Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel VII. Bedeutungsvolle Nachrichten von Dahlia

Um ein Geheimnis reicher, das sie tief in ihrem Innersten verschloß, kehrte Rhoda nach Hause zurück. Jene ganze erste Nacht in London hatten Dahlias zärtliche Liebkosungen, ihr Schluchzen, ihre Selbstvorwürfe sich durch ihre Träume hindurchgezogen, und als der Morgen anbrach, überraschte es sie kaum, zu erfahren, daß Dahlia jemand liebte. Das Geständnis wurde abgelegt, aber der Name verschwiegen. Dahlia sprach mit einer so ehrfurchtsvollen Scheu von ihm, daß sie gleichsam ganz in ihn versenkt schien, eine demütige Magd, die ihm die Füße küßte. Unter strömenden Tränen und qualvollen Seufzern sprach sie von der süßen Wonne zu lieben, jemand zu wissen, dem man seinen Willen und sein Geschick völlig zu eigen gäbe, bis Rhoda, die sah, welch einen wunderbaren Blütenflor die Liebe über das tränenvolle, erschöpfte Antlitz ihrer Schwester warf, selbst eine Art mystischer Verehrung für diesen Mann empfand und vollkommen bereit war, ihn weit über alle anderen Männer zu stellen, ja, ihn für übermenschlich zu halten. Denn sie war in einem Alter und von einer Gemütsanlage, da man über die Schwäche des Allzumenschlichen hinweg geistige Vorzüge, als solche, stark empfindet. Sie dachte, daß jemand, der ihre Schwester so hatte verwandeln können, der sie mit Ehrfurcht berührte, sie so anmutig, so bescheiden mache, durchaus dem Bilde entsprechen müsse, das Dahlia von ihm entwarf. Sie fragte scheu nach seinem Rufnamen, aber selbst den enthielt ihr Dahlia vor. Es war sein Wunsch, daß Dahlia völliges Schweigen über ihn bewahren solle.

»Hast du's ihm geschworen?« fragte Rhoda erstaunt.

»Nein, Liebling,« erwiderte Dahlia, »er hat nur erwähnt, er wünsche es nicht.«

Rhoda schämte sich vor sich selbst, daß sie dies seltsam fand, und sie begab sich ihres eigenen Urteils, um es von der umformen zu lassen, die ihn so gut kannte.

Was ihren Onkel betraf, so gab Dahlia zu, daß sie ihn wohl etwas vernachlässigt, ihn etwas unfreundlich behandelt hätte und versprach, es wieder gut zu machen. Von der Farm sprach sie als von einer alten Ruine, deren Mauern von einem schwachen Schatten der Erinnerung umsponnen seien, und schien sich fast zu wundern, daß sie immer noch stehe. »Es soll Vater nicht sein Lebenlang an Geld fehlen,« sagte sie. Es war ihr sehr angelegen, Rhoda Bücher zum Lesen zu empfehlen, gute Autoren, wie sie besonders betonte, sie nannte verschiedene Geschichtswerke und einige Dichter, von denen sie Verse zitierte. »Denn eines schönen Tages wird mein Liebling einen lieben Mann haben, und ich will nicht, daß der auf ihn herabsieht.« Rhoda schüttelte den Kopf und war überzeugt, solche Worte voller Musik würde sie niemals imstande sein, unbefangen herauszubringen. »Doch, Liebste, wenn du erst einmal weißt, was Liebe ist,« sagte Dahlia ganz leise.

Würde Robert sie das lehren können? Mit einer Art Neugier beobachtete Rhoda nach ihrer Rückkehr den armen hausbackenen jungen Menschen, um diese Möglichkeit dann sofort wieder zurückzuweisen. Überdies ging ihr jedes eigne Liebesempfinden ab. Ihre leidenschaftliche Hingebung gehörte ihrer Schwester, deren Londoner Briefe mit ihren langen Gefühlstiraden ihren Tagen und Nächten jegliche Einförmigkeit abstreifte. Diese Briefe schlugen mancherlei Saiten an. Ein Leser, der sie mit weniger Hingebung in sich aufgenommen haben würde, hätte sie vielleicht als Variationen über die Sprache der Verblendung kurzerhand abgetan, in Rhoda aber fand jedes Wort, jeder Stimmungswechsel seinen Widerhall, mochte es nun lauten: »Ich bin unwürdig, verloren, elend« oder »kein Engel kann so selig sein, wie ich.« Wenn ein Brief berichtete: »Wir haben uns gestern getroffen,« so klopfte Rhodas Herz weiter bis zu der Frage: »Ob ich ihn morgen wohl wiedersehe?« Wird sie ihn sehen? Hat sie ihn gesehen, – das war es, was ihre Gedanken völlig in Anspruch nahm.

