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Kapitel VIII. Der Leser lernt Mrs. Lovell kennen

Das ist Wrexby-Hall, dort auf dem Hügel zwischen Fenhurst und Wrexby: jenes weiße, viereckige Gebäude, dessen untere Fenster wie ein einziger großer Glasbogen im Sonnenlicht funkeln, und das rings von großen, vereinzelt stehenden Bäumen umgeben ist, die bis fernhin die grünen Rasenflächen unterbrechen. Aus dem Fallen ihrer Schatten könnte man von Queen Annes Farm aus die Stunden bestimmen. Squire Blancove, der dort wohnte, war ein reizbarer, gichtischer Mann, der mit seiner Zeit nicht mehr im Einklang stand und sogar anfing, – der Unglückliche! – allen rechten Glauben an seinen Portwein zu verlieren, obschon er – der Wahrheit die Ehre! wacker gegen diese arge Ketzerei ankämpfte. Seine Freunde bemerkten diesen Zusammenbruch seines Glaubens früher als er selbst. Er war ebenso mißmutig am Abend wie am Morgen. Es kam kein rechtes Leben mehr in ihn, wenn die Flasche kreiste. Es gab jetzt überhaupt keine Stunde mehr, wo man darauf rechnen konnte, ihn in menschlicher Laune zu finden. Es ist auch ein trauriger Tag, wenn wir das Skelett der Geliebten erblicken, die uns nur Qualen verursacht, und von der wir dennoch nicht loskönnen. Der Squire trank in der bestimmten Überzeugung, daß dem Genuß das greuliche, verfluchte Zwicken in seinem Fuß unausbleiblich folgen werde, aber er war, wie er zu sagen pflegte, ein Mann, der an seinen Gewohnheiten festhielt. Über seinem Portwein geschah es auch, daß es zwischen ihm und seinem Pfarrer in bezug auf seinen hoffnungsvollen Algernon und das mit ihm eingeschlagene System zu Meinungsverschiedenheiten gekommen war. Dieses Ereignis hat etwas mit Rhodas Geschichte zu tun, denn es war die Ursache, weswegen Mrs. Lovell in Wrexby zur Kirche ging. Diese Dame wurde nämlich vom Geist getrieben, ihren eigenen Impulsen zu folgen, die meistens diejenigen der Opposition waren. So beliebte es ihr, als sie gelegentlich in der Hall zum Besuch war, den Squire und seine sich seinen Wünschen unterordnenden Gäste nicht nach Fenhurst zu begleiten, vielmehr bestand sie darauf, in den leerstehenden Kirchenstuhl Wrexbys zu gehen. Sie war eine Schönheit, und als solche besaß sie Macht, andernfalls hätte diese Handlung von Nonkonformität böses Blut zwischen ihr und dem Squire setzen können.

Die Sache reichte ohnehin fast dazu aus, denn, anstatt nun behaglich zu Hause zu sitzen und, während er sein krankes Bein pflegte, das neuste Sportjournal zu lesen, mußte sich der unglückselige Herr jetzt jeden Sonntag Morgen nach Fenhurst aufmachen, denn wer hätte es ihm sonst geglaubt, daß sein im großen Ganzen äußerst seltener Kirchenbesuch in der hassenswerten Lehre des Pfarrers von Wrexby seinen Grund habe?

Mrs. Lovell war augenblicklich auf dem Gute zum Besuch, und es war Sonntagmorgen nach dem Frühstück. Die Dame stand kampflustig unter den anderen Gästen und horchte, bereits in Hut und Handschuhen, auf die Glockenklänge, welche von Westen her von Wrexby und von Nordosten her von Fenhurst über den Hügel herüber klangen. Jetzt trat der Gutsherr zu seinen Gästen herein, er stöhnte über seine Stiefel, war ärgerlich auf seine sehr zarte Frau und gerade in der Laune jeder Art von Satire zugänglich zu sein, soweit sie nicht auf seine eigenen Kosten ging.

