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Kapitel XXII. Edward erwählt sich seinen Kurs

Das Schreiben eines Briefes an Dahlia war schon mehrfach in Angriff genommen, aber immer als eine lästige Aufgabe beiseite geschoben worden. Wie ein träger Knabe es mit seiner Ferienarbeit zu machen pflegt, wehrte Edward es wie ein Nachtmahr von sich ab und sagte: »Wie kann ich mich hinsetzen und ihr etwas vorlügen?« und dachte währenddes, sein Stillschweigen werde ihr Herz am besten auf die kommende Wahrheit vorbereiten.

Stillschweigen ist meistens das langsame Gift, das von denen in Anwendung gebracht wird, welche die Absicht haben, die Liebe zu morden. Es hat nichts Heftiges, es wirkt ohne einen plötzlichen Stoß, die Hoffnung wird nicht jäh erstickt, sondern träumt von allerhand Übel und kämpft mit Schatten, die ganz allmählich Fleisch und Blut annehmen. Kommen dann die letzten Zuckungen, so sind sie nicht mehr schreckenerregend, das Gefüge ist bereits gelockert und wartet der Auflösung, die Liebe stirbt, wie alles naturgemäß verfällt. Es scheint die mildeste Art, um etwas Grausames zu tun. Aber Dahlia schrieb und schrie ihre Todesqualen während dieser Tortur heraus. Möglicherweise verlangen derart nervös veranlagte Naturen eine gewisse Modifikation des Verfahrens. Jetzt fühlte sich Edward imstande, eine Korrespondenz aufzunehmen. Er sandte das Folgende ab:

»Meine liebe Dahlia!
»Natürlich kann ich nicht erwarten, daß Du Dir eine Vorstellung von den überwältigenden Anforderungen eines Landaufenthaltes machen kannst, wo ein Mann buchstäblich nicht über fünf Minuten nach seinem Belieben verfügen kann, daher übergehe ich Deine Vorwürfe mit Stillschweigen. Mein Vater ist endlich abgereist. Er hat eine außergewöhnliche Vorliebe für meine Gesellschaft an den Tag gelegt, und ich soll ihn noch anderswo treffen – vielleicht mit ihm nach Paris (Deiner Stadt!) hinüberfahren – aber einstweilen bin ich für ein paar Tage mein eigener Herr, und das erste, was ich tue, ist, Deinen Wünschen nachzukommen, Dir nämlich nicht ›zwei Zeilen‹, sondern einen ordentlichen, langen Brief zu schreiben.

»Was in aller Welt bringt Dich auf den Gedanken, daß ich nicht wohl sei? Du weißt doch, ich bin niemals unwohl. Und was die Frage anbetrifft, mich zu pflegen, – wann hätte ich dessen jemals bedurft?

»Du mußt wirklich Geduld lernen. Ich bin eine Woche oder so fort, und Du sprichst davon, hierherzukommen und hier im Hause umzugehen? Gespenster wie Du erfahren eine gar seltsame Behandlung, wenn sie ohne Schutz herumgehen, die Warnung möchte ich Dir geben. Ich habe durchaus nichts dagegen, daß Du in den Parks spazieren gehst, um Dir Bewegung zu machen. Mir scheint sogar, Du mußt es aus Gesundheitsrücksichten tun.

»Bitte, gib die Redereien über Dein verändertes Aussehen doch auf. Du mußt allmählich lernen, daß Du kein Kind mehr bist. Laß doch dies kindische Schreiben. Wenn Dich die Menschen angaffen, wie Du sagst, so weißt Du sehr gut, daß es nicht geschieht, weil Du häßlich wirst. Ich weiß, daß Du das nicht meinst, aber es liegt in derartigen Bemerkungen eine Unaufrichtigkeit, die mir im höchsten Grade zuwider ist. Vermeide auch den Schatten von Heuchelei! Frauen neigen dazu – in aller Unschuld, sicherlich. Ich will Dir ja keine Rede halten.

»Mein Vetter Algernon ist hier mit mir. Er hat nicht von Deiner Schwester gesprochen. Deine Befürchtungen nach dieser Richtung hin sind völlig unnötig. Seine Neigung gehört einer Cousine von uns, einer sehr hübschen Person, die sehr witzig und äußerst gescheit ist und die sich so gut anzieht, wie die Dame, von der Du mir einmal erzähltest, daß Du sie in der Kirche in Wrexby gesehen hättest. Ihre Kammerjungfer ist eine Französin, das erklärt die Sache. Hast Du die Boulevards nicht vergessen?

