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Kapitel XVI. In Fairly Park

Fairly, Lord Ellings Gut in Hampshire, lag jenseits des Warbeach-Flusses, ein weißes Herrenhaus zwischen großen Eichen, mit dem Blick auf die Sommersegel und die Wintermasten des Jacht-Klubs. Die Honneurs des Hauses machte während der Anwesenheit der Weihnachtsgäste die reizende Mrs. Lovell, welche der leidenden Dame des Hauses die mancherlei schwierigen Obliegenheiten abnahm, die mit der Aufnahme von Gästen verknüpft sind, und dies mit großer Anmut tat. Unter ihrem Szepter war das Haus äußerst anziehend, und wenn es den Ruf besaß, eine ganz besondere Anziehungskraft auf junge Männer auszuüben, so muß man zugeben, daß sie diejenigen zufriedenstellte, die am kräftigsten ihrer Anerkennung Ausdruck zu verleihen pflegen.

Edward und Algernon reisten gemeinsam nach Fairly hinunter, nach dem Vertrauensvotum, welches der vorsichtige junge Advokat seinem Vetter unvermeidlicherweise hatte geben müssen. Sir William Blancove sollte in Fairly sein, und es war auf den bestimmt geäußerten Wunsch seines Vaters hin, daß Edward Mrs. Lovells Einladung Folge geleistet hatte. Halb im Zweifel darüber, wie die Dame gegen ihn gesonnen sein möge, schaffte Edward seinem Herzen Luft durch allerhand ironische Bemerkungen über die sanfte, insgeheim blutdürstige Liebenswürdigkeit, die ihrer wartete, und vergewaltigte die gesamte Mythologie, um möglichst gehässige Vergleiche aufzutreiben, während Algernon sie mit einem Schnellfeuer von britischen Adjektiven im Superlativ aufs glühendste verteidigte. Es prickelte ihn, eine Andeutung dahin fallen zu lassen, daß er berechtigt sei, sie zu verteidigen, und da Edward schließlich mit einem Gähnen seine Berechtigung anerkannte, und er der Ansicht war, daß er Edward jetzt völlig in seiner Gewalt habe und ihn nicht zu fürchten brauche, gestand er ihm seine Schwäche in Gestalt eines kostbaren Schmuckstückes ein, das er Mrs. Lovell zu schenken beabsichtigte – ein in ein Kreuz gefaßter Opal, der an einer Halskette hing, ein wirklich schöner Opal, der in den Farben aller bekannten Edelsteine spielte: er schoß rote, grüne, gelbe Blitze; Smaragd, Amethyst, Topas schienen in ihm zu leben, ja, auch ein verborgener Rubin, er war mit hellblitzenden Farben geädert und zeitweise schlummerte er, jeden Feuers bar, in mädchenhafter Ruhe, in einer milchigen Wolke.

»Der wird für sie passen,« bemerkte Edward.

»Irgend etwas Gewöhnliches wollte ich nicht haben,« sagte Algernon, indem er den Edelstein vor seinen Augen spielen ließ.

»Ein hübscher Stein,« sagte Edward.

»Findest du?«

»Wirklich sehr hübsch.«

»Harlekin-Muster.«

»Und Columbine dargebracht.«

»Das Harlekin-Muster ist das beste, was man hat, weißt du. Vielleicht magst du die wasserfarbenen lieber? Dieser kommt frisch von Rußland. Es ist ein ganzer Schmuck, auf den ich ein Auge geworfen habe. Mit der Zeit will ich dies vervollständigen. Ich möchte, daß Peggy Lovell die schönsten Opale der Welt trüge. Er ist ganz hübsch, was?«

»Es ist ein wunderschöner Opal,« sagte Edward.

»Sie liebt Opale,« sagte Algernon,

»Sie wird deine Auffassung sofort durchschauen,« sagte Edward.