»Wie schwer muß es sein, zugleich gichtisch und gut zu sein,« flüsterte Mrs. Lovell der ihr zunächst stehenden Persönlichkeit zu.

»Nun,« sagte der Squire, indem er seinen Feind speziell aufs Korn nahm, »Sie gehen wohl, wie gewöhnlich, zu dem Kerl dort drüben, was?«

»Nicht, wie gewöhnlich,« erwiderte Mrs. Lovell äußerst sanft, »ich wollte, daß ich das sagen könnte!«

»So, wollten Sie das? Finden Sie ihn denn so interessant? Hat er sich etwa darauf verlegt, über Moden zu sprechen?«

»Er spricht, wie sich's gehört, mehr verlange ich nicht.« Mrs. Lovell setzte eine Stimme verfolgter Unschuld auf.

»Ich dachte, Sie gehörten zur Low-Church?«

»Sie meinen wohl, daß ich auf den Gottesdienst überhaupt wenig Wert lege,« verbesserte sie ihn. »Aber, was meinen Geschmack betrifft, so ist mir jede Predigt recht, die einfach gehalten wird.«

»Seine Beredsamkeit ist vorzüglich,« sagte der Squire, »das heißt, vor Tische.«

»Ja, sehen Sie, ich habe ja nur vor Tisch mit ihm zu tun.«

»Nun gut, ich habe einen Wagen für Sie bestellt.«

»Das ist mir eine große Ehre und äußerst freundlich von Ihnen.«

»Es wäre freundlicher, wenn ich es zustande brächte, Sie von dem Kerl fern zu halten.«

»Würden Sie nicht sich selbst die größte Freundlichkeit erweisen,« Mrs. Lovell segelte in all ihrer Liebenswürdigkeit auf ihn los, ergriff seine Hände und heftete ihre schönen blauen Augen mit zärtlichster Überredung auf ihn, »wenn Sie Ihre Zeitung und Ihre Hausschuhe nähmen und unsere Rückkehr erwarteten?«

Der Squire fühlte, wie ein Lächeln rings durch das Zimmer ging. Mit einen Stirnrunzeln wies er die Kühnheit der Dame in ihre Schranken zurück. »'s ist meine Pflicht, ein gutes Beispiel zu geben,« sagte er, denn jetzt regte sich zugleich sein gichtischer Fuß und seine gallige Laune.

»O wenn es sich für Sie darum handelt, ein Beispiel zu geben,« erwiderte die feinsinnige Witwe, »dann hab' ich nichts mehr zu sagen.«

Des Gutsherrn Blicke drückten aus, was er nicht in Worte zu kleiden wagte. Eine Frau hat die halbe Welt, eine Schönheit die ganze auf ihrer Seite, wenn sie Selbstbeherrschung besitzt und ihren Platz behauptet, und augenscheinlich war Mrs. Lovell keine Persönlichkeit, die ihre Vorteile außer acht gelassen hätte. Der Squire drehte sich nach einem Opfer um, an dem er seinen Zorn auslassen könne und versuchte es zunächst mit seiner Frau. Dann blieben seine Blicke an Algernon haften.

»Na, so weit wären wir also. Wer von uns darf Sie begleiten?« wandte er sich in blinder Ironie an Mrs. Lovell.

»Ich habe meinen Ritter bereits ernannt, er wartet auf mich und wird so fromm sein, wie irgendmöglich.« Mrs. Lovell lächelte Algernon zu.

»Dacht' ich's doch!« murrte der Gutsherr. »Also du gehst nach Wrexby, mein Verehrtester. Immerzu, meinetwegen, und ich werde mich über nichts wundern, was daraus entsteht. Wie der Lehrer, so der Schüler!«

»Sehen Sie wohl!« Mrs. Lovell lächelte Algernon noch einmal zu. »Sie haben die Sünden Ihres Pfarrers noch neben Ihren eigenen zu tragen. Können Sie das auf sich nehmen?«