Sie nahm an dem Schicksal ihrer Schwester so demütigen Anteil, ohne je zu wagen, irgendwelche Hoffnungen daran zu knüpfen, irgendeine Lösung zu erträumen, daß sie, als ihr eines Sommermorgens am Frühstückstisch ein Brief mit der Aufschrift »dringend und eigenhändig« überreicht wurde, ihn öffnete und alles vor den Augen tanzen sah, als sie die erste Zeile las, – die Überraschung überwältigte sie geradezu. Sie stand von ihrem noch nicht beendeten Mahl auf und ging ins Freie, während es ihr war, als schritte sie auf einer Gewitterwolke dahin.

Der Brief lautete folgendermaßen:

»Meine süße Unschuld! Ich bin verheiratet. Wir verlassen heute England. Ich darf Dich nicht allzusehr lieben, denn ich brauche alle meine Liebe für meinen Edward, der nun wirklich mein ist, und dem ich mich voller Vertrauen für immer zu Eigen gegeben habe! Aber er wird es mir erlauben, Dir doch ein wenig abzugeben, – und Eifersucht kennt meine Rhoda nicht. Eine ganze Menge sollst Du haben. Aber mitunter wird mir bange bei dem Gedanken, wie unermeßlich ich ihn liebe, so daß alles, alles was irgend ihm recht erscheint, auch mir recht ist. Es erschreckt mich nicht, das zu denken. Wenn ich's versuchen wollte, dann würde es über mich kommen, wie eine Wolke – denn so ist es, wenn ich mir nur eine halbe Sekunde vorstelle, daß ich vorschnell gewesen, daß ich etwas ganz Geringfügiges für ihn bin. Ich kann nicht mehr leben, es sei denn durch ihn. So muß ich ihm denn angehören, und sein Wille ist mein Gesetz. Mein allabendliches Gebet, wenn ich an meinem Bett knie, ist, daß ich für ihn sterben darf. Der Gedanke an den Tod kam uns immer so schrecklich vor. Weißt Du noch, wie gruselig es uns immer war, uns in der Nacht einmal Menschen vorzustellen, die im Grabe lägen? Und wenn ich mir jetzt denke, daß ich vielleicht eines Tages für ihn sterben dürfte, ist es mir im Herzen, als müßte ich vor Freuden weinen.

»Ich habe einen Brief an Vater zurückgelassen, ich wollte sagen, abgeschickt, den ich in einen an Onkel eingelegt habe. Mit der Zeit wird er ja Edward einmal sehen. O, der Himmel erspare ihm jeglichen Kummer; Rhoda wird sein Trost sein. Erzähle ihm, wie ich Edward liebe. Es ist, als wäre ich in ein tiefes Wasser gesunken, und keiner wäre da, als der eine.

»Wir sehen aufs Meer hinab. In einer halben Stunde werde ich vergessen haben, wie es ist, englischen Boden unter den Füßen zu haben. Ich weiß kaum mehr, daß ich atme. Mir ist gar nichts anderes bewußt, als eine Angst, ich flöge und meine Kräfte könnten versagen. Das kommt so über mich, wenn ich seine Hand nicht in meiner fühle. Vor uns liegt Frankreich. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich das ganze Land vor mir, aber es ist so ähnlich, wie meine Gefühle für Edward – alles wie im dämmernden Mondlicht. O, was für ein Vertrauen ich zu ihm habe! Ich möchte mein Blut für ihn hingeben! Ich könnte alle meine Adern verbluten lassen bei einem einzigen, traurigen Gedanken, der ihn betrifft. Von Frankreich nach der Schweiz und nach Italien! Das Meer glitzert so, als wollte es sagen: »Kommt mit zur Sonne!« und ich komme. Edward ruft. Ob ich nicht büßen muß für so viel Glück? Ich bin zu glücklich, ich bin zu glücklich!

»Gott behüte meinen Liebling zu Haus! Das ist jetzt mein Hauptgebet. Ich werde immer an Dich denken, wenn ich in den großen Domen sein werde.

»O, Vater im Himmel! segne sie alle! segne Rhoda! Vergib mir!

»Ich höre den Dampfer im Hafen pfeifen. Da kommt Edward. Er sagt, ich darf Dich von ihm grüßen.