»Was für eine? Du kannst mich totschlagen, Ned, und ich weiß nicht, was meine Auffassung ist.«

»Kennst du nicht die Bedeutung deines Geschenks?«

»Nein! Wahrhaftig nicht!«

»O, du wirst der reinste Orientale sein, wenn du es ihr überreichst.«

»Den Teufel auch!«

»Es bedeutet: ›Du bist die schönste Witwe der Welt‹.«

»Das ist sie auch. Dann hab' ich also ganz recht damit.«

»Und: ›du bist 'ne richtige, echte Witwe, das ist zweifellos, du bist allen alles, nicht halb so unschuldig, wie du aussiehst; du bist grün, wie die Eifersucht, rot, wie der Mord, gelb, wie der Neid, und legst die Weiße einer Jungfrau an, wenn du wie eine Büßerin erröten solltest‹. Oder kurz gesagt: ›Du hast kein eigenes Herz, und du gibst vor, ein halbes Dutzend zu besitzen; du hast keinen einzigen ruhigen Strahl und treibst deine Possen mit der ganzen Farbenskala; du bist 'ne durchtriebene Witwe, – das ist's, was du bist!‹ Eine sehr beredte Gabe, Algy.«

»Donnerwetter, wenn's das alles bedeutet, wird es sie ja recht für mich einnehmen,« sagte Algernon; »bedeutet ein Opal eine Witwe?«

»Natürlich,« war die Antwort.

»Na, 'ne Witwe ist sie ja, und ich glaube, sie will auch eine bleiben, denn Anträge hat sie genug gehabt. Wenn ich ein Mädel heirate, werd' ich sie nicht halb so gern haben, wie Peggy Lovell. Sie geht mir über jedes Weib der Welt. Man kommt sich niemals so töricht vor bei ihr, weiß der Kuckuck, sie hat so 'ne Art, mich anzukucken und mich durchfühlen zu lassen, daß sie meine Gedanken ganz gut durchschaut und nicht böse ist. Was hat's für 'n Zweck für mich, weiter an sie zu denken. Sie würde nie in die Kolonien gehen und in einem Blockhaus leben und Käse bereiten, während ich zu Pferde unterwegs wäre und das Vieh zusammentriebe.«

»Das glaube ich allerdings auch nicht,« bemerkte Edward mit Nachdruck, »das glaube ich allerdings auch nicht.«

»Und ich werde nie Geld haben. Der Teufel hol' alle geizigen Eltern! Es ist noch sehr die Frage, ob ich Wrexby einmal bekomme, es ist kein Majorat. Wahrscheinlich werd' ich nur des Alten Gicht und seine schlechte Laune erben. – Mit dem Gut wird er machen, was er Lust hat. Ich find's 'ne verteufelte Ungerechtigkeit!«

Edward fragte, wieviel der Opal gekostet habe.

»O, nichts,« sagte Algernon, »das heißt, Schmucksachen bezahl' ich nie.«

Edward war neugierig zu erfahren, wie er es dann anfinge, sie zu bekommen.

»Ja, siehst du,« setzte Algernon auseinander. »Sie – die Juwelenhändler – ich hab' ihrer zwei oder drei an der Hand – die Kerls kennen meine Lage, und sie spekulieren auf das, was ich zu erwarten habe. Da ist ja weiter nichts dabei, wenn ihnen das Spaß macht. Ich sehe ihre Schmucksachen an und sage: ›Ich hab' kein Geld‹, und sie sagen:. ›Ach, das schad't nichts!‹ und dann schad't's mir ja auch nichts. Der Vorbehalt ist eben der, daß ich sie bezahle, wenn ich meine Erbschaft mal angetreten hab'.«

»Deine Erbschaft von Gicht und schlechter Laune?«

»Himmel, wenn ich weiter nichts erbe, dann können sie sich ja mit Leichtigkeit schadlos halten. Es ist ein ganz gutes System, Ned, es schafft einem jungen Kerl wie mir die Möglichkeit, durch die besten Jahre seines Lebens – für die ich immerhin die Jugend halte – hindurchzukommen, ohne daß er fortwährend über seine schmutzige Armut stolpert. Man kann auf die Weise Geschenke machen, kann eine Nadel oder einen Ring tragen, wenn einem mal einer ins Auge sticht. Man sieht gut aus, und man macht sich liebenswürdig, und in alledem seh' ich kein Unglück.«

»Dann haben die Juweliere so eine Art Einrichtung getroffen, die Mißgriffe der Vorsehung zu korrigieren.«