Das feine, kokette Geplänkel ging über Algernons Gewohnheiten im Verkehr mit Damen ein wenig hinaus. Er murmelte mit einer Verbeugung, daß er sein Bestes tun werde, es zu ertragen, wenn er auf Mrs. Lovells Beistand zählen dürfe, und das war immerhin etwas; daraufhin beruhigte sich die kleine Spannung der Gemüter, und die Unterhaltung der Versammelten ebbte in das gewöhnliche Fahrwasser zurück. Die Wagen fuhren vor, man griff zu Handschuhen, Sonnenschirmen und Parfümfläschchen, worauf der Squire, der barhaupt auf der Freitreppe verharrte, darauf bestand, die Oppositions-Partei zunächst abfahren zu sehen; er ließ es sich sogar nicht nehmen, Mrs. Lovell selbst in den Wagen zu helfen, eine ironische Galanterie, welche die Dame mit einem der weihevollen Stunde entsprechenden feierlichen Ernst entgegennahm.

»Ah, mein Bleistift, um den Text für Sie zu notieren, Herr Baron,« sagte sie, während sie ihren Sitz einnahm, und Algernon ging auf ihren Wink hinein, um einen Bleistift zu holen; sie lehnte sich währenddes in den Polstern zurück, ein äußerst harmonischer Anblick in der lieblichen Landschaft, als werde auch sie, gleich der wonnigen Sommerluft, durch jene heiligen Glocken zur Ruhe gesungen, während der Gutsherr, innerlich schäumend, barhaupt, mit kochendem Blut, gerade an der äußersten Grenze des Dekorums auf den Stufen stand. Sie war ihm mehr als gewachsen.

Sie war den meisten mehr als gewachsen, und das war kein Geheimnis. Algernon wußte das ebensowohl wie Edward oder wie irgend jemand sonst. Sie flößte seinem jugendlichen Gemüt sowohl Grauen, wie Entzücken ein. Ihr Lächeln war ihm die süßeste Genugtuung, die er kannte, vielleicht eine um so süßere, weil er fühlte, daß es unmöglich von Dauer sein könne. Er hatte allerhand Geschichten über sie gehört, er erinnerte sich wohl an Edwards Warnung, aber einstweilen saß er äußerst bescheiden und äußerst glücklich neben ihr.

»Da bin ich 'reingefallen,« sagte er zu seiner anmutigen Gefährtin, »nächstes Quartal wird's keinen Scheck für mich geben und keine Aussicht auf Zuschußerhöhung. Er wird mir einfach sagen, ich hätte ja mein Gehalt. Mein Gehalt! Großer Gott, wozu der Mensch nicht kommen kann! Ich hab's für ein Jahr wenigstens mit dem Squire verdorben.«

»Ja, dann gilt's eben zu überlegen, ob die Entschädigung den Verlust aufwiegt,« sagte sie, und er nahm solche einstweilen in Gestalt eines verwandtschaftlichen Händedrucks entgegen.

Er wollte die schmale, weiße Hand an seine Lippen ziehen.

»Ah,« sagte sie, »für mich gäb's keine Entschädigung, wenn man das sähe,« und ihre zierliche Hand entwand sich ihm leicht. »Und nun erzählen Sie mir,« fuhr sie in anderem Tone fort, »wie steht's mit Ihrer Liebe?«

Algernon bat, sie sollte doch das nicht »Liebe« nennen. Sie nickte ihm zu und lächelte.

»Also mit Ihrer künstlerischen Bewunderung,« bemerkte sie. »Ich werd' sie ja in der Kirche sehen, nicht wahr? Nur, mein lieber Algy, gehen Sie nicht zu weit. Ländliche Schönheiten sind ebenso gefährlich wie königliche Prinzessinnen. Wo haben Sie sie zuerst gesehen?«

»Auf der Bank,« sagte Algernon.