»Meine Adresse:
Mrs. Edward Ayrton,
Poste Restante,
Lausanne.
Schweiz.

»P. S. Lausanne liegt da, wo – aber davon ein andermal. Ich will Dir auch immer die Geschichte von den Orten schreiben, damit Du etwas davon lernst, Du armes Herz, in dem öden England. Adieu, und Gott segne meine liebe, kleine Unschuld zu Haus, meine süße Schwester! Ich liebe sie. Ich kann sie nie vergessen. Es ist ein so herrlicher Tag. Als wenn er extra für uns ausgesucht wäre. Schreibe ja auf ganz dünnem Papier nach Lausanne. Es liegt an einem blauen See, man sieht Schneeberge da. So, nun läutet die Dampfschiffsglocke – viele Küsse! Das Schiff fährt ab. Ich muß schließen.

Dahlia.«

Das Lesen dieses Briefes versetzte Rhoda aufs lebhafteste an die Küste, und sie sah ihre Schwester in dem Schiff nach fremden Ländern hinausfahren, sie reiste mit ihr, sie folgte ihr in fliegender Hast durch eine Fülle wechselnder Szenen, opalheller Landschaften voller Glut und traumhafter Schönheit, und durch alles das hindurch tönte ihr immer wieder heller Glockenklang. »O du Süße, o du mein Schönstes!« rief sie in Dahlias Redeweise aus. Als sie Mrs. Sumfit begegnete, nannte sie dieselbe »Mutter Kloß«, wie Dahlia es in alter Zeit, in zärtlicher Neckerei, getan und küßte sie und lief zu Master Gammon hin, der gemächlich nach dem Haferfeld hintrottete, das nach dem Mühlenwerder zu gelegen war.

»Meine Schwester läßt Sie grüßen,« sagte sie fröhlich zu dem alten Manne. Master Gammon dankte mit einem kaum wahrnehmbaren Aufleuchten seiner Augen und öffnete und schloß seinen Mund, wie wenn eine Ente den Schnabel auftut, ohne das gewohnte »Nat, Nat« hören zu lassen.

»Und euch auch, ihr kleinen Ferkel, und dich, Füchschen, und dich, Schimmel, und dich und dich und dich!«

Rhoda nickte allen Bewohnern des Hofes zu und schaffte so der überschäumenden Freude ihres Herzens Luft. Worauf sie eine etwas nachdenklichere Gangart in gedämpfter Freude anschlug und ein Bedauern aufsteigen fühlte. Einfach darüber, daß die Eile, mit der Dahlia ihren Brief hatte schließen müssen, sie um das Vergnügen gebracht hatte, »Dahlia Ayrton« stolz ausgeschrieben zu sehen, in seiner ganzen wundervollen Bedeutung der Wandlung, die in ihrem Leben vorgegangen war.

Das war ja eine Kleinigkeit, dennoch dünkte Rhoda der Brief nicht ganz vollkommen durch dieses Fehlen des neuen Namens. Vielleicht, dachte sie, wollte Dahlia damit ausdrücken, daß sie für sie immer die alte Dahlia bleiben würde, keine Fremde. »Immer Dahlia, einzig und allein Dahlia für dich,« hörte sie ihre Schwester sagen. Aber wie entzückend und wie wehmütig, wie schrecklich und süß zugleich in seiner Bedeutsamkeit würde der neue Name »Dahlia Ayrton« in der geliebten Handschrift ausgesehen haben! »Und ich habe einen Schwager,« dachte sie, und es kribbelte ihr in den Backen. Die mit Farnkraut und Fingerhut bestandene Böschung und die grünen jungen Eichen, die das Unterholz umsäumten, schienen noch einmal so reich in der Farbe, als sie sich vorstellte, wie dieser geliebte, unbekannte Gatte ihrer Schwester auch sie selber und ihren Vater in die Arme schließen würde, ja, sogar den alten, zusammengeschrumpften Bettler an dem sandigen Hügel drüben, so elend seine Gestalt war und so jämmerlich er unter dem Reisigbündel einherging, überflutete ein warmes, goldenes Licht mit sanfter Schönheit. Es war Rhoda unmöglich, ins Haus zurückzugehen.

Nun war dem Bauern zufällig gerade an jenem Morgen die Bedeutung der Ansicht seiner Frau über Robert in den Sinn gekommen, und wie sie ihm scheidend denselben so warm empfohlen hatte.