»Ich möchte gern, daß Du Deine französischen Stunden beibehieltest. Arbeite an Deiner Selbsterziehung, und Du wirst über diese armseligen Klagen erhaben werden. Ich empfehle Dir auch tägliche Lektüre der Zeitungen. Kaufe hübsche illustrierte Journale, wenn Dir die Tagesblätter zu nüchtern sind! Wenn man immer nur in sich hineinsieht, wird man mißgestimmt, und die Folge davon ist oder wird, daß man frühzeitig altert. Das hält keine Konstitution aus. Alle die Damen hier nehmen an den Parlamentsverhandlungen Anteil. Sie vermögen sich mit den Männern über männliche Interessengebiete zu unterhalten. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie lästig ein immerwährendes Kinderstubengeschwätz wird! Die Idee, daß Männer dessen nicht müde werden, beruht auf irgendwelcher wunderlichen Vorstellung, daß sie keine sterbliche Wesen seien.

»Im Februar wird das Parlament eröffnet. Mein Vater wünscht, daß ich mich als Kandidat für Selborough aufstellen lasse. Wenn er oder sonst jemand das Reden unter den Krämern besorgen und für Bier und Geldgeschenke aufkommen will, habe ich nichts dagegen. In dem Falle geht meine Advokaten-Laufbahn zum Kuckuck. Ich muß mich schon willfährig zeigen, denn er hat meine sommerliche Exkursion noch immer nicht recht verwunden. Einstweilen hält er mich wie einen Gefangenen an der Kette für Gott weiß, wie lange, – vielleicht für Monate.

»Was die Erbin anbetrifft, die er hier, als eine gute Partie für mich, hat, so wird es wohl betreffs ihrer demnächst einen gründlichen Kampf zwischen uns geben. Einstweilen mahnt mich meine Börse, ihn nicht zu reizen. Wann werden alte Leute jemals junge verstehen? Ich verbrenne Deine Briefe und bitte Dich, meinem Beispiel zu folgen. Alte Briefe sind die trübseligsten Gespenster der Welt, und man kann nichts Zweckloseres und nichts Hinterlistigeres in seinem Besitz haben. Eine Entdeckung würde mich vollständig verderben.

»Daß Du Dir einen schwarzen Sammethut mit rosa Bändern gekauft hast, ist sehr schön. Oder schriebst Du mit ›blauen‹ Bändern? Aber zu Deinen Farben steht alles gut.

»Du schreibst von Belästigungen bei Deinen Spaziergängen. Bedenke nur, daß eine Frau, die sich immer zu benehmen weiß, niemals der geringsten Unannehmlichkeit ausgesetzt ist.

»Was ist das für ein ›Gefühl‹, von dem Du sprichst? Ich kann mir kein ›Gefühl‹ vorstellen, das Dich hilflos machen könnte, wenn Du Dich beleidigt wähnst. Es gibt eben Frauen, die eine natürliche Würde besitzen, und solche, denen diese Eigenschaft abgeht.

»Du fragst nach den Namen der hier anwesenden Herren: Lord Carey, Lord Wippern (die beiden reisen morgen ab), Sir John Capes, Oberst Barclay, Lord Suckling. Die Damen: Mrs. Gosling, Miss Gosling, Lady Carey. Und dann noch verschiedene Mrs. Irgendwas.

»Sie flicken den ganzen Tag und den halben Abend ihrem lieben Nächsten am Zeuge. Ich geleite sie an die Tür und mache dem nächsten Schub von Gästen meine Verbeugung, und dann weiß ich nicht mehr, wo ich bin.

»Lies nur Poesie, wenn Dich das, wie Du sagst, über meine Abwesenheit tröstet. Wiederhole Dir das Gelesene laut, aber denke dabei an das Taktschlagen mit dem Fuß! Geh' ab und zu ins Theater und nimm Deine Hauswirtin mit. Wenn sie eine falsche Katze ist, zieh einem der Hausmädchen eins Deiner Kleider an, und nimm die mit. Du brauchst nur irgendwelche Begleitung, doch genügt eine Strohpuppe. Nimm eine Loge und setze Dich hinter den Vorhang, so daß man Dich vom Zuschauerraum nicht sieht.

»Ich habe meinem Weinhändler geschrieben, Champagner und Sherry zu schicken. Hoffentlich hat er es getan: den Champagner in ganzen und halben Flaschen, wenn nicht, so sende sie direkt zurück. Ich kenne Deine Sparsamkeit, wenn Du allein sitzt, armes Ding, würdest Du es doch nicht riskieren, den Schaum einer ganzen Flasche herausperlen zu lassen.