»Wirklich! auf der Bank; dann ist doch Ihre Zeit keine absolut weggeworfene. Wie kam sie denn nach London, möchte ich wissen?«

»Ach, sie hat einen alten Onkel da, einen gelungenen alten Kerl, so eine Art Bote, Kassenbote, bei der Bank, fürchterlich ehrlich, sonst könnte er sie ganz gut mal eines schönen Tages halbwegs sprengen, wenn's ihm mal einfiele, sich auf und davon zu machen. Sie hat noch 'ne Schwester, die anderen sagen, die war' noch hübscher, ich hab' sie nie gesehen. Aber ich glaub' beinah', ich hab 'n Bild von ihr gesehen.«

»So?« Mrs. Lovell lockte ihn mit ihrer Liebenswürdigkeit immer weiter. »War die auch dunkel?«

»Nein, die ist blond. Wenigstens auf dem Bild.«

»Braunes Haar? Nußbraune Augen?«

»O o, – Sie haben so Ihre Vermutungen, was?«

»Ich vermute gar nichts, obschon sich's lohnen könnte. Dieser Yankee-Wettenmacher hat immer irgendwelche Vermutungen, und was verdient er für Haufen Geldes damit.«

»Ich wollte, das tät ich,« seufzte Algernon. »Aber mein Wetten und Vermuten befindet sich immer auf dem Holzwege. Na, wenigstens hab' ich für nächstes Frühjahr eine Art Sicherheit. Das ist ein Trost. Nächstes Frühjahr verdien' ich zwanzig Tausend.«

»Auf Templemore?«

»Ja, das Pferd ist es. Und auf Tenpenny Nail habe ich auch etwas gesetzt. Aber was Templemore betrifft, da gehe ich ganz sicher, es sei denn, daß das ›Böse Prinzip‹ mitstartet.«

»Meinen Sie, daß das, wenn es mitrennt, sicher Ihr Unglück wäre?« fragte Mrs. Lovell.

»Natürlich,« stieß Algernon in ehrlicher Entrüstung hervor.

»Schön, Algy, ich hab' es auch nicht gern auf meiner Seite. Vielleicht beteilige ich mich ein wenig an Ihrem Glück, – um es – um es –« In der Art, wie sie ihn behandelte, hatte sie etwas von einer Herrin, die in neckischem Spiel ihr Schoßhündchen nach einem guten Bissen springen läßt. »O Algy,« fügte sie hinzu, »in Ihnen steckt kein Franzose! Um es – göttlich zu machen, mein Herr! Da haben Sie Ihr Glück verpaßt.«

»Von einem Glück weiß ich, daß ich nicht gern verpassen würde,« sagte der Jüngling.

»Dann nennen Sie es nicht bei Namen,« riet sie ihm. »Und, allen Ernstes, ich will mich an Ihrem Risiko beteiligen. Ich fürchte, ich habe Glück, und das ist mein Verderben. Wir können das gelegentlich miteinander ausmachen. Wissen Sie, Algy, daß die allerkostspieligste Lebenslage, die es in der Welt gibt, die einer Witwe ist?«

»Die brauchen Sie gar nicht lange zu sein,« brummte er.

»Ja, sehen Sie, ich bin so schauderhaft wählerisch. Übrigens läßt man das Seufzen am besten sein, wenn von Geschäften die Rede ist, sofern ich Ihnen einen Rat in der Hinsicht geben darf. So und dieser alte Mann brachte also diese ländliche Schönheit, dieses Fräulein Rhoda, auf die Bank?«

»Einmal,« sagte Algernon. »Grad' so, wie er es mit ihrer Schwester gemacht hatte. Er ist stolz auf seine Nichten, zeigt sie, und dann versteckt er sie. Die Leute an der Bank haben sie nie wiedergesehen.«

»Wie heißt sie doch?«

»Dahlia.«

»Ja, richtig, Dahlia. Hübscher Name! Es gibt goldbraune Dahlien, – Dahlien in allen Farben. Und das Bild dieses schönen, jungen Geschöpfes hängt also in Ihrer Wohnung in der Stadt?«

»Sprechen Sie doch nicht von meiner Wohnung,« verwahrte sich Algernon.