»Ja, meinetwegen kannst du es ja in deiner wohlgesetzten Rede so ausdrücken,« sagte Algernon, »alles, was ich weiß, ist, daß es mir oft an einer Fünf-Pfund-Note gefehlt haben würde, wenn – das heißt, wenn ich nicht zufällig immer wie 'n Gentleman gekleidet wäre. Wenn ich deine Aussichten hätte, Ned, da würde ich morgigen Tages um die reizende Peggy anhalten. Wir sollten sie nicht aus der Familie gehen lassen! Wenn ich sie nicht haben kann, möcht' ich noch am liebsten, du kriegtest sie!«

»Du vergißt die Verpflichtungen auf der einen Seite,« sagte Edward, indem sich sein Gesicht verdüsterte.

»Ach, das wird schon alles in Ordnung kommen,« tröstete ihn Algernon. »Siehst du, Ned, wenn du erstmal überhaupt etwas kriegst, dann wirst du gleich Zwanzigtausend das Jahr haben, und dann kommst du ins Parlament und mußt Diners geben, und dann würde 'ne Frau, wie Peggy Lovell, für dich zu intrigieren verstehen, wie der Teufel selbst!«

»Vielleicht allzu ähnlich,« murmelte Edward.

»Was das hübsche Mädel anbetrifft,« fuhr Algernon fort, – aber Edward schnitt ihm gebieterisch jede Dahlia betreffende Äußerung ab. Sein Wunsch war der, solange er Ferien machte, die Vergangenheit mit eherner Tür zu verschließen; als er dies seinem Vetter vertraulich sagte, stimmte ihm dieser mit lärmenden Ausrufen, wie sorglos fidel sie in Fairly Park leben wollten, zu! Sie wollten jagen, rief er, und allen Juden ein Schnippchen schlagen, alles menschliche Elend vergessen und zwei, drei, vielleicht vier Wochen lang das allerherrlichste Leben führen mit guten Pferden, guten Diners, guten Weinen, guter Gesellschaft zur beständigen Verfügung und mit einer Königin von einem Weibe, die alles regiere und anordne. Edward lächelte etwas ironisch zu dieser Aussicht, aber im Grunde war er in seinem Durst danach der Schwächere von den beiden.