»Haben Sie ein Auge auf eins meiner beiden Mädchen geworfen?« fragte er Robert kurzerhand, als er sich mit ihm allein fand.

Robert atmete einmal schnell auf und antwortete: »Ja.«

»Dann wählen Sie,« sagte der Bauer und versuchte seinerseits an die Arbeit zu gehen, aber er hing doch so lange bei Robert auf dem Felde herum, bis er gefragt hatte: »Welche ist es denn, mein Junge?«

Robert drehte eine Weizenähre zwischen den Zähnen.

»Ich glaube, das will ich ihr selbst überlassen zu sagen,« gab er zur Antwort.

»Na? wissen Sie nich', welche Sie haben wollen, Mensch?« fragte Mr. Fleming.

»Vielleicht weiß ich nicht, ob sie mich haben will,« sagte Robert.

Der Bauer schmunzelte.

»Ja, das 's' wohl wahr, da kann man nie so ganz mit rechnen.«

Er mußte denken: »Dahlia wird's sein,« weil er meinte, mit der zu sprechen hätte Robert ja weniger Gelegenheit gehabt.

»Wenn meine Mädchens erstmals Hausfrauen sind, denn werden sie ihre Arbeit im Haus' ganz ordentlich tun,« fuhr er fort. »Seh'n Sie, 'n büschen Land kriegen sie ja auch mit, na, und auch vielleicht 'n kleinen Teil – na, Gold. Da is' nu' nich' viel auf zu rechnen. Aber immerhin, man kann die Deerns doch nich' anseh'n, ohne zu sagen, 'n büschen was Besonderes sind sie. Ich bin da gar nich für, sie so mit 'n Reinmachen und 'n Essenauftragen und 'n Buttern 'ranzukriegen, wenn sie das nich' brauchen. Mit der Nadel sind sie beide geschickt. Sie können sich anziehen und Putzmachen, das tun sie alles selbst. Und ich weiß, daß sie jeden Abend ihr Gebet sprechen. Das weiß ich ganz gewiß, wenn Ihnen das 'n Trost ist, Robert, und das sollte es doch eigentlich. Denn, wenn man betet, denn kann's nich' so schlimm um einen steh'n, und ganz besonders is' da für Mädchen viel auf zu geben. Mehr sag' ich nich'.«

Bei Tisch fehlte Rhoda. Das machte Mr. Fleming kribbelig, bald tadelte er es, bald entschuldigte er sie, aber da es Robert ganz gleichgültig schien, ob sie da sei oder nicht, hielt er seine Annahme, daß es Dahlia sei, mit der seine Phantasie sich beschäftige, für bestätigt.

Das Mittagessen war beendet und Master Gammon aufgestanden, als im vorderen Hausflur eine Stimme ertönte, die jeder sofort als die Anton Hackbutts erkannte. Mr. Fleming ging mit erschrockenem Gesicht zu ihm hinaus.

»Herrgott!« sagte Mrs. Sumfit, »was zitter' ich!«

Auch Robert blickte ernst drein und machte sich davon. Auf ihnen allen lastete schwer die Angst vor schlechten Nachrichten von Dahlia; dennoch machte niemand eine dahinzielende Bemerkung. Robert unterließ es, weil er es für eine Unbescheidenheit von seiner Seite gehalten haben würde, der Farmer, weil er sich selbst eingestand, daß seine Schlauheit, die Dahlias dauernden Aufenthalt in London zuließ, eine gewisse Gefahr berge, während Mrs. Sumfit es schlechterdings nicht zugeben wollte, daß ihrem Liebling, einem so süßen, schönen Geschöpf, irgendwelches Unheil drohen könnte. Solch widersprechende Logik kommt bei den Vertretern ihrer Klasse häufiger vor, – doch wozu dem Eigensinn unerzogener Gemüter viel Gewicht beilegen! Robert schritt quer über die Felder, wie einer, der ein ganz bestimmtes Ziel verfolgt. Als er in einen der schmalen Redderwege einbog, die nach Wrexby-Hall führten, sah er Rhoda unter einem Eichbaum stehen; auf ihrem weißen Kleide spielten Sonnenlichter. Sein erster Impuls war, umzukehren, da er das Problem, wie er zu ihr sprechen sollte, noch nicht innerlich zum Abschluß gebracht hatte. Aber im nächsten Augenblick erstarrte ihm das Blut in den Adern, denn er bemerkte, wenn schon er es zunächst nicht völlig faßte, daß zwei Herren neben ihr standen und mit ihr sprachen. Und es stand unumstößlich fest, daß sie ihnen zuhörte. Gleich darauf lüfteten beide Herren ihre Hüte und verschwanden. Rhoda kam auf Robert zu.