»Nun, meinetwegen also in Ihres Vetters Wohnung. Wahrscheinlich war Edward zufällig in der Bank, als die schöne Dahlia dort ihren Besuch machte. Es scheint, daß Sie beide an einem Mal genug hatten.«

Algernon hatte keine Erfahrung darin, in Frauenherzen zu lesen. Er glaubte, Edwards Verrat an der Gefolgschaft von Mrs. Lovell hätte ihn und sein Geschick jeglichen Interesses und jeglicher Sympathie von ihrer Seite beraubt.

»Ich glaube, der arme alte Ned sitzt ein bißchen in der Klemme,« sagte er.

»Wo ist er,« fragte die Dame so obenhin.

»Paris.«

»Paris? Wie komisch! Jetzt ganz außerhalb der Saison. Bei dieser Hitze? Man könnte wirklich auf den Gedanken kommen, er sei durchgegangen, – man versteht nur nicht, aus welchem Grunde.«

»Auf Ehre!« Algernon schlug sich aufs Knie. »Bei Jingo!« fügte er als eine etwas weniger kompromittierende Bekräftigung hinzu. »Ned 's verrückt genug dazu! Ich glaub', er ist auf und davon und hat sich verheiratet.«

Mrs. Lovell lehnte mit der nachlässigen Grazie ihrer unbestrittenen Schönheit in den Polstern. Keine einzige Linie durchfurchte ihre zarten, weichen Züge. Wie unter einem scharfen Hieb zuckte sie mit einmal zusammen und saß steil aufrecht. Ihr Gesicht war plötzlich scharf und verzerrt, wie das Antlitz einer bildschönen Hexe.

»Verheiratet? Aber wie sollt' denn das möglich sein, wenn doch niemand von uns ein Wort davon gehört hat?«

»Das glaub' ich wohl, daß Sie nichts davon gehört haben,« sagte Algernon, »das war ja auch nicht gerade anzunehmen. Mich hat er auch nicht ins Vertrauen gezogen, die Versicherung kann ich Ihnen geben. Dazu halt' ich ihm zu wenig dicht. Es gibt nichts Lästigeres, als ein Geheimnis! Ich bin nur dadurch zu dieser Vermutung gelangt, daß ich aus einer ganzen Menge kleiner Begebenheiten meine Schlüsse gezogen und daraus ein Additionsexempel gemacht hab'. Erstlich glaub' ich, war er in der Bank, als das schöne Mädchen da erschien. Zweitens entnehme ich aus der Beschreibung, die mir die Kerls da auf der Bank von ihr gemacht haben, daß sie das Original jenes Pastells ist. Außerdem weiß ich, daß Rhoda eine schöne Schwester hat, die durchgegangen ist. Und endlich hat Rhoda einen Brief von ihrer Schwester gehabt, in dem steht, daß sie aufs Festland gereist ist und sich verheiratet hat. Ned ist in Paris. Das sind meine Tatsachen, nun können Sie sich selbst die Rechnung dazu machen.«

Während eines langen, nachdenklichen Augenblicks starrte Mrs. Lovell Algernon an.

»Unmöglich,« rief sie aus. »Edwards Herz geht nicht mit seinem Verstand durch.« Und nun war ihr Antlitz scharlachrot. »Wie kam denn diese Rhoda, mit ihrem verrückten Namen dazu, mit Ihnen zusammen zu treffen, um Ihnen solchen Blödsinn zu erzählen? Wahrhaftig, einige von diesen jungen Frauenzimmern sind von einer Einfalt –« den Rest sagte sie nur zu sich selbst.

»Sie ist wirklich ein unschuldiges, gutes Geschöpf,« verteidigte Algernon Rhoda. »Ganz gewiß! Die setzt sich keine Dummheiten in den Kopf. Ich hab' sie, wie gesagt, zum erstenmal in der Bank getroffen, gerad' auf der Treppe, und da fiel uns ein, daß ich vor ein paar Tagen eine Droschke für sie herbeigerufen hatte; und gestern habe ich sie zufällig noch mal getroffen.«

»Sie sind das reine Kind, Algy, diesen Frauenzimmern gegenüber!« sagte Mrs. Lovell.

