit gestattet.

Der Pastor schien hierauf nicht zu achten, sondern erinnerte den Oberst an ihre ehemaligen vergnügten Spielabende und erkundigte sich nach dem Oberlehrer.

Der Doktor ist tot, sagte der Oberst ungeduldig. Ihm war es unfaßlich, daß man hier in dieser düsteren Umgebung an Vergnügungen und das Kartenspiel denken konnte.

Ach, das bedauere ich von Herzen, sagte der Pastor, ein Mann in den mittleren Jahren mit einem freundlichen, gutmütigen Gesichte und einem Paar hübscher, blauer Augen, die mehr Herz als Verstand verrieten. Besuchen Sie hier jemand?

Ich möchte mit einer der Gefangenen sprechen.

Ah – so, sagte der Pastor und wechselte plötzlich den Ton. Er hatte geglaubt, daß der Oberst einen der Beamten besuche. Wer ist es?

Sie kennen sie aus alter Zeit Frau Bruhn.

Ja, ja, versetzte der Geistliche, jetzt fallt es mir ein. Sie waren ja mit dem Gutsbesitzer auf »Seehof« befreundet. Fürwahr, eine traurige Geschichte.

Der Pastor zog den alten Soldaten mit sich auf den großen mit Kies bestreuten Hof hinaus und ging hier, seinen Arm ergreifend, mit ihm auf und ab. Von Zeit zu Zeit, wenn ihn etwas interessierte, machte er Halt.

Wie geht es der Frau Bruhn? fragte der Oberst.

Nun, ich glaube, daß sie sich in ihr Geschick gefunden hat. Man hat ihr eine leichtere Arbeit gegeben. So viel ich weiß, hat sie es, obgleich sie noch nicht lange hier ist, verstanden, die Aufmerksamkeit der Aufseher auf sich zu ziehen. Die Leute haben ihr den Namen »die stille Gefangene« gegeben. Ihr Betragen ist musterhaft, und sie führt sich mit einem Anstand, der unwillkürlich den Aufsehern imponiert, die naturgemäß einen gewissen Respekt vor der Intelligenz haben.

Haben Sie mit ihr gesprochen?

Nein, nicht über das rein Beamtenmäßige hinaus, ich habe sie aber beobachtet, und zwar gleich am ersten Tage in der Kirche. Wie Sie wohl wissen, sitzen die Gefangenen während des Gottesdienstes so, daß sie einander nicht sehen können. Dagegen sehen sie mich und ich sie. Die meisten von ihnen sinken während der Predigt in ein Gebet zusammen oder sie sind gleichgültig, weil sie den Gottesdienst nur als eine Art Zerstreuung in der Einsamkeit betrachten. Nur Wenige hören das Gotteswort mit Erleichterung und als Trost, wie in einer gewöhnlichen Kirche. Frau Bruhn macht eine Ausnahme. Vom ersten Augenblick merkte ich, daß ihre Augen auf mir ruhten. Ein solcher freimütiger Blick ist hier etwas Seltenes. Nur zu oft stößt man auf Trotz oder Heuchelei. Ihr Auge war suchend, wie das des Gläubigen, ruhig, wie das Auge desjenigen, der sich mit seiner Seele ausgesöhnt hat, in ihrem Ausdruck war aber keine falsche Reue, kein Kriechen nach Vergebung. Ich habe Interesse für sie gewonnen, leider hatte ich bis jetzt aber keine Gelegenheit, sie zu sprechen. Es will mir auch scheinen, als sei sie noch gar nicht so lange hier?

Sie ist schon sechs Wochen hier.

Und Sie wollen sie besuchen?

Ja, ihr Mann bat mich darum. Er sagte mir, daß es schon gestattet sei.

Das muß auf einem Mißverständnisse beruhen. Die Gefangenen dürfen eigentlich erst nach drei Monaten ihre Angehörigen sehen. Da Sie aber einmal hier sind und Frau Bruhns Betragen sicher musterhaft gewesen ist, wird man diesmal schon eine Ausnahme machen. Haben Sie ihr etwas Bestimmtes auszurichten?

Nein, ich glaube aber, daß ihr Mann sehr niedergeschlagen sein würde, wenn ich, ohne sie gesehen zu haben, heimkehrte.

Hierauf wird der Herr Direktor auch schon Rücksicht nehmen. Ich werde gleich zu ihm gehen und ihm die Sache vorstellen. Inzwischen bleiben Sie bei mir und frühstücken Sie. Nach dem langen Wege werden Sie hungrig sein.