Sie kamen in Fairly gerade zeitig genug an, sich zu Tisch anzuziehen und fanden im Wohnzimmer Mrs. Lovell zu ihrer Begrüßung. Sie blickte eine unauffällige halbe Sekunde länger in Edwards Gesicht, als die hergebrachte Begrüßungsformalität dies gestattet, – ein Blick, wie er absolut nichts zwischen jungen Leuten bedeutet, zwischen welchen keinerlei innere Fühlung besteht, und so viel, wo solche vorhanden ist. Algernon, der Opal-Blitze auf sie schoß, reichte sie nur die Fingerspitzen. Zu ihrer Rechten saß Sir John Capes, ihr ehrwürdiger Verehrer, ein sehr soignierter, milchweißer alter Herr, mit blitzenden Fingern, der für seine Daphne den Apoll spielte und gänzlich außer Atem war. Lord Suckling, ein Junge von etwas lärmender Gemütsart, ein Gardeoffizier, hatte seinen Platz so nahe ihrer linken Hand, als warte er nur auf die leiseste Ermutigung oder Gelegenheit, um sie zu ergreifen. Edward mußte eine sehr kleine Dame von siebzehn Jahren, Miss Adeline Gosling, die unter der Fülle äußerster Ehrbarkeit vor Schüchternheit bebte, zu Tisch führen, die er schmählich vernachlässigte. Sein Vater, Baron William, war ebenfalls bei Tisch anwesend, ebenso Lord Elling, mit welchem er den Ruf eines unterhaltenden und geistreichen Gesellschafters teilte. Angeregt durch den Ruf von seines Wirtes vorzüglichem Wein (und der bloße Ruf eines Weines wirkt anregend), tat Edward sein Äußerstes, durch seinen Witz zu glänzen. Er hatte eine Ader fürs Epigrammatische, und obschon seine Geistesrichtung eher prosaisch war, wenn er sich allein befand, so konnte er doch erfinderisch und phantasiereich erscheinen, wenn er sich an anderen Geistern rieb. Nun wird aber an einer Tafel, wo auf gute Unterhaltung Wert gelegt wird, niemand auch nur einen Augenblick lang die Triumphe einer hervorragenden Zunge verachten, nicht einmal der gewaltige Appetit des Ungeheuers Eitelkeit. Ein Jahr lang hatte Edward einen derartigen Hochgenuß verschworen gehabt. Ehe das Geflügel noch erschienen war, und der Champagner zu kreisen aufgehört hatte, fühlte er, daß er nun wieder zu Hause sei, und daß der Zeitraum, während welches er sich von der Gesellschaft zurückgezogen hatte, eine Zeit der Narrheit bedeute. Er empfand die Freudigkeit und Kraft eines zu seinem Elemente zurückgekehrten Geschöpfes. Warum hatte er dasselbe je verlassen? Schon blickte er auf Dahlia wie aus einer ungeheuren Entfernung zurück. Er wußte, daß da noch etwas auszugleichen war, daß etwas ins Schicksalsbuch eingetragen war, was noch wieder ausgelöscht werden mußte, und es schien ihm, als tue er dies, während er den perlenden Wein trank, und sich selber reden hörte. Kein einziger Mann am Tische, überlegte er, würde die Verpflichtungen, welche ihn hielten, für irgendwie ernstlich bindend ansehen. Eine Dame ist eine Sache für sich, und ein Mädchen aus den Kreisen, denen Dahlia entstammte, ist eine ganz andere. Er konnte es nicht lassen, sich auszumalen, welche Rolle sie hier spielen würde, der bloße Gedanke daran, legte sich wie eine Fessel auf seine Zunge. Wie pflegte er diese Leute zu verachten! Zumal die jungen Männer hatte er als hirnlose Feiglinge verachtet, wenn er ihre Ansichten über die Frauen und ihr Verhalten gegen dieselben in Betracht zog. Alles das war jetzt anders. Es schien ihm jetzt, im Gegenteil, als müßten sie ihn verachten, wenn sie ahnten, wie ihm eine letzte zögernde Mahnung immer noch zuraunte, daß ihn eine heilige Verpflichtung einer Bauerntochter gegenüber binde.

Eins mußte er übrigens noch ergründen, das nämlich, warum Sir William es sich ganz besonders ausgebeten hatte, daß er komme und ihn hier treffe. Konnte es etwa sein Wunsch sein, ihn mit Mrs. Lovell auszusöhnen? Sein gesunder Menschenverstand verneinte diesen Gedanken sofort. Sir William rühmte ihre geistreiche Art und ihren Takt und bewunderte ihre Schönheit, aber Edward erinnerte sich, daß er seiner Schätzung ihres Charakters stillschweigend beigepflichtet hätte, und Sir William war nicht der Mann, der Verbindung seines Sohnes mit einer Frau, wie Mrs. Lovell, Avancen zu machen. Es fiel ihm auf, daß sein Vater und die schöne Witwe häufig lange Beratungen miteinander hatten. Edward lachte bei der Vorstellung, daß der würdige alte Herr selbst Feuer gefangen habe, ohne die Sache indessen völlig durchschaut zu haben, bis er herausfand, daß die kleine Dame, welche er am ersten Tage hatte zu Tisch führen müssen, eine Erbin sei, und hieraus, wie aus verschiedenen anderen Beobachtungen, erriet er die fürsorglichen Wünsche seines Vaters vollkommen. Doch machte diese Entdeckung Mrs. Lovells Benehmen noch unverständlicher. War es glaublich, daß sie ihre ganze weibliche Findigkeit aufbot, um Sir Williams Plänen Vorschub zu leisten? »Bin ich ihr«, dachte Edward, »so gleichgültig geworden, daß ihr an meinem guten Fortkommen gelegen ist?« Er beschloß, sie auf die Probe zu stellen. Er machte Adeline Gosling den Hof. Nichts, was er auch tun mochte, störte den unerschütterlichen Seelenfrieden Mrs. Lovells. Sie warf sie zusammen, wenn sie ihre Gäste durcheinander mischte. Er schien ihr in der Tat so vollkommen gleichgültig geworden, daß sie sich in aller Ruhe mit seinem guten Fortkommen beschäftigen konnte. Edward traf hier in dem seltsamen Gebaren der Frauen oder der Witwen auf einen Punkt, der ihm noch nicht vorgekommen war. Alle speziell beteiligten Parteien, waren augenscheinlich mit seiner Werbung so verzweifelt einverstanden, daß es ihm schließlich ungemütlich wurde. Mrs. Lovell bugsierte ihn nicht nur an die gleichen Orte mit der grünen Erbin, sondern auch mit des Kindes Mutter, über welche er sich gegen Algernon dahin aussprach, daß sie allzu stark nach dem Ehestand dufte, als daß sie den Hunger eines elektrischen Gemüts zu stillen vermöge.