»Sei ein gehorsames Mädchen und tu, was mir Freude macht.

»Dein gestrenger Mentor
»Edward der Erste.«

Er las die Epistel zweimal durch, um sich darüber zu beruhigen, daß es ein «warmer Erguß sei und dennoch nicht allzu zärtlich und war durchaus befriedigt. Seine Phantasie spiegelte ihm vor, daß dieser Brief ihn ihr gewissermaßen in eine höhere Sphäre rücke, ging er doch durchaus auf ihre Interessenwelt ein, ohne so vertraulich zu werden, daß sie sich hätte anmaßen dürfen, die seine teilen zu können. Auf diese diskrete Art des Redens ließ er sodann eine zweite Dosis Stillschweigen folgen.

Dahlia antwortete mit Brief über Brief, – bald voll blinder Leidenschaft, dann wieder eigentümlich kalt, aber ohne Vorwürfe. Sie studierte, sagte sie. Ihr Kopf schmerzte ein wenig, nur ganz wenig. Sie ginge spazieren, sie läse Gedichte, sie bäte ihn, er möge verzeihen, daß sie keinen Wein trinke. Sie freue sich, daß er ihre Briefe verbrenne, die ja so töricht wären, daß sie gewiß niemals abgesandt würden, wenn sie je den Mut besäße, sie noch einmal anzusehen, nachdem sie geschrieben wären. Er war etwas ärgerlich über einen ihrer Ausdrücke: »Wie ehrgeizig Du bist!«

»Weil ich mich nicht mein Leben lang in einer Londoner Familienpension zur Ruhe setzen kann!« dachte er, und sein Blick glitt aus der Ferne über sie hin, wie über ein armes, gutes Geschöpfchen, das ihren definitiven Wohnort schon in einer andern Sphäre, als der seinen, angenommen habe. Von einem solchen Gesichtspunkte aus betrachtet, war es selbstverständlich, daß sein lebhaftes Empfinden für ihre Person mehr und mehr abnahm. Er fühlte, daß er aufgewacht sei, und er schüttelte sie ab.

Und nun machte er sich daran, Mrs. Lovell zu unterwerfen. Seine Selbstbezwingung war die erste Frucht dieser Bemühung. Er gestand es sich selbst nicht ein, aber wenn es sich um einen derartigen Wettkampf zwischen zweien handelt, steigt immer die Frage auf: »Wer vermag ohne den andern zu leben?« und es durchfuhr ihn ein jäher Schmerz, wenn er sie mit ihrer melodischen Stimme von den Orten reden hörte, nach welchen sie zu reisen gedächte, den Menschen, welche sie sehen wollte, den Aussichten, einander wiederzutreffen, ehe er noch mit der Erbin Adeline verheiratet sei.

»Einstweilen muß ich mich noch an den Gedanken gewöhnen, mit ihr verlobt zu sein,« sagte er.

Mrs. Lovell sah ihn scharf an:

»Sie hat einen Stiefbruder.«

Er trat wütend von ihr hinweg.

»Teufel!« murmelte er, murmelte es wirklich, obschon er sich bewußt war, daß er sich wie ein Bühnenheld in tragisch-pathetischen Sollen geberdete und benahm. »Sie denken wohl, mich in diesen brutalen Blödsinn des Duellierens hineinzuhetzen? Auf Ehre,« fügte er in seiner natürlichen Redeweise hinzu, »ich glaube wirklich, das denkt sie!«

Aber dieser Blick ließ ihn nicht los. Er berührte und verstärkte seine Eitelkeit, und er vermochte ihrem Auge nicht mehr ruhig zu begegnen. Er versuchte es mit der Lektüre. Jeden Morgen ging er in die Bibliothek hinunter, und in einem Lehnstuhl sitzend, völlig in sein Buch vergraben, sah er alt aus.

Dann kam Mrs. Lovell wohl einmal hinein und ließ den Blick gleichgültig über ihn hinschweifen, äußerte auch wohl ein oder den andern Gemeinplatz und ging wieder hinaus. Die albernen Worte hallten in ihm wider. Das Buch schien ihm fade, klang ihm so hohl, als er es schloß. Das Weib atmete tätiges, rastloses Leben. Sie war ein Ansporn zu angespannter Energie, eine ehrenvolle Zierde, ein steter Anreiz zu ritterlichen Taten. Was sie auch sagen mochte, immer schien sie die Männer gleichsam in einer Schale zu wägen: sie entweder anzuerkennen oder zu verwerfen.