»Sie haben Ihr Mittagessen ganz vergessen,« sagte er mit einer wunderlichen Empfindung von Scham, daß er diesen Umstand als Einleitung brauchte.

»Ich war zu glücklich, um zu essen,« erwiderte Rhoda.

Roberts Blick schweifte den Weg hinunter, aber sie beachtete diese Andeutung nicht und fragte: »Ist Onkel gekommen?«

»Haben Sie ihn erwartet?«

»Ich dachte, er würde kommen.«

»Worüber sind Sie so glücklich?«

»Sie werden es von Onkel hören.«

»Soll ich hingehen und hören, was jene –«

Robert unterbrach sich selbst, doch wäre es besser gewesen, er hätte zu Ende gesprochen. Der fragende Zug, der über Rhodas Mienen geglitten war, verwandelte sich in einen Ausdruck der Verachtung.

Sie erheuchelte nicht irgendwelche weibliche Naivität, die so allerliebst mißzuverstehen und eine angedeutete Anklage damit von sich abzuwenden vermag, zweifellos sagte ihr scharfes Feingefühl ihr, daß ihre Verachtung ihn in diesem Augenblick weit empfindlicher treffen würde. Es haftete ihm etwas von der Unbeholfenheit eines Mannes an, der einer Frau gar viel zu sagen hat, aber nicht weiß, wie oder womit er anfangen soll. Ein Ruf ihres Vaters von der offenen Gartenpforte her trieb Rhoda eilends dorthin. Unmittelbar neben Mr. Fleming stand der alte Anton.

»Du weißt es schon? Du hast ihren Brief bekommen, Vater?« sagte Rhoda froh, obschon auf seiner Stirn ein finsterer Schatten lagerte.

»Du könntest wahrhaftig eine ägyptische Königin sein,« sagte Anton, dessen prüfendes Auge auf Rhodas dunklem, frohem Antlitz ruhte.

Rhoda streckte ihm die Hand entgegen, aber ihr Blick blieb an ihrem Vater haften.

»Hört alle zu! So schreibt eine Tochter an ihren Vater!«

Und er las mit einer wunderlichen Betonung der Anfangssilben jeden Satzes:

»Lieber Vater!
Mein Mann wird mit mir zu Euch kommen, wenn ich nach England zurückkehre. Ich weiß wohl, ich hätte Dir nichts verheimlichen dürfen. Versuche mir zu vergeben. Ich hoffe, Du tust es. Ich werde immer an Dich denken. Gott befohlen!

Ich bin
immer in herzlicher Verehrung
Deine Dich innig liebende Tochter
Dahlia.«

»Dahlia Nichts!« sagte der Bauer und sein Blick wanderte von einem zum andern.

Augenscheinlich rang er mit einer gewaltigen Aufregung, denn der Brief in seiner Hand knitterte, und seine Stimme war heiser. Aber seine ausdruckslosen Gesichtszüge verrieten nichts. Die runden, braunen Augen und das rötliche Kolorit seiner Wangen waren eine Maske für jeden Kummer, wenn nicht auch für jede Freude.

»Dahlia – was? Wie heißt sie denn?« begann er aufs neue, »Hier – ›Mein Mann wird mit mir zu Euch kommen.‹ – wer's denn ihr Mann? Hat er keinen Namen? Und hier ein leeres Kouvert an ihren Onkel, der sie so lange in seiner Obhut gehabt hat! Und das is' alles, was sie mir schreibt! Will mir irgend jemand sagen, was das zu bedeuten hat?«

»Dahlia ist sehr eilig gewesen, Vater,« sagte Rhoda.

»So, du, na ja! Du bist mir die Richtige, jawoll! Schwester is' Schwester, sagst du.«

»Aber sie war ganz gewiß sehr in Eile, Vater. Ich habe auch einen Brief von ihr bekommen, und da steht nur »Dahlia« drunter – kein andrer Name.«

