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Kapitel V. Die Begegnung der Schwestern

Wenn sich junge Herzen irgendeinem entfernten Ziele entgegensehnen, so tritt alles andere, was um sie her vorgeht, kaum an sie heran. Die Fahrt zur Eisenbahnstation und der Abschied von Robert, die Reise nach London, das ihrer heimlich bangen Ahnung wie eine versunkene Stadt erschien, – eine verzauberte Stätte, über welcher Wasserfluten dahinrollten – alles dies ging glatt vonstatten, und mit einmal galt es, einen Droschkenkutscher zu rufen, für welchen Rhoda, da er ihr den Dienst erwies, ihren Koffer auf seine Schultern zu laden, eine gewisse dankbare Hochachtung empfand, bis sich zwischen ihm und dem Onkel ein Streit über einen halben Schilling entspann – eine armselige Summe, wie sie dachte, aber, wie Onkel Anton ihrem Verständnis während des heftigen Wortwechsels einprägte, eine Sache des Prinzips. Jeder indessen, dem es gelingt, sich einzureden, daß er für ein Prinzip fechte, wird ein tapfer ausharrender Kämpfer sein und den Gegner mit Sicherheit aus dem Felde schlagen, möge es sich auch um ein noch so armseliges Streitobjekt handeln. Der Droschkenkutscher wurde infolgedessen aus dem Felde geschlagen. Er schimpfte indessen in einer Weise hinter ihnen her, daß Rhoda jedes Mitleid deswegen für ihn verlor, und als ihr Onkel achselzuckend meinte, das sei so die Londoner Art zu sprechen, dachte sie niedergeschlagen, wie lange Dahlia diese Art nun schon hätte anhören müssen. Dahlia war nicht zu Hause, aber Mrs. Wicklow, Antons Hauswirtin, nahm es auf sich, es Rhoda gemütlich zu machen, welche Absicht sie zunächst damit zu erreichen suchte, daß sie behauptete, dunkle junge Damen viel hübscher zu finden, als blonde, wobei sie Rhodas Arm nachdrücklich berührte, damit sie auch ja merken sollte, daß sie damit ein Kompliment beabsichtige. »Das is' so in London Sitte,« sagte sie. Aber Rhoda war völlig fassungslos, als sie Mrs. Wicklow erzählen hörte, ihre Tochter und Dahlia wären zusammen aus, und wenn sie nicht schon von vornherein eine Verabredung mit irgendeinem netten und aufmerksamen Herrn gehabt hätten, so hätten sie jedenfalls unterwegs einen getroffen. Ihre Gedanken, die sich um die Schwester drehten, wurden immer wirrer und unbegreiflicher, und London schien sich um sie beide zusammenzuziehen wie ein gigantisches Netzwerk.

»Ja, das 's' hier so Sitte mit den Mädchen,« sagte Anton, »darum die feinen Hüte.«

Rhoda versank in ein banges, dumpfes Brüten. Die wilde Art ihres jungfräulichen Stolzes empfand schon einen stechenden Schmerz bei dem Gedanken, ein fremder Herr könnte es auch nur wagen, ihre Schwester anzureden. Es schwebte ihr auf der Zunge zu sagen, daß sie allerdings von einem falschen Jerusalem geträumt hätte und daß sie nun die gerechte Strafe dafür empfange. Nach geraumer Zeit kehrte die Tochter der Hauswirtin allein zurück und sagte mit einem häßlichen Lachen, Dahlia hätte sie nach Hause geschickt, um ihre Bibel zu holen, aber irgendwelche Erklärung der seltsamen Mission, mit welcher sie betraut war, war nicht aus ihr herauszubringen, auch zeigte sie nicht die geringste Neigung, den Auftrag auszuführen, sondern wiederholte nur immer, mit einem gemeinen Zurschautragen simulierter Verächtlichkeit, das Rhoda von ihr abstieß, obschon sie am liebsten eine Flut von Fragen in das Ohr derjenigen, die zuletzt mit ihrer geliebten Schwester zusammengewesen war, ausgegossen hätte: »Ihre Bibel!« Nach einer Weile sah Mrs. Wicklow nach der Uhr, und ihr Gesicht bewölkte sich mit düsterem Ernst.

»Elf! und dann schickt sie Marianne nach Hause, um ihre Bibel zu holen. Das ist bedenklich. Das dünkt mich geradezu heuchlerisch, so 'n Gedanke mit der Bibel. Ja, wenn sie noch zu Marianne gesagt hätte, hol' mir irgendein anderes Buch, aber gerad' die Bibel!«

»Es ist Mutters Bibel,« warf Rhoda dazwischen.

Mrs. Wicklow erwiderte: »Ich wollte, alle jungen Mädchen wären so unschuldig wie Sie, mein liebes Fräulein. Geh'n Sie man zu Bett. Sie sind 'n liebes, gutes, süßes, junges Ding. Auf 'n Charakter versteh' ich mich.«

Ihren Scharfsinn rühmend, begleitete sie Rhoda auf Dahlias Zimmer und hieß sie schleunigst einschlafen, denn sonst würden sie doch reden, bis der Hahn sich heiser gekräht hätte, wenn Dahlia nach Hause käme.