Dieser neuen Auffassung ihrer Persönlichkeit folgte ein Zustand des Rausches, selbst die kühlere nachträgliche Einsicht ließ ihn im Stich. Was für eine Art Mensch mochte Harry, ihr erster Mann, gewesen sein? Ein schnell dreinschlagender Soldat, ein händelsüchtiger Duellant, ein langweiliger Hund. Langweilig, auch ihr? Jedenfalls bewahrte sie ihm ein ehrerbietiges Andenken.

Sie lispelte von Zeit zu Zeit sehr anmutig und mit einer Innigkeit, die etwas Herausforderndes hatte: »Mein Gatte«, und trotz alledem hatte sie eine ausgesprochene Vorliebe für Intellekt. Augenscheinlich dürstete sie nach jener so seltenen Verbindung von Intellekt und persönlichem Mut in einem Manne und wollte sich nicht ergeben, bis sie dieselbe gefunden. Vielleicht glaubte sie, etwas Derartiges gäbe es nicht. Es mochte sein, daß ihr Edward der personifizierte Intellekt war und Harry der verkörperte Mut, und daß sie annahm, wirklich vereint fänden sich die beiden Eigenschaften niemals.

Ihre Bewunderung für seine (Edwards) Klugheit befestigte daher die Überzeugung nur immer stärker in ihr, daß ihm die Begleiterscheinung – männlicher Mut – abgehe.

Edward mußte vom Bösen besessen sein, denn er knirschte vor Empörung mit den Zähnen, weil er fühlte, das Opfer dieses beleidigenden Verdachtes zu sein. Wie sollte er ihn widerlegen? Wie war er in einem zivilisierten Zeitalter, unter besonnenen Männern und Frauen, denen gegenüber eine heftige Dokumentierung seiner Tapferkeit zweifellos seinen Anspruch auf Intellekt in Frage ziehen würde, zu widerlegen? Sein Schädel war wie ein Kochtopf auf dem Feuer, in dem das Hirn fortwährend Blasen aufwarf.

Algernon gegenüber machte er sich über sie lustig und setzte den Jüngling, der sie auf dem besten Wege zu dauernder Vereinigung glaubte, in Erstaunen. »Milch und Paprika« nannte er sie und verglich sie mit der blutdürstigen, blondhaarigen Sachsenkönigin der Geschichte und war kindisch gehässig. Und Mrs. Lovell erfuhr alles getreulich wieder, wie er sehr gut wußte.

»Ein Weib, das Anomalien sucht, bedarf eines Herrn.«

Mit diesem pomphaften Aphorismus schloß er seinen Vortrag über das schöne Enigma.

Große Worte dienen als Notbehelf, wenn eine Möglichkeit, die Vernunft zu befriedigen, fehlt.

Um indessen der Herr eines Weibes zu sein, darf man nicht damit anfangen, sich als ihr Sklave zu winden.

Der Versuch, eine unergründliche Frau zu durchschauen, verleiht ihr die Macht, nur allzu unumschränkt über uns zu herrschen. Ein herrischer Sinn nimmt sie daher mit hartem Griff, zerbricht die Schale und sagt, indem er den Kern herauszieht: »Also das war des Rätsels Lösung!«

Zweifellos ist dies das Geschick, welches Frauen, wie Mrs. Lovell, herausfordern. Tatsache war, daß sie wohl einen Charakter zu enträtseln vermochte, den sie vor Augen hatte – aber sein Gestern-und-Morgen war ihr ein Buch mit sieben Siegeln. Ihre Phantasie kam ihrem Vorstellungsvermögen nicht zur Hilfe, weswegen sie immer eines sichtbaren Beweises für die Tugenden, welche sie schätzte, bedurfte.

Der Durst nach tatsächlichen Belegen für Tapferkeit und Klugheit war bei ihr geradezu zur Manie geworden, doch verlangte sie nichts, was sie nicht selbst in ausgiebigem Maße bot, und zwar unter dem Hinzufügen von Schönheit. Ihre Neigung, zu wetten, entsprang ihrer Leidenschaft für den Kampf; sie war, was Geld anbetraf, weder gewinnsüchtig, noch verschleuderte sie achtlos; tauchte aber eine Meinungsverschiedenheit auf, so empfand sie eine unwiderstehliche Neigung, die ihre zu verfechten. Mochte immerhin das Leben eines Liebhabers dabei auf dem Spiele stehen, sie war bereit, den Einsatz zu zahlen, und hätte nur ein geringschätziges Achselzucken dafür gehabt, wenn der Liebhaber sich etwa darüber beklagt hätte. »Schafe! Schafe!« dachte sie von denen, die sich nicht zu schlagen wagten, ja, sie hatte eine leichte Neigung dafür, dies Epitheton auch auf solche anzuwenden, die sich einfach nicht schlugen.