Sehr liebenswürdig, sagte der Oberst.

Das große Tor wurde wieder geöffnet, und der Pastor führte den Oberst zu einem kleineren Gebäude, das in einiger Entfernung von dem eigentlichen Gefängnisse lag.

Der Oberst betrat eine freundliche Wohnung, deren Gemütlichkeit nach dem eben Gesehenen einen besonders wohltuenden Eindruck auf den alten Soldaten ausübte.

Der Pastor bestellte das Frühstück, und kurz darauf erschien die Hausfrau. Es war eine kleine muntere Dame, die ganz in ihren hausmütterlichen Pflichten aufzugehen und einen großen Respekt vor ihrem Gemahl zu haben schien. Schnell wurden Eier, Schinken, Braten und Käse aufgetischt. Aber obgleich alles so frisch und einladend aussah, schien der Oberst keinen richtigen Appetit zu haben.

Nach dem Frühstück nahm der Geistliche seinen Hut und ging zum Direktor hinüber. Kaum war er fort, als die Tür vom Korridor aus geöffnet wurde und ein halberwachsenes Mädchen mit roten Wangen und einem strotzend gesunden Teint im Zimmer erschien. Als sie den fremden Herrn sah, wurde sie feuerrot und wollte sich wieder zurückziehen.

Komm' nur herein, Anna, sagte die Pastorin, und an den Oberst gewandt fügte sie hinzu: Das ist unsere älteste Tochter.

Das kleine Mädchen hatte einen Korb mit Blumen, den sie auf den nächsten Tisch stellte. Dann ging sie mit ungeschickten, eckigen Bewegungen zum Oberst hinüber und reichte ihm knixend die Hand.

Das Dienstmädchen kam herein und rief die Frau Pastorin, die sich mit einer Entschuldigung entfernte und den Oberst mit der Kleinen allein ließ. Diese saß auf einer Stuhlecke und wußte nicht, was sie sagen sollte, während der alte Militär seinerseits gedankenvoll vor sich hinstarrte und halb und halb wünschte, daß der Direktor seine Zustimmung versagen möchte.

In ihrer Verlegenheit kam dem jungen Mädchen der natürliche Gedanke, sich zu beschäftigen. Sie trat an den Tisch und fing an, ein Bukett zu binden, das, blaß und ohne Duft, aus den letzten Blumen des Herbstes bestand. Sie enthielten nur noch wenig, etwas künstlich erhaltenes Leben, machten aber trotzdem gegen den leuchtenden Winterschnee einen frischen Eindruck und riefen die Erinnerung an Sommer und Wärme wach.

Der Oberst folgte dem jungen Mädchen mit den Augen, während sie fingergewandt die Stengel mit einem Draht zusammenband.

In dieser Jahreszeit hat man nur selten Blumen, äußerte der Oberst, um etwas zu sagen.

Der Vater will das ganze Jahr hindurch Blumen haben. Er sagt, daß wir für alles sorgen sollen, was das Gemüt erheitert. Hier ist es sonst oft traurig genug.

Da hat Ihr Herr Vater ganz recht.

Ja-a, sagte das junge Mädchen, das gerade mit dem Bukett fertig war. Mit der Lust, etwas zu schenken, die man nicht selten bei denjenigen findet, die viel mit unglücklichen Menschen verkehren, reichte sie plötzlich die Blumen dem Obersten und sagte:

Wollen Sie sie haben?

Der Oberst stand auf und nahm das Bukett, ohne zu wissen, was er damit anfangen sollte.

In diesem Augenblick erschien der Pastor in der Tür und sagte:

Kommen Sie, Herr Oberst. Sie können sie jetzt gleich sprechen.

Der Oberst nahm seinen Hut und eilte der Tür zu. Er war im Begriff, die Blumen von sich zu legen, aber, von einer plötzlichen Eingebung ergriffen, behielt er sie in der Hand und hielt den Strauß halb versteckt hinter dem Rücken.

Sie schritten über den Gefängnishof, durch einen langen, dunklen Gang mit Fenstern unter der Decke, und erreichten ein ziemlich geräumiges Zimmer mit einigen Stühlen und einem großen Christusbilde an der Wand. Der Geistliche ließ den Oberst eintreten und zog sich dann selbst zurück.