»Ist hier ein Hühnerhof in der Nähe,« fragte Rhoda, und das Gefühl von Verlassenheit verschärfte sich ihr, als sie eine verneinende Antwort empfing.

Es war eine ruhige, klare Nacht. Sie lehnte sich zum Fenster hinaus, und das sonntäglich gedämpfte, abendliche Gesurre der Großstadt schlug an ihr Ohr, wie eine zurückebbende Brandung. Und Dahlia war draußen auf hoher See. Rhoda dachte daran, als sie die Laternenreihe entlang sah und auf den fernher brausenden Lärm horchte, bis der Anblick der Sterne sie grüßte, wie freundliche Freundesaugen. »Die Leute hier sind gut,« dachte sie, denn ihre flüchtige Erfahrung mit der Hauswirtin war eine gute, und ein junger Mann, der am Bahnhof eine Droschke für sie herbeigerufen, hatte eine freundliche Stimme. Er war blond. »Ich bin dunkel,« durchschoss es plötzlich ihren Sinn. Sie entkleidete sich und hörte im Halbschlaf mit klopfendem Herzen, wie die Haustür geöffnet wurde, und fast stockte ihr der Puls in dem Gedanken, daß ihre Schwester nun komme; sie setzte sich aufrecht, damit ihr Ohr jedes Geräusch an Tür und Treppe auffange, das ihre Freude zu ihr bringe, aber gleich darauf zwang sie sich zur Ruhe und tat, als ob sie schliefe, um sich in vollem Entzücken an der grenzenlosen Überraschung ihrer Schwester zu weiden. Die Tür flog weit auf, und Rhoda hörte Dahlias Stimme ihren Namen rufen; ein wundervolles Schweigen folgte, und sie fühlte, wie Dahlia auf den Zehen näher schlich und wartete darauf, daß sich ihr Kopf so dicht zu ihr herabbeugen werde, daß sie ihre Arme um sie schlingen und den geliebten Kopf an ihr Herz ziehen könne. Aber Dahlia kam nur bis an das Bett heran, ohne sich über dasselbe zu beugen und sprach flüsternd von ihrem Aussehen, so daß Rhoda sich ganz ruhig hielt.

»Wie fest sie schläft! Ja, das ist ländlicher Schlaf!« murmelte Dahlia. »Sie hat sich verändert, aber nur zu ihrem Vorteil. Sie ist nun ganz ausgewachsen; eine vollkommene Brünette ist sie, und die Nase, über die ich immer gelacht habe, paßt zu ihrem Gesicht; und diese dicken, schwarzen Augenbrauen, die sie hat; mein Liebling! O warum ist sie hier? Was soll das? Ich hab' nichts davon gewußt, daß sie käme. Sollte sie absichtlich hierher geschickt sein?«

Rhoda rührte sich nicht. Der Ton von Dahlias Reden, so leise und fast feierlich, wie er ihr vorkam, legte sich auf sie, wie eine schwere Hand und hielt sie ganz stille.

»Ich wollte meine Bibel holen,« hörte sie Dahlia sagen. »Ich hatte es Mutter doch versprochen, – o meine arme, süße Mutter! Und Dody, die hier in meinem Bett liegt! Wer hätte an so etwas gedacht? Vielleicht hat der Himmel doch ein Auge auf uns und mischt sich darein. Was soll nur aus mir werden?! O, du liebes, unschuldiges Ding, wie gut du da schläfst! Ich liege stundenlang und kann nicht schlafen. Sie schlingt ihr Haar noch immer in so einen Knoten für die Nacht, wie sie es zu Hause auf dem Hof damals tat.«

Rhoda wußte, daß sich ihre Schwester jetzt über sie beuge, aber sie war wie gelähmt und konnte sich nicht bewegen.

Dahlia ging zum Spiegel. »Wie erhitzt ich aussehe,« murmelte sie. »Nein, nun bin ich ganz blaß, ganz weiß. Ich habe alle meine Kräfte verloren. Was soll ich nur anfangen? Wie könnte ich auch Mutters Bibel nehmen und von meiner Süßen weglaufen, die auf mich wartet und davon träumt, daß ich morgen früh neben ihr liege, wenn sie aufwacht! Ich kann nicht, ich kann es nicht! Wenn du mich liebst, Edward, kannst du es nicht wünschen!«

Sie ließ sich in einen Stuhl fallen und brach in ein wildes Weinen aus, während sie dennoch bemüht blieb, ihr Schluchzen zu ersticken. Rhodas Augen wurden feucht, aber Staunen und die kalte Angst wahnsinniger Teilnahme hielten sie noch immer wie mit Eisesbanden. Plötzlich hörte sie das Fenster öffnen. Drunten auf der Straße sprach jemand, Dahlias Name wurde von jemand gerufen. Ein tiefer Glockenton verkündete die Mitternacht.

»Geh!« rief Dahlia.

Das Vibrieren von Dahlias Stimme durchfuhr Rhoda, wie das schwere Nachzittern der Glocke, nachdem sie angeschlagen, und es war ihr, als summe und surre es noch immer weiter durch die Stube. Es dünkte sie kaum länger als eine Minute, bis ihre Schwester leise ins Bett schlüpfte, und sie einander fest umschlungen hielten.


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