»Und du glaubst nicht, daß da was dahintersteckt bei deiner Schwester?«

»Vater, was soll denn dahinterstecken?«

»Der Brief, mein Kind, brummt mir im Schädel herum, als wenn er sagen wollte: ›Versteht ihr mich denn noch nicht?‹ Ich hab' ihn 'n Stücker zwanzigmal gelesen, und ich kann noch immer nich' dahinterkommen, was er eigentlich meint. Aber, wenn das nicht wahr ist, wenn das Lügen sind in ihrem Brief, wie verhält sich denn eigentlich die Sache? Wie lange sollen wir denn warten, bis wir das hören? Ich geb' Ihnen mein Wort, Robert, Sie tun mir grad' so leid, wie ich mir selbst tu'. Oder war die es nich'? Is' es vielleicht die hier?« er zeigte mit dem Finger auf Rhoda. »Na, jedenfalls, Robert, werden Sie mit mir als Vater fühlen können, Das is' so, a's wenn ich in 'ner dunkeln Stube bin, und das Licht is' ausgepust'. Ich hab' mal so was gehört, daß einer es so mit der Angst kriegen kann, a's wenn er seine Finger auf so'n ganz scharfes Messer legen müßte – und wenn ich bloß daran denk', einen Schritt zu machen und meinen Weg so hintappen möcht', denn schneid' ich mich, und denn blutet das. Ja, so 'n Gefühl is' es. Robert, sagen Sie doch man bloß, daß es die nich' war!«

Das einzuräumen schloß das Bekenntnis in sich, daß es diese hier wäre, die er lieb hätte – dies verächtliche Geschöpf, diese Kokette, dieses schamlose Mädchen, das Stelldicheins mit Herren verabredete, oder doch immerhin erlaubte, daß sie mit ihr sprachen, und die ihn danach noch voller Unschuld und Empörung ansehen konnte.

»Seien Sie überzeugt, Mr. Fleming, daß ich so stark mit Ihnen fühle, wie's nur irgendein Mensch tun kann,« sagte er befangen und mit halb abgewandtem Gesicht.

»Haben Sie irgendwelchen Verdacht?« Der Bauer wiederholte die Frage, wie einer, der nur einer Bestätigung seiner eignen dunklen Vermutungen bedarf, um solche als Tatsache zu erblicken. »Robert, sieht das aus, wie der Brief einer verheirateten Frau? Ist das ein töchterlicher Brief – was, Mann? Hilf mir doch einer! Ich kann selber nich' denken, – sie bindet mir die Hände. Sagt doch was!«

Roberts Blick suchte Rhoda. Er würde viel darum gegeben haben, sagen zu können: ›Es ist alles in Ordnung‹. Ihr Gesicht glich einer Blume, die mit aller Macht zum Licht drängt, gerade diese Schönheit verstärkte seine eifersüchtige Leidenschaft, und es schmeichelte ihm, daß er außer stande war, sich durch eine Lüge zu erniedrigen, um sie sich geneigt zu machen.

»Sie sagt, daß sie verheiratet ist. Wir müssen annehmen, was sie sagt.«

Das war seine Antwort.

» Ist sie verheiratet?« Donnerte der Bauer heraus. »Oder ist sie hingegangen und hat über ihre Mutter im Grabe Schande gebracht? Was soll ich denken? Sie ist doch mein Fleisch und Blut, Is' sie –«

»Still, Vater, still!« Rhoda legte die Hand auf seinen Arm. »Wie kannst du nur an Dahlia zweifeln? Du hast vergessen, daß sie immer die Wahrheit sagt. Komm mit, Vater. Es ist schändlich hier zu stehen und unmännlichen Worten zuzuhören.«

Sie wandte Robert ihr aschfahles Antlitz zu.

»Komm mit, Vater. Sie ist doch eine von uns. Sie ist meine Schwester. Ein Zweifel an ihr ist eine Beleidigung für uns.«

»Aber Robert hat ja gar keinen Zweifel, was?« Der Argwohn des Bauern war schon halb beschwichtigt. Haben Sie irgendwelchen ernstlichen Zweifel wegen des Mädchens, Robert?«

»Ich maße mir nicht an, an irgend jemand zu zweifeln,« sagte Robert.

»Sie werden uns doch nicht in Stich lassen, alter Junge?«

»Ich bin auf Ihrem Hof in Dienst,« sagte Robert und schritt davon.

»Der arme Kerl, er hat allen Grund noch mehr dabei zu fühlen, a's wir alle mit'nander! das 's 'n böser Schlag für ihn!« Damit legte der Bauer seine Hand auf Rhodas Schulter. »Ich wollte, er hätte sein Herz an ein zuverlässiges Frauenzimmer gehängt!«

Auf Rhodas Gesicht war noch der Schauder des Widerwillens zu lesen, als sie ihrem Vater die Wange küßte.


 << zurück weiter >>