»Gib mir freie Bahn, wenn du das Mädel nicht magst,« sagte Algernon. »Singe ihr mein Lob. Sag', ich hätte es in mir, wenn ich's auch nicht so von mir geben könne. Zwischen dir und Peggy Lovell ist's ein verlorenes Spiel, das ist klar. Die vergibt dir nicht, mein Junge!«

»Esel,« murmelte Edward, dem seine eigenen Wahrnehmungen verrieten, daß ihm nur allzu gründlich vergeben werde.

Ein Hauptreiz an dem Leben in Fairly schien ihm, daß sich hier niemand beklagte. Niemand verfolgte ihn mit vorwurfsvollen Blicken. War eine Dame blaß und reserviert, so schien sie doch ihn nicht anzuklagen, schien kein zärtliches Zureden zu verlangen. Alle Gesichter hier waren so heiter wie die flüchtigen Augenblicke und schleppten nicht die schattenhafte Müdigkeit von Jahren mit sich herum, wie jenes gedrückte schöne Antlitz in der Londoner Familienpension, aus dem alle Schicksalsgöttinnen zu reden schienen. So war er vergnügt. Er klappte gewissermaßen ein schwarzes Buch zu und schlug ein neues und helles auf. Junge Leute reden sich schnell ein, daß ihnen solches erlaubt sei, und daß, wenn das schwarze Buch zugemacht, die Flut auch gehemmt sei. Mit dem Wort: ›Ich bin ein Narr gewesen,‹ glauben sie ein für allemal mit ihrer Narrheit aufgeräumt zu haben. Welcher Vater lehrt sie, daß eine einmal ins Rollen gebrachte menschliche Tat für alle Zeiten der großen Rechenschaft entgegeneilt? Nicht in dem, was wir sind, liegt unsere Unsterblichkeit, sondern in dem, was wir tun. Die sorglose Jugend denkt anders.

Die Tage in einem wohlgeordneten Landhause, in dem eine feinfühlige Dame das Szepter führt, eilen im Walzertakt, in harmonischen Kreisen dahin, die gleich Kristallen in den Schoß der Zeit sinken und nichts in das Buch zu schreiben scheinen. Da gibt's keine kreischenden Dissonanzen an den Angeln der Existenz. Keine Nachtisch-Rechnungen werden präsentiert. Man wartet dir auf, ohne daß die Menschlichkeit derer, die dich bedienen, dir auf die Fersen tritt. Es ist ein zivilisiertes Arkadien. Nur, hab' keine Wünsche, auf daß du nicht neidisch werdest. Nimm demütig an, was dir bei deinem Eintritt an Bürgerrechten dargeboten wird. Streife alle Leidenschaften ab, wenn du über die Schwelle schreitest. Atme und schlinge, – weitere Verpflichtungen sollte dir deine Lebensführung nicht vorschreiben, andernfalls – denn so bringt es der geschwollene Zustand der animalischen Seite in diesen verzauberten Regionen mit sich – wird der Geist des Menschen in gefährlicher Weise bedrängt.

Edward atmete und schlang und überschritt die Vorschrift durch nichts anderes als durch Sprechen. Kein anderer von den jüngeren Herren konnte die Bibliothek betreten, ohne einem spöttischen Achselzucken von Seiten der älteren zu begegnen, er allein genoß das Privilegium, sämtliche Skandalgeschichten mit anzuhören, und seine natürliche Anlage zum Zynismus erhielt reichliche Nahrung. Mehr als er ahnte, war es eine Schule für ihn.