Bei alledem war Mrs. Lovell eine verständige Frau, scharfsinnig und schlagfertig, auch logischer, als die meisten ihres Geschlechts und – wie man wohl sagen darf – von Grund aus praktisch. Dies letztere in so hohem Grade, daß sie zwei oder drei ihr von Zeit zu Zeit in stiller Stunde aufsteigende Zweifel an sich selbst systematisch beiseite schob, um sie in späteren Jahren zu enträtseln.

»Frankreich«, nannte Edward sie in einer ihrer Unterhaltungen.

Es war eine Bezeichnung, die ein gutes Streiflicht auf ihren Charakter warf. Sie liebte die Franzosen (obschon niemand die Ehre des eigenen Vaterlandes lebhafter verfechten konnte, wenn es dasselbe gegen jene zu wahren galt!), sie liebte ihre ritterlich-knabenhafte Art, ihre Hingebung sondergleichen, ihren erbarmungslosen Sarkasmus, die Einheit der Nation, wenn das Schwert aus der Scheide gezogen ist und auf ein ritterliches Unternehmen hinweist.

Sie liebte ihren feinen Firnis von Gefühl, das sich so häufig an die Oberfläche drängt, daß Engländer der Ansicht sind, Tiefe habe es überhaupt nirgends, als müsse der Verbrauch nach außen hin notwendig den Vorrat erschöpfen, oder als könne das, was im tiefsten Grunde unseres Wesens ist, niemals nach außen hin sichtbar werden.

In ihrer Vorstellung glichen sie einem flatternden Banner im Nachen des Sturmes, Schneemassen dort, wo die Wolken klafften, und Blitzstrahlen, wo Abgründe gähnten – welches Bild seinen Ursprung in der Tatsache haben mochte, daß sie als Mädchen anbetend die Füße Napoleons geküßt hatte, des Riesen der späteren Geister der Weltgeschichte.

Es war ein fürstliches Kompliment. Sie nahm es mit einer Verbeugung entgegen und entwaffnete die beabsichtigte Ironie. Als Erwiderung nannte sie ihn »Groß-Britannien«. Ich bedaure, sagen zu müssen, daß er weniger stolz für seine Nation eintrat. Vielmehr errötete er. Er entsann sich gewisser Artikel, welche die Friedenspolitik um jeden Preis verhöhnten, und empfand dunkel, daß Mrs. Lovell ihn mit einem Quäkerhut zu krönen beabsichtigt habe. Seine Benennung kam bald wieder ab, aber »Ja, Frankreich« und »Nein, Frankreich« wurde beibehalten, wobei sein Bemühen dahin ging, diesem Epitheton allerhand frivole Anspielungen anzuheften, vor denen ihr Scharfsinn es ehrenvoll rettete.

War sie jemals verliebt gewesen? Er fragte sie danach. Sie traf ihn mit einer so rückhaltlosen Bejahung, daß er die Wunde nicht zu verhehlen vermochte.

»Bin ich nicht verheiratet gewesen?« sagte sie.

Er fing an, ein quälendes Verlangen danach zu fühlen, die Vorgeschichte dieser Frau, die ihn folterte, übersehen zu können. Eine Leidenschaft nach ihren Mädchenjahren wurde in ihm wach. Er bat sie um Bilder aus ihrer Mädchenzeit. Sie zeigte ihm das Bild Harry Lovells in einem Medaillon. Er hielt das Medaillon zwischen den Fingern. Der tote Harry wurde sehr warm gehalten. Konnte Intellekt jemals ihre Gefühle so stark berühren, wie Tapferkeit es getan?

»Wo ist der Intellekt, dessen ich mich rühme?« stöhnte er, inmitten dieser aufregenden leidenschaftlichen Empfindungen.

Die Ruhe, in die sein Tätigkeitsdrang gewiegt war, sollte bald aufgestört werden. Es wurde ihm ein Brief gebracht.

Er öffnete ihn und las:

»Herrn Edward Blancove.

