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Kapitel XII. Im Theater

Edwards Verabredung im Klub war mit seinem unglücklichen Vetter Algernon gewesen, der nicht nur das Bedürfnis nach einem Mittagessen empfand, sondern auch nach »fünf Pfund oder so« (diese nebelhafte Umrandung, die sich ins Unermeßliche dehnen oder auch jämmerlich zusammenschrumpfen ließ, je nach der Laune der Leihenden, und deren Notwendigkeit beweist, daß der Borger auf Fortunas Seil über dem alten Abgrunde tanzt).

»Über einem guten Glas Rotwein,« das war der Zeitpunkt, den Algernon sich für seine Anfrage gesetzt hatte, und er wartete, sonder Mittagessen, bis die ebenmäßig dahinrollenden Minuten sich dehnten und zu fürchterlichen, schreckenerregenden, gleichsam von einer Viper gebissenen Ungeheuern anschwollen, und der ehrwürdige Signor Zeit eine krankhafte Farbe annahm. Denn dies war innerhalb der ganzen Strecke, welche die Laufbahn dieses jungen Mannes maß, das erste Mittagessen, das er nicht genossen hatte. Man vergegenwärtige sich nur diese jammervoll gähnende Leere! Er vermochte kaum sein Mißgeschick zu fassen. Mit einem blöden Lächeln versuchte er es sich selber begreiflich zu machen, wie eine der schier unmöglichen Schicksalslaunen, die ihn betroffen habe, – war es nicht wirklich komisch?

Er wartete von Punkt sechs Uhr bis Punkt sieben Uhr. Er verglich die Uhren auf dem Flur und im Zimmer. Fünfzigmal gab er seinen Beinen eine andre Stellung. Eine Zeitlang rang er mit edler Mannhaftigkeit gegen die augenscheinliche Drohung des Fatums an, ihm heute überhaupt kein Mittagessen zuzuwenden; es schien unmöglich, der reine Hohn, denn ich muß wiederholen, daß ihm solches noch niemals durch irgendwelchen Zufall passiert war. »Man wird geboren – man ißt zu Mittag.« Das schien ihm die einfach selbstverständliche Ordnung der Angelegenheit, eine durchaus angebrachte Regelung der Tatsachen, die sich naturgemäß aus dem Geborenwerden eines jungen Wesens ergaben.

Durch welch fürchterliches Mißgeschick geht er denn seines Mittagessens verlustig? dadurch, daß er ein minimales Vertrauen auf das anständige Gefühl eines andern Mannes gesetzt hat! Diese Schlußfolgerung zog Algernon völlig logischermaßen aus seiner eigenen Erfahrung, und es kommt dabei gar nicht darauf an, ob andere »ungegessene« Sterbliche dasselbe sagen würden. Wir haben es indessen hier nicht mit den von Natur Glücklosen zu tun, die betrübliche Tatsache eines einfach leeren Magens möge uns genügen. Diese Tragödie ist handgreiflich. Wahrhaftig, nur allzu handgreiflich, und ich wage dem wütenden Dilemma, dieser Animalkula, gegenüber nur einen blitzschnellen Blick durch das Mikroskop. Fünfundzwanzig Minuten hatten sich nach dem Schlage sieben bereits abgemeldet, als Algernon sein Schlußverdikt über Edwards Betragen durch sein Verlassen des Klubs dartat. Nach einer Viertelstunde kehrte er dahin zurück, um in verzweifelter Stimmung noch bis acht Uhr weiter zu warten.

Er hatte weder eine Uhr in der Tasche, noch einen Ring am Finger, noch einen irgend entbehrlichen Knopf in seinem Vorhemd. Die Summe von zweiundzwanzig Pence war sein ganzer Besitz, und ich frage Sie, wie er sich selbst fragte, wie ein anständiger Mensch dafür zu Mittag essen sollte? Er mußte lachen, als er sich das vorstellte. Die Ironie der Vorsehung führte ihn an einer Garküche vorbei, aus welcher die vereinigten Dämpfe von allerlei Fleischgerichten und Puddings gleich Banditen aus dem Hinterhalt den Wanderer überfielen, ihn ergriffen und hineinschleppten oder ihn gedemütigt und mit einem Gefühl von Übelkeit seines Weges ziehen ließen.