Algernon nickte in dem Bewußtsein seiner eigenen Überlegenheit. »Darüber scheint mir kein Zweifel, daß ihre Schwester ihr geschrieben hat, sie hätte sich verheiratet. Das hat sie jedenfalls getan. Sie hat was fabelhaft Gerades; die lügt nicht, nicht mal um einer Schwester oder um eines Liebhabers willen, wenn sie sich's nicht extra vorher vorgenommen hat. In dem Falle würde sie es freilich tun ohne zu stocken.«

»Aber wissen Sie denn,« sagte Mrs. Lovell – »wissen Sie denn, daß Edwards Vater über eine derartige Torheit noch ganz anders außer sich geraten würde, als Ihrer? Er würde sagen, es schlüge aller gesunden Vernunft ins Gesicht und würde keine Spur von Erbarmen kennen. Er würde aus Prinzip rachsüchtig sein. Es ist ganz ausgeschlossen, daß diese Geschichte wahr ist. Da ist aber auch nichts, was sie entschuldigen würde.«

»O ja, Herr Billy wird schon toben, daß ist außer Frage,« gab Algernon zu. »'s ist ja möglich, daß es nicht wahr ist. Ich hoff's ja selbst. Aber eine Schwäche für schöne Blondinen hat Ned nun 'mal. Alles täte er für die. Da verliert er gänzlich den Kopf.«

»Es ist ja möglich, daß er sich hat hinreißen lassen,« – Mrs. Lovell deutete errötend die geringere Sünde an, daß er das Mädchen betrogen und verführt haben könne.

»Ach, es braucht ja nicht wahr zu sein,« sagte Algernon; und mit einer besonderen Betonung fügte er hinzu: »Schließlich, wenn es so ist, – wen trifft die Schuld?«

Mrs. Lovell errötete aufs neue. Sie berührte leicht Algernons Hand.

»Auf jeden Fall müssen seine Freunde zu ihm stehen.«

»Bei Gott! Sie haben das Herz auf dem rechten Fleck,« rief Algernon aus.

Es ging über seine Fassungskraft zu erraten, daß es möglicherweise etwas für ihn Verhängnisvolles bedeuten könne, wenn sie Edward nicht im Stich lassen wollte. Die Berührung von Mrs. Lovells Hand hatte ihn in einem Augenblick Rhoda vergessen lassen. Er hielt sie kühn fest, so lange bis sie ärgerlich die Stirn krauste und mit dem Fuße auftrat.

Sie trug eine große Kameen-Brosche am Halse, auf welcher ein Grab unter einem Palmenbaume und die Gestalt einer verschleierten Frau dargestellt war, welche sich über das Grab beugte. Die Brosche löste sich und wäre gefallen, wenn Algernon sie nicht aufgefangen hätte. Die Nadel verletzte seinen Finger, und in dem plötzlichen, scharfen Schmerz schleuderte er die Brosche vor ihre Füße, mit einem gleichzeitigen Ausruf des heftigsten Ärgers über seine eigene Ungeschicklichkeit und einer Bitte um Verzeihung. Er hob die Brosche auf. Sie war offen. Ein wunderliches, mißfarbiges, zusammengefaltetes Etwas lag auf dem Boden des Wagens. Mrs. Lovell starrte darauf hinab, dann auf ihn, sie war geisterhaft bleich. Er hob es an einer Ecke empor, und die winzigen, zusammengefalteten Flächen fielen auseinander und offenbarten den Streifen eines blutgetränkten Taschentuches.

Mrs. Lovell griff danach und schleuderte es außer Sehweite.

Als sie sich der Kirchentür näherten, sagte sie: »Erwähnen Sie dies niemals gegen irgendeine menschliche Seele, oder Sie haben meine Freundschaft für alle Zeiten verscherzt.«

Als sie ausstiegen, lächelte sie in gewohnter Liebenswürdigkeit.


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