»Als Sie mir im Fairly Park vorbeiritten, kannte ich Sie nicht. Ich kann Ihnen ein schriftliches Attest beibringen, daß ich mich seitdem in ärztlicher Behandlung befunden habe. Ich kenne Sie jetzt. Ich fordere Sie auf, mir zu begegnen, mit welchen Waffen Sie für gut befinden, um den Beweis zu liefern, daß Sie kein Meuchelmörder sind. Der Platz mag sein, wo Sie ihn bestimmen. Sollten Sie sich weigern, werde ich Sie zwingen, öffentlich zu bekennen, was Sie getan haben. Wenn Sie mir zur Antwort geben, daß ich kein Gentleman bin, wohl aber Sie, so sage ich, daß Sie mich im Dunkeln angegriffen haben, während ich zu Pferde war, und daß Sie hinfort meinesgleichen sind, wenn es mir passen sollte, dies zu denken. Sie werden nach jener Nacht schwerlich mehr vom Gesetz reden. Den Mann, welchen Sie beauftragt haben, kann ich bestrafen oder laufen lassen, obschon er es war, der den Schlag führte. Aber Sie will ich treffen. Morgen wird ein Freund von mir, ein aktiver Major, hier sein und Sie oder irgendeinen Ihrer Freunde, den Sie bezeichnen wollen, in meinem Namen aufsuchen. Entkommen lassen werde ich Sie nicht. Ob ich einem Schuldigen in Ihnen gegenübertreten werde, weiß Gott allein, aber ich weiß, daß ich ein Recht darauf habe, Sie aufzufordern, mir persönlich zu begegnen.

Ich bin, geehrter Herr,
Ihr ergebener
Robert Eccles.«

Edwards Gesicht wurde seltsam weiß, als er den Inhalt dieser unvorbereiteten Kriegserklärung in sich aufnahm. Der Brief war ihm am Frühstückstisch überreicht worden. »Lesen Sie ihn doch, lesen Sie ihn!« sagte Mrs. Lovell, als sie sah, daß er ihn beiseite legte, und er hatte ihn gelesen, während ihre Augen auf ihm ruhten.

Ihm schien der Mann ein Mensch mit Klauen, die sich um ihn krallten, wie die Fänge eines Dämons. Würde ihn denn nichts zur Ruhe bringen? Edward dachte an irgendwelche Bestechung um des lieben Friedens willen, aber ein zweiter flüchtiger Blick in den Brief überzeugte seinen Scharfsinn davon, daß Bestechungen in diesem Falle machtlos wären; hier nützten weder Stöcke noch Bestechungen. Ebensowenig würde eine Abreise von Fairly etwas ausmachen: der hartnäckige Satan würde ihm nach London folgen, und, was schlimmer war, als ein Spürhund von Dahlias Familie war er jetzt auf der rechten Fährte und schien dies zu wissen. Wie war es möglich, einen Skandal zu vermeiden? Verließ er augenblicklich Fairly und ging an wer weiß welchen Ort der Welt, – den Mann zurückzulassen war unvermeidlich, und sah der Mann Mrs. Lovell noch einmal, war ihren Instinkten, als einer Frau ihrer Art, nicht zu trauen. Es war ebenso wahrscheinlich, daß sie für den Raufbold Partei nähme, wie gegen ihn, das heißt, sie würde von dem Gedanken ausgehen, daß ihm unrecht geschehen sei, – vielleicht denken, daß man ihm eine Begegnung nicht hätte verweigern dürfen. Ein geheimer demokratischer Giftstoff steckt in jedem Weibe, in Mrs. Lovell war er, nach Edwards Beobachtung, sehr stark vorhanden. Sie würde die individuellen Rechte eines Mannes, wenn sie nur energisch behauptet wurden, aller Wahrscheinlichkeit nach, wie er ärgerlich empfand, voll anerkennen, und zwar jeder Lebensstellung, aller Vernunft, allen durch Erziehung und Gesellschaft eingeprägten Ideen zum Trotz.

»Ich glaube, sie wird erwarten, daß ich mich mit ihm schlage,« rief er aus. Jedenfalls wußte er, daß sie ihn verachten würde, wenn er die brutale Forderung ohne das Zurschautragen einer gewissen Würde ausschlüge.