Zwei kleine Knaben drückten ihre Nasen platt gegen die neidisch angelaufenen Fensterscheiben, daß dieselben weiß wie ein paar Uferschnecken aussahen. Algernon wußte, daß er in dem Ruf eines nobelen Kerls stand und warf, während er an dies, sein Renomee, dachte und gleichsam, als wolle er dem Schicksal einen Wink geben, was ihm in seinem Fall zu tun obliege, den kleinen Bengeln ein paar Kupfermünzen zu; die tauchten wie der Blitz aufs Pflaster nieder und glitten zum Ladentisch hin, ohne das geringste »Danke schön« oder auch nur einen Gedanken daran.

Algernon war außer stände, diesen kindlichen Glauben an die Güte der unsichtbaren Mächte, welche uns nähren, zu würdigen, obschon ich zu seiner Ehre sagen muß, daß er ihn bis vor zwei Stunden in sehr gleichem Maße geteilt hatte. Er lachte wegwerfend: »Kleine Vagabunden!« indem er im Grunde seines Herzens dachte, aus solchen setze sich die Menschheit zusammen, wie es mancher seines Mittagessens verlustig gegangene Mann vor ihm gesagt hat und mancher nach ihm sagen wird, wenn ich mich der Redeweise der Narren bedienen soll. Er schlenderte weiter, indem er das beengte, nebelhafte Bild, das die Dinge in London ergaben, mit seiner Vision eines freien Traumes von wunderbaren Prairien verglich, darin er ein zweites Leben führte: die Wälder, die Berge, die sich endlos dehnenden Flächen, – die Herden, die nachlässige Zwanglosigkeit in Sprache und Kleidung und die Grogkneipen. Ah! dort draußen konnte es keinem Zweifel unterliegen, daß er ein Elegant und ein Gelehrter sei! Auch würde die Natur nicht ihre Tasche fest zuknöpfen und dennoch unzählige Dinge von ihm verlangen, wie die Zivilisation es tat. Das dachte er in der rachsüchtigen Stimmung seines tief verletzten Gefühls.

Nicht allein, daß Algernon noch niemals seines Mittagessens verlustig gegangen war, er konnte sich auch nicht entsinnen, jemals gegessen zu haben, ohne seinen Wein dazu getrunken zu haben. Seinem Vorstellungsvermögen war die Idee eines Mittagessens ohne Wein unfaßbar. Möglicherweise hatte er eine dunkle Ahnung davon, daß Wein nicht auf Anteil jedes Menschen auf Erden falle, er hatte von Kehlen reden hören, die nicht einmal durch Bier erfrischt werden: aber auf alle Fälle war er selbst an Besseres gewöhnt, und es paßte ihm durchaus nicht, aus der Masse seiner Kenntnisse Tatsachen auszugraben, die ihn mit dem elenden Stückchen Hammelkeule, die er in der Ferne als sein Mittagessen sah, – ein Fleckchen Fleisch in dem arktischen Kreis einer Schüssel, die nicht von irgendeiner rötlichen, warmen Sonne eines gefüllten Pokals bestrahlt wird – hätten aussöhnen können.

Aber fort mit dieser metaphorischen Redeweise, obschon keine andere dem hohen Grad seines Elends oder der Art seiner Gedanken gerecht zu werden vermag.

»Ach Gott, und jeder Freund, den ich hab', ist aus London fort,« rief er, ganz in der Stimmung in alledem ein abgekartetes Spiel zu sehen.

Er steckte die Hände in die Taschen und ein stumpfes, vagabundenartiges Gefühl kam über ihn. Die Straßen schwelgten gleichsam in winterlichem Schmutz. Die vorüberrollenden Equipagen beleidigten ihn durch den Reichtum, den sie zur Schau trugen.