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und von einem Oberaufseher begleitet, trat Frau Bruhn ein.

Sie trug ein grobes, graues Kleid mit weißer Schürze und eine kleine Mütze. Ihr Gesicht war blaß, aber noch feiner im Ausdruck als je zuvor, und die Augen leuchteten mit dem klaren Glanz, der so oft der Begleiter einer ärmlichen, abwechslungslosen Ernährung ist.

Oberst Moe wandte unwillkürlich den Kopf ab. Er merkte, daß ihm Tränen in die Augen traten.

Frau Bruhns Stimme war klar und ruhig, und ein gewisser Anstand lag trotz der Gefängniskleidung über ihrer ganzen Person. Sie machte mehr den Eindruck einer Krankenpflegerin als einer ihrer Freiheit beraubten Verbrecherin.

Haben Sie Dank dafür, daß Sie sich nach mir umsehen. Zu Hause ist doch kein Unglück geschehen?

Nein, Ihr Gatte hat sich aber geirrt. Er glaubte, daß es schon nach sechs Wochen gestattet sei, Sie zu besuchen. Der Herr Pastor hat aber die Güte gehabt, mir bei dem Herrn Direktor die Erlaubnis auszuwirken.

Ich weiß es. Wollte Bruhn nicht selbst kommen?

Ja-a, ich glaube wohl. Er fürchtete aber, daß es für beide Teile zu aufregend sei. Dagegen lag ihm sehr daran zu hören, wie Sie sich in die Verhältnisse gefunden haben.

Bruhn tat recht daran, daß er nicht kam. Sagen Sie ihm, bitte, daß Astrid mich auch noch nicht besuchen soll. Das Wiedersehen wird einen zu starken Eindruck auf ihr kindliches Gemüt machen. Grüßen Sie übrigens alle beide und sagen Sie ihnen, daß ich mich hier wohl und im Frieden mit mir selbst und mit Gott befinde und daß ich geduldig dem Tage der Erlösung entgegensehe. Ihnen persönlich, lieber Oberst, herzlichen Dank für Ihren Besuch und für Ihre Freundschaft, die Sie uns in den Tagen des Unglücks bewiesen haben. Und jetzt – Adieu!

Der Oberst strich sich heftig mit der Hand über die Augen. Sein Blick traf den der Frau Bruhn, der die Blumen suchte, darauf blickten sie beinahe gleichzeitig den Oberaufseher an, der zustimmend mit dem Kopfe nickte. Der Oberst überreichte darauf schweigend mit einer Verbeugung den Strauß der Frau Bruhn, die ihn mit einem leisen »Danke!« entgegennahm. In diesem Bilde der Galanterie lag eine fast tragische Wirkung.

Der Oberaufseher sagte nichts. Er begleitete Frau Bruhn hinaus und übergab sie seinem Untergebenen mit einem stummen Zeichen, das dieser beantwortete. Darauf nahm die Gefangene die Schürze vor das Gesicht, wie es im Zuchthausreglement vorgeschrieben ist, und schritt ruhig voran, während sie mit der andern Hand den kleinen blassen Strauß gegen ihre Brust drückte. Ihr Gang war sicher wie der einer Nonne, die durch das Kloster wandert. Die Mitteilung von Hause hatte sie erfrischt, und die bescheidenen Blumen hatten sie fast glücklich gemacht. Sie freute sich darüber, daß sie sie behalten durfte.

Sobald die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, setzte sie sich an ihre Flechtarbeit, während sie ein eigenartiges, altes, einförmiges Lied vor sich hin summte. Ihre Augen ruhten unaufhörlich auf den Blumen, die trotz des schwachen Duftes, den ein anderer kaum gespürt hätte, für sie die ganze Zelle mit Wohlgeruch füllten.

Sie mußte unwillkürlich an den ersten Strauß denken, den Oberst Moe als junger Leutnant ihr überreicht hatte. Es war damals, als er ihr noch den Hof machte. Und von ihm glitt der Gedanke zu Mann und Tochter. Die Begebenheiten der Vergangenheit zeichneten sich für sie in großen, bunten Bildern ab, die heute, nachdem sie mit der äußeren Welt Verbindung gehabt hatte, ein merkwürdiges Leben erhielten, und sie fuhr fort, dieselbe Melodie vor sich hinzusummen, während der Rhythmus stieg und sank und die Finger ununterbrochen schneller und schneller arbeiteten.


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