Als sie vom Tische aufstanden, zog er Algernon beiseite. Es war ein unleidlicher Gedanke, gezwungen zu sein, seinen hirnlosen Vetter ins Vertrauen zu ziehen, sogar seinen Rat erbitten zu müssen, aber es war nicht zu umgehen. Vergebens fragte sich Edward, warum er solch ein Idiot gewesen, seine Hände überhaupt mit dieser Sache zu beschmutzen. Er schrieb es seiner Rücksichtnahme auf Algernon zu. Da er im allgemeinen die Herrschaft über seine Leidenschaften besaß, lag es ihm nahe, zu vergessen, daß er sie überhaupt je aus der Gewalt verliere, und der leidenschaftliche Grimm, den Roberts tollkühne Verfolgung in ihm entfesselt hatte, war seinem Gedächtnis entschlüpft, obschon er ihm jetzt in voller Kraft wieder zurückkam.

»Da siehst du, in was für 'ne Patsche du einen Menschen bringst,« sagte er.

Algernon warf einen Blick in den Brief. »O, verdammt, dieser höllische Kerl!« rief er in unmännlicher Ratlosigkeit, dann fuhr er heftig auf: »Ich dich in 'ne Patsche bringen? Bei meiner Ehre, Ned, deine Kaltblütigkeit ist wahrhaftig deine stärkste Seite, wenn es auch nicht deine beste ist!«

Edward packte seinen Arm, denn sie waren noch kaum aus Mrs. Lovells Hörweite. Sie gingen nach oben, und Algernon las den Brief durch.

»Mitternächtlicher Mörder,« wiederholte er, »weiß der Himmel, das klingt eklig. Das ist doch 'ne Lüge, daß du ihn im Dunkeln angefallen hast, was, Ned?«

»Ich hab' ihn überhaupt nicht angefallen,« sagte Edward. »Er hat sich gegen dich wie ein Raufbold benommen und verdiente niedergeschossen zu werden, wie ein toller Hund.«

»Ja, aber bist du wirklich,« Algernon beharrte auf seiner Frage, trotzdem sein Vetter augenscheinlich das Thema zu umgehen suchte, »bist du wirklich mit diesem Kerl, dem Sedgett, ausgegangen, um dem Burschen, als er zu Pferde war, den Weg zu verlegen? Er spricht von einem Schlag. Du hast ihn doch nicht geschlagen, was, Ned? Ich meine, du hast ihm doch höchstens einen Hieb versetzt, wenn es deine Selbstverteidigung galt?«

Edward biß sich auf die Lippen und ließ einen schnellen Blick zur Seite schweifen, wie er es beim Nachdenken wohl zu tun pflegte. Er wünschte, sein Vetter möge vorschlagen, Mrs. Lovell den Brief zu zeigen. Er fühlte, daß er sie, wenn er die Angelegenheit mit ihr beriete, dazu würde bringen können, sie vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes aus zu beurteilen und sich für das, was er tun würde, so weit verantwortlich zu fühlen, daß sie nachträglich nicht wagen würde, ihr Herz gegen ihn Partei ergreifen zu lassen. Wenn er selbst zu ihr ginge, könnte es aussehen, als erbäte er ihre Vermittlung. Es galt, nach jeder Richtung hin gegen den feinfühligen Scharfblick ihres weiblichen Instinkts auf der Hut zu sein.

Er erwiderte Algernon:

»Was ich tat, geschah um deinetwillen. Du würdest mich zu Dank verpflichten, wenn du weiteres Fragen ließest. Ich gebe dir die positive Versicherung, daß ich einen unmännlichen Angriff auf ihn nicht befürwortet habe.«

»Das genügt, das genügt,« sagte Algernon, voll Eifers nicht mehr zu hören, damit es nicht etwa zu einer Auseinandersetzung über die Dinge kommen möchte, von denen er gehört hatte. »Natürlich, dann hat der Kerl keinerlei Recht, – den reitet der Teufel! Wenn man ihn nur dazu kriegen könnte, den Sedgett zu morden und dafür gehängt zu werden. Er hat 'nen Freund, der 'n aktiver Major ist? Na, hör mal, die Behauptung ist ein bißchen stark. Ich werde darauf bestehen, sein Offizierspatent zu sehen. Wahrhaftig, Ned, da ist schwer zu raten. Selbstverständlich werde ich dir zur Seite stehen – darauf kannst du dich verlassen – aber, was der Teufel, soll man raten! Bring' die Sache vors Gericht ... Laß dir von Lord Elling eine Vollmacht ausstellen, um einem Friedensbruch vorzubeugen. Nein, das ist nichts! Dieser Schwindler von einem aktiven Major wird morgen hier vorsprechen. Wenn er sich richtig auszuweisen vermag, kann er sich meinetwegen amüsieren, wie er Lust hat. Ich kann mir noch nicht darüber klar werden, welcher Plan der beste ist. Teufel auch, Ned, es ist wirklich hart, daß du das Denken mir zuschiebst. Ich gehe immer zu Peggy Lovell, wenn ich mich in 'ner Klemme befinde. Richtig – Mrs. Lovell! Mistreß Lovell! Madame! Frau Prinzeß Lovell! wenn du verlangst, daß ich ihren Namen mit respektvollen Titeln in Verbindung bringe. Du bist wohl zu stolz, eine Frau um Hilfe für dich anzugehen, Ned?«