Er sah ihnen mit der Empfindung eines Sozialdemokraten nach. Ach, wenn man nur ein Pferd hätte, um über die unendliche Ebene dahinzujagen, seufzte er im Herzen. Erbittert dachte er daran, wie er morgens auf seinem Kontorbock in der Bank geritten und dabei von seiner Wildnis geträumt hätte, wo keine Büttel herumrannten, und keine Gewölbe das Firmament verdunkelten.

Und dann gab's Theater hier – ungeheure, luxuriös eingerichtete Plätze! Algernon trat zu dem Portal eines solchen hin, um sich etwas abzulenken und kritisierte den Theaterzettel mit cynischem Blick. Drinnen wurde ein Stück aufgeführt, das sich allgemeiner Beliebtheit erfreute: »Ilexbeeren.« Als Algernon sah, wie es ins. Parket strömte, erkundigte er sich, wie's mit den Logen sei, aber als er in Erfahrung gebracht hatte, daß noch eine Loge leer sei, schien seine Anteilnahme für die Aufführung erloschen.

Als er weiter schlenderte, wurde sein Interesse durch einen Lärm an den Türen zum zweiten Rang gefesselt, die plötzlich aufschlugen, und aus denen ein kleiner, untersetzter alter Mann herausstürzte, den ein jüngerer am Rockkragen gepackt hatte, der erklärte, daß er es ihm verleiden wolle, sich am Schluß jeden Aktes an ihm vorbeizudrängen.

»Sie scheinen Schauspiele auch gerad' gern zu haben,« höhnte der Jüngere.

»Ich hab' alles gern, wofür ich bezahle, junger Mann,« erwiderte der empörte Alte, »und das ist ein Vergnügen, was Sie noch zu lernen haben, – was?«

»Meinetwegen, aber drängen Sie sich nicht noch mal an mir vorbei,« schrie der cholerische Jüngling.

»Sie glauben doch woll nich', daß ich möglichs' lang' in Ihrer Gesellschaft bleiben werde?«

»Auf wessen Kosten haben Sie denn getrunken?«

»Auf Kosten meines Vaterlandes, junger Mensch. Nehmen Sie sich doch in acht, daß Sie nicht bald mal auf dessen Kosten zu essen kriegen. Nun lassen Sie mich los!«

Algernons Hunger war durch die Aussicht auf eine angenehme Aufregung beschwichtigt, und als er sah, wie der junge Mann den alten ganz häßlich schüttelte, rief er: »Hände weg!« und unterzog sich der Obliegenheit eines Polizisten. Da er indessen nicht in Blau war, erzielte sein herrischer Befehl keinen Erfolg, bis er sich mit seiner Faust ins Mittel warf.

Als er das getan hatte, erkannte er den Kassenboten an Boynes Bank, dessen Feind sich unter der drohenden Versicherung zurückzog, daß keiner sich an ihm vorbeidrängen sollte, um zum nächsten Akt auf seinen Platz zu kommen.

»Ich habe bezahlt,« sagte Anton, »und Sie haben ein Freibillett, und Sie Freibillettleute sollen mir nicht in den Weg kommen. Ich bin Tausend von euch wert. Halloh, Herr!« rief er Algernon zu, »ich hab' Sie gar nicht erkannt. Sie sind sehr liebenswürdig. Diese Kerls kriegen Freibilletts und machen sich so breit, wie Leute, die bezahlt haben. Der hat nie solchen Wein im Leibe gehabt, wie ich. Darauf könnt' ich schwören. Ha, ha! Ich geh' nach jedem Akt mal 'raus, um 'n bißchen frische Luft zu schöpfen, und da sitzt das halbe Parterre voll Freibillettleuten, und die schreien und stoßen einen, und ich dräng' mich durch und wieder zurück, wie so 'n glutrotes Schüreisen.«

Anton lachte und schwankte ein bißchen hin und her, während er lachte.