Diese Veteranen in ihren Armsesseln streiften dem Leben seinen Schmelz ab und zeigten das nackte Knochengerippe darunter. Sie faßten ihre Weisheit als eine aus der Vergangenheit gewonnene Erfahrung auf, ihre Empfindungen allein schienen ihnen der Gegenwart anzugehören. Solches nicht zu bemerken, ist der Irrtum der Jugend, wenn sie alte Herren in ungenierter Weise miteinander reden hört.

Am dritten Morgen ihres Aufenthalts in Fairly kam Algernon mit einem Briefe in der Hand in Edwards Zimmer.

»Da, lies das mal!« sagte er. »Das ist kein Pech, das ist einfach höllische Tücke! Wie in aller Welt – wahrhaftig, ich bin doch in 'ner geschlossenen Droschke zum Bahnhof gefahren! Du hast selbst gesehen, wie ich ausstieg. Ich kann darauf schwören, keiner meiner Gläubiger wußte, daß ich London verließ. Meine Überzeugung ist, daß die Kerls, die einem Kredit geben, an jeder Eisenbahnstation im Königreich ihre Detektivs haben. Keine drei Tage lassen sie einen in Ruh'! Es kann einem wahrhaftig das zivilisierte Leben verleiden, wahrhaftig, das kann es!«

Edward warf einen Blick auf das Kuvert: »Nicht bei der Post aufgegeben,« bemerkte er.

»Nein, durch irgendeinen verfluchten Büttel abgegeben, der hinter mir hergeschnüffelt hat!«

»Büttel pflegen im allgemeinen keine Warnungssignale ertönen zu lassen.«

» Lies es doch nur!« schrie Algernon.

Der Brief lautete folgendermaßen:

»Herrn Algernon Blancove,
Der Schreiber dieses beabsichtigt die erste Gelegenheit, Sie zu treffen, wahrzunehmen und macht Sie darauf aufmerksam, daß Sie ihm eine Frage mit Ja oder Nein zu beantworten haben werden, und zwar auf Ihr Gewissen. Sein respektvolles Benehmen Ihnen gegenüber, als eines Gentleman, wird hiervon abhängig gemacht werden.«

Algernons Augen folgten denen seines Vetters bis zum letzten Buchstaben auf der Seite.

»Was hältst du davon?« fragte er eifrig.

Edwards starke, schmallinige Brauen waren düster zusammengezogen. Indem er einiger schwarz aufsteigender Bedenken in seinem Hirn Herr zu werden trachtete, antwortete er auf Algernons Drängen um seine Meinung:

»Mir scheint – na, ich würde sagen, Büttel haben außerordentlich an Lebensart gewonnen und wünschen dir zu beweisen, daß sie willens sind, in einem Zeitalter des universalen Fortschritts nicht auf der sozialen Stufenleiter zurückzubleiben. Nichts kann tröstlicher sein.«

»Aber, gesetzt den Fall, der Kerl kommt einem über den Weg?«

»Kenn' ihn nicht!«

»Gesetzt den Fall, er besteht darauf, mich zu kennen?«

»Verleugne deine Identität!«

»Ja, den Teufel auch, aber wenn er handgreiflich wird?«

»Schüttel' ihn ab!«

»Wenn er mich aber nicht losläßt?«

»Versetz' ihm eins mit der Reitpeitsche!«

»Glaubst du denn, daß es sich um Schulden handelt?«

»Jedenfalls um eine Einschüchterung.«

»Ich werde ihm verkünden, daß der große Edward Blancove nicht einzuschüchtern ist. Du wirst mir deinen Namen borgen, alter Ned. Ich hab' dir seinerzeit auch beigestanden. Was ein Verlassen Fairlys anbetrifft, so sag' ich dir, das kann ich nicht. Es ist zu himmlisch, in Peggy Lovells Nähe zu sein.«

Edward lächelte mit besonderer Liebenswürdigkeit, und Algernon ging, voll befriedigt über seinen Vetter, von dannen.


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