»Nein,« sagte Edward milde. »In gewissen Fällen haben sie einen außerordentlichen Scharfblick. Nur mag man sie nicht gern in so eine Geschichte hineinziehen.«

»Hm,« machte Algernon, »ich glaub', ganz so unschuldig, wie du meinst, ist sie nicht.«

»Sie ist sehr klug,« sagte Edward.

»Sie 's furchtbar klug!« rief Algernon. Er hielt inne, um weiteren Lobeserhebungen auf sie Raum zu geben und fuhr dann fort: »Sie ist so freundlich. Das räumst du nie ein. Ich will 'mal hingehen und die Sache mit ihr überlegen, wenn du wirklich nichts dagegen hast. Daß sie stillschweigen kann, darauf kannst du dich verlassen. Komm, Ned, sie wird ganz gewiß das Rechte treffen. Darf ich es tun?«

»Die Sache geht dich mehr an, als mich,« sagte Edward.

»Meinetwegen, wenn du meinst,« erwiderte der gutmütige Bursch. »Es ist schon der Mühe wert, die Sache mit ihr zu bereden, um zu sehen, wie fein sie das deichseln wird. Und da verlaß dich drauf, sie wird nicht mehr davon wissen, als du wünschst, daß sie weiß. Ich geh' gleich hin.« Er nahm den Brief mit fort.

Edwards eigner praktischer Sinn würde ihm geraten haben, Robert sofort ein kurzes Wort der Erwiderung zu senden, worin er ihm auseinandersetzte, daß er sich zufällig gerade in einer Unterhaltung mit diesem Sedgett befunden hätte, als Robert, ein alter Feind des letzteren, vorbeigeritten sei, und daß er, so sehr er Sedgetts Vorgehen bedaure, unmöglich dafür verantwortlich gemacht werden könne. Aber es war unnütz, daran zu denken, in Übereinstimmung mit den Erwägungen seiner Vernunft zu handeln. Mrs. Lovell war Königin und thronte an der Stelle der Vernunft. Es war durchaus notwendig, sich ihrer Billigung seines Benehmens in diesem Dilemma zu versichern, indem er sich der ausgesprochenen Unannehmlichkeit unterwarf, ein Thema, das ihn fieberhaft erregte, mit ihr zu verhandeln, und sie annehmen zu lassen, daß er der Hilfe ihrer Weisheit bedürfe. Das war die ihm auferlegte Demütigung. Etwas Weiteres hatte er nicht zu fürchten, denn keine Frau würde der Übermacht eines männlichen Hirns widerstehen, wenn es sich darum handelte, eine Schlußfolgerung zu ziehen. Die Demütigung war schlimm genug und führte ihn halbwegs in die Versuchung, zu denken, daß sein alter Traum, angestrengt als Beamter zu arbeiten, während die schöne und sanfte Dahlia für seine Behaglichkeit sorgte, der beste sei. War es nicht, nachdem ein besonderer Schritt einmal getan war, das männlichste Leben, was er sich hätte aufbauen können? Oder redete er sich diesen Augenblick nur ein, weil er ein Feigling war; und weil ihn Stolz, Eitelkeit und Wildheit an Stelle eines edlen Herzens dazu hinaufschrauben mußten, für die Folgen seiner Handlungen einzustehen?

War er ein Feigling, so war Dahlia seine Heimat, seine Zuflucht, sein Heiligtum. Mrs. Lovell war Untergang und versengendes Feuer für einen Mann, an dem der Makel der Feigheit haftete.

Was er auch sein mochte, Edwards Eitelkeit erlaubte ihm nicht, es sich selbst einzugestehen. Dennoch appellierte er nicht an sein Herz, daß es ihn mit anfeuernden Weisen ansporne. Seine Gedanken suchten nach einer Ausflucht. Sein Wunsch, war der, Mrs. Lovells gute Meinung zu bewahren, während er andrerseits Robert beruhigte, und er ging gradeswegs auf den gefahrvollen Pfad los, zu versuchen, die Instinkte einer Frau zu verwirren und zu täuschen, um sie zu gewinnen.


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