»Kommen Sie hier auf die Straße, Herr,« sagte er, indem er sich seinen Weg auf den Fahrdamm bahnte. »Die Bureaustunden sind vorüber und, ha, ha, was denken Sie bloß? Hab' da 'n alten Bauern mit drinnen, is' bange, sich auch nur zu bewegen auf sein'n Platz, und die Deern auch, hält sich ganz fest an ihm, und is' 'ne gute Deern. Sie glaubt, wir hätten 'n bißchen zu viel gekriegt. Wir sind in den Docks gewesen zu 'ner Weinprobe: Portwein – Sherry: Sherry – Portwein, und, ha, ha, ›was 'n Berg Wein!‹ sagt der Bauer, – und keine Ahnung, was er selber für 'ne Ladung beipackt. ›Hab' ich mir doch gedacht, daß es Nacht wär'‹, sagt der Bauer, als wir an die Luft kommen, und ihn so zu sehen, wie er so vorwärtsgeht, blinzelnd und stolpernd, und dann immer zu mir sagt: ›Kannst du aber Wein vertragen, Bruder Toni!‹ Ich will verdammt sein, wenn ich nicht beinah platze vor Lachen. ›So‹, sag' ich, ›komm, laß uns mal »Die Ilexbeeren« sehen, Bruder William John, es ist das beste Stück, das sie in London geben und so 'n richtiges Winterstück‹. ›Wird da 'n Schuft aufgehängt in dem Stück?‹ fragt er. ›Gewiß,‹ ich lass' ihn das einfach glauben, und er – ha, ha – der alte Bauer weicht nicht von sein'n Stuhl; wie so 'n Richter, so feierlich sitzt er da, bloß um nicht zu verpassen, wie der Galgen auf die Bühne kommt.«

Ein Gedanke durchzuckte Algernons Geist. Es war offenes Geheimnis unter den jungen Leuten, welche dazu beitrugen, den Wohlstand von Boynes Bank zu fördern, daß der alte Kassenbote – ›der alte Ant‹, wie sie ihn nannten – Geld besaß und nicht abgeneigt war, gelegentlich kleine Summen gegen gewisse Interessen zu verleihen. Algernon bemerkte so nebenher, daß er seine Börse zu Hause vergessen hätte und »übrigens,« sagte er, »haben Sie vielleicht zufällig ein paar Sovereigns in der Tasche?«

»Was? In dem Gedränge, Herr?« Anton verneinte die Frage aufs bestimmteste mit einem Hinweis auf seine allgemeine Lebensklugheit.

Algernon wurde dringender, schließlich sagte er: »Na, haben Sie wenigstens einen bei sich?«

»Ich glaube kaum, daß ich so 'n leichtsinniger Narr gewesen sein sollte,« sagte Anton, indem er langsam an seiner ganzen Person herumfühlte und dabei etwas von allerhand Veränderungen murmelte, die möglicherweise in den Docks mit ihm vorgegangen sein könnten.

»Verflucht, ich hab' gar nicht zu Mittag gegessen!« rief Algernon aus, um die Sache etwas ins Rollen zu bringen, aber daraufhin sah Anton ihn mit einem wunderlichen Blick an: »Was haben Sie denn gemacht, Herr?«

»Sehen Sie nicht, daß ich in Diner-Toilette bin? Ich hatte eine Verabredung, mit einem Freunde zu essen. Er hat sie nicht innegehalten. Und nun merke ich, daß ich mein Portemonnaie in meinem andern Anzug hab' stecken lassen.«

»Das 'ne schlechte Angewohnheit, Herr,« bemerkte Anton, »denn scheinen Sie sich aus Ihrer Börse nicht viel zu machen.«

»Ich nicht aus meiner Börse? Teufel noch mal!« warf Algernon ein.

»Sie hätten sie doch fühlen müssen oder hören müssen, wenn da irgendwas Gewichtiges drin gewesen wäre,« blieb Anton bei.

»Wie wollen Sie denn Papier hören?«

»Aha, Papier, das 's' 'n ander Ding! Papiere, die hat man im Sinn, was? Pfundnoten vergessen? Pfundnoten im Portemonnaie lassen? Und Sie sind Sir Williams Neffe, Herr, der Sie in seinem Bankgeschäft arbeiten und alles, was Ihnen durch die Finger geht, aufschreiben läßt, in 'n Buch, so daß da gar nichts vergessen werden kann, und sollten Sie doch was vergessen, wollte er Sie wohl daran erinnern, und dann kann man seine Kleider so oft wechseln, wie man will, dann braucht man keine Angst zu haben, auch nur einen Pfennig zu verlieren!«

Algernon zuckte ärgerlich die Achseln und wollte gerade den Alten als einen hoffnungslosen Fall aufgeben, als Antons Stimmung plötzlich umschlug. »Ach, übrigens, Herr, meinetwegen können Sie kriegen, was ich bei mir hab'. Heut' will ich mich bloß amüsieren. Ich pfeif auf die Geschäfte!«

Die Summe von zwanzig Schillingen wurde Algernon eingehändigt, nachdem er sich der peinlichen Notwendigkeit unterzogen hatte, in eine Schenke einzutreten und einen auf den Namen Anton Hackbutts lautenden Schuldschein für dreiundzwanzig (was die Zinsen mit inbegriff) zu unterzeichnen. Algernon widersetzte sich anfangs einer so unnötigen Formalität, aber Anton gab ihm die seinem Sinn zwar recht fernliegende Möglichkeit zu bedenken, daß er doch über Nacht sterben könne. So unterzeichnete er das Dokument, und bald saß er und futterte und trank seinen Wein. Nachdem das geschehen, nahm er einige hastige Züge Tabaks und kehrte alsdann zum Theater zurück in der Hoffnung, das dunkle Mädel, die Rhoda, vielleicht dort zu sehen, denn nachdem er gegessen hatte, war Antons Mitteilung hinsichtlich des Bauern und seiner Tochter sein Hauptgedanke, und eines jungen Mannes Hauptgedanke pflegt meist das treibende Agens seiner Handlungen zu sein.

Durch einen günstigen Zufall und mit Hilfe eines Trinkgelds erlangte er einen Vorderplatz, von welchem aus sich das Parterre ausgezeichnet übersehen ließ; dort schien alles völlig in die Betrachtung einer Weihnachtsszene versunken: Schnee, Eis, kahle Zweige, ein ödes Haus, eine vor Kälte bebende Frau, eins der Opfer der Männerwelt.

Die Briten sind ein gutes Publikum, das sich alles bieten läßt, solange Schlechtigkeit bestraft wird, und dafür boten die orakelhaften Aussprüche eines sich wiegenden, stämmigen Bühnen-Seemanns, dessen Nase (von seiner Offenheit in diesem Punkte ganz zu schweigen) ihn selbst seinen ärgsten Feind schalt, und dessen Hauptwitz, dank seiner steten Wiederholung, ungefähr des Publikums eigener Witz geworden war, alle Wahrscheinlichkeit; so oft er erschien, ging eine lebhafte Bewegung durch Parterre und Galerie, die sich erst wieder legte, wenn der ihnen vertraute Witz losgelassen war; darob erhob sich dann ein allgemeines Gelächter und ein beruhigendes Summen der Befriedigung.

Es war ein Stück, das sich eines großen Zulaufs erfreut hatte. Die Kritik hatte einst Protest dagegen eingelegt, indem sie behauptete, es bestehe nur aus Szenerie, einem Lied und einem dummen Gemengsel von Cokneytum, das sich anmaßte, witzig zu sein, in Wirklichkeit aber nichts weiter sei, als eine Form, das Publikum auf den Rücken zu klopfen. Aber das Publikum läßt sich ganz gern mal den Rücken klopfen, und die Kritik, durch das Medusenhaupt des Erfolges starr gemacht, hatte alsbald Mores zu lernen. Faktisch besteht die Kritik heutzutage ihrem eigentlichen Wesen nach überhaupt nicht, der Geschmack fürs Kitzeln und Klopfen ist allgemein und peremptorisch, alles Klassische appelliert an die geistigen Kräfte, und Leidenschaften, die über den Hausbedarf hinausgehen, sind veraltet. Es gibt Anführer der Legionen, aber Kritiker gibt es nicht. Die Masse ist Herrscher.

Und siehe, unser Freund, der Seemann, der nicht an Bord war, dessen Schritt so ebenmäßig ist, wie zwei einander begegnende Wellen, erscheint auf dem einsamen Moor und salzt jene unbewohnte Region mit nautischen Ausdrücken. Seine Beinkleider sind stellenweise eng, und er schlägt klatschend darauf. Es ist kalt: das mag ihm als Entschuldigung dafür dienen, daß er den funkelnden Himmelssphären den Boden seiner Flasche zeigt. Vielleicht nimmt er einen etwas kräftigeren Schluck des Getränkes, als einem offenbaren Werkzeug der Vorsehung ansteht, dessen Dienste jeden Augenblick in Anspruch genommen werden können, aber er teilt uns mit, daß sein Schiff niemals den rechten Kurs verfehlt hat, wenn's darauf ankam.

Er steht allein in der Welt, wie er uns ebenfalls mitteilt. Wenn sein einziger Freund, die erhobene Flasche, sich als sein Feind erweist, – nun gut, dann bleibt ihm nichts weiter übrig, als seinen Feind als Freund behandeln. Dies sagte er mit einer feierlichen Anspielung auf seine angeborene Sparsamkeit, der Beifall gezollt wurde, und mit der Bemerkung: »Ist das nicht christlich?« was ein ganz klein wenig riskant war; daher sicherte er sich schleunigst die Gunst des Parterres und der Galerie durch einen überraschend boshaften Ausfall gegen die Bischöfe unserer Kirche, welche – unleugbar – sich nur einer geringen Hochachtung bei der Menge erfreuen, – keiner weiß recht, warum – und es sich gefallen lassen müssen, gelegentlich als Sühnopfer dienen zu müssen.

Dieser gute Seemann stand nicht immer allein in der Welt: Ein süßes Mädchen, das er beschreibt, als hätte es ihm bis zur Kniescheibe gereicht, und von dem er in heiligstem Ernst meint, sie sei immer noch von gleicher Höhe, nannte ihn voreinst Bruder Jakob. Ach, nur einmal diesen Namen wieder von ihren Lippen zu hören und ein besonderes Lied! – er versuchte es auf eine drollige Art, die trotz alledem etwas Rührendes hat.

Horch! Ist das ein Echo von einem Geist aus den oberen Höhen?

Das Lied zitterte mit einem Silberton bis in die äußersten Winkel des Hauses.

In diesem Augenblick wurde die atemlose Stille der Zuhörerschaft dadurch in Aufregung verwandelt, daß aus dem Parterre der Ruf: »Dahlia« ertönte.

Algernon hatte unter den dicht aneinander gedrängten Gesichtern nach Rhoda gesucht. Da stand Rhoda hoch aufgerichtet, zwischen dem immer mehr anschwellenden Zischen und Rufen. Ihre Augen waren auf eine spezielle Loge gerichtet, vor welche mit heftiger Hand ein Vorhang gezogen wurde. »Meine Schwester!« mit angstvoller Stimme stieß sie es heraus und blieb mit gefalteten Händen und zusammengezogenen Augenbrauen stehen, immer auf den einen Fleck starrend, als wolle sie dorthin fliegen. Sie war in die Menge eingekeilt und vermochte sich nicht zu regen.

Man hatte einen Ausruf gehört, der von Bruder Jakob stammte, dessen Ausbruch brüderlichen Staunens und Entzückens danach abfiel, zum Ärger der Menge, die mit lebhafter Spannung an der Szene beteiligt war.

Johlende Ausrufe, sie sei wohl betrunken, sie sei wahrscheinlich für einen Abend aus dem Tollhause entsprungen, sie müsse geknebelt und hinausgeschmissen werden, wurden ringsum laut; sie aber stand da, wie ein Marmorbild, nur aus ihren Augen strahlte Leben. Der Bauer legte den Arm um seine Tochter, in dem Augenblick indessen, als Antons Kopf an ihrer anderen Seite auftauchte, veranlaßte der üble Ruf, den er sich während des Abends erworben hatte, einen allgemeinen Aufruhr, in welchen hinein es alsbald von der Galerie herab anfing zu jaulen und zu bellen, als mischten sich Hunde, die doch zu einem derartigen Lärm unbedingt dazu gehören, in denselben hinein. Algernon fürchtete Unannehmlichkeiten. Er verließ seinen Platz und eilte ins Foyer.

Kaum hatte er ein halb Dutzend Schritt gemacht, so prallte er mit jemand zusammen, und zwar wurden beide durch den Zusammenstoß mit Wasser begossen. Es war sein Vetter Edward, der ein Glas Wasser in der Hand trug.

Algernons Zorn beim Anblick des Beleidigers erhielt neue Nahrung durch das kalte Bad. Aber Edward schnitt ihm das Wort ab.

»Geh da hinein,« er wies auf eine der Logentüren, »eine Dame ist ohnmächtig geworden. Sei ihr behilflich, bis ich komme.«

Für irgendwelche Erklärungen blieb keine Zeit. Algernon trat in die Loge und befand sich allein mit einer leblosen Gestalt in einem blauen Burnus. Der Aufruhr im Theater tobte fort, das ganze Parterre war auf den Beinen und schrie durcheinander. Er versuchte den bleichen Kopf mit einem seiner Arme zu stützen, in einer jämmerlichen, hilflosen und ungeschickten Art, aber seine Besorgnis um Rhodas persönliche Sicherheit in dieser See tosenden Aufruhrs trieb ihn, den Vorhang ein wenig zur Seite zu ziehen, und so stand er frei da. Rhoda gewahrte ihn. Sie winkte ihm mit beiden Händen in stummer, flehentlicher Bitte zu. Augenblicklich schloß sich der Vorhang wieder zwischen ihnen beiden. Edwards hartes, bleiches Gesicht verfluchte ihn im stillen wegen seiner Torheit, während er sich umwandte, um Dahlias Lippen mit Wasser zu netzen und ihre Stirn damit zu besprengen.

»Was ist geschehen?« flüsterte Algernon.

»Wir müssen sie so schnell wie möglich hinaus schaffen. So sind die Weiber! Paß auf, sie kommt wieder zu sich.« Edward war, während er sprach, mit unbeweglichem Gesicht um sie beschäftigt.

»Wenn sie nicht bald so weit ist, kommt uns das ganze Parterre hier herein,« sagte Algernon. »Ist sie die Schwester von dem Mädchen da unten?«

»Laß doch dein verfluchtes Fragen!«

Dahlia schlug die Augen auf und sah starr gradeaus.

»So, nun kannst du aufstehen, Liebste. Es ist alles gut, Dahlia! Versuch's mal,« sagte Edward.

Sie seufzte und murmelte: »Wieviel ist die Uhr?« und dann: »Was ist das für ein Lärm?«

Edward räusperte sich in einem ärgerlichen Versuch zärtlich zu sein, er bedurfte seiner ganzen Willenskraft, um freundlich mit ihr zu sein, während er ihr half, wieder auf die Füße zu kommen. Seine Aufgabe war keine leichte inmitten des bedrohlichen Sturmes im Theater und der steten Rufe: »Zeigen Sie dem jungen Mädchen ihre Schwester!« denn Rhoda hatte innerhalb des menschlich fühlenden Publikums eine Partei gewonnen.

»Dahlia, um Gotteswillen, steh' mir bei!« rief Edward ihr ins Ohr.

Dem schönen Geschöpf schössen Tränen in die Augen, als wollte es damit seine Schwäche dartun. Doch hatte die Ärmste keinen eigenen Willen, so duldete sie es schweigend, daß sie, von den beiden jungen Leuten gestützt, aus der Loge hinausgeführt wurde.

»Lauf nach einer Droschke,« sagte Edward, und Algernon flog davon.

Als sie hinauskamen, erwartete er sie bereits mit einer. Sie setzten Dahlia sorglich hinein, und Edward schlang, indem er nachsprang, seinen Arm fest um sie. »Ich kann nicht weinen,« stöhnte sie.

Die Droschke rollte eben davon, als eine Menschenmenge aus den Türen des Parterres herausdrängte; Algernon hörte die heiser klingende Stimme Pächter Flemings. Er hatte Takt genug, sich zurückzuziehen.


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