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Kapitel X. Dahlia ist nicht sichtbar

Der alte Anton empfing sie in London. Es war jetzt Winter und die Saison für Theater; zu dem Vergnügungsprogramm für seine Gäste gehörte es ihm daher auch, seinem Schwager den Spaß einer Theateraufführung zu verschaffen, vorausgesetzt, daß Herr Fleming den Wink verstehen sollte, daß er die Ausgaben dafür selbst zu tragen habe.

Anton hatte es sich was kosten lassen, den Bauern bei sich willkommen zu heißen; er war verlegen und nervös, wie ein junges Mädchen, das dem Besuch eines vielversprechenden Jünglings entgegensieht, wenn er alles recht überdachte: seine fette Gans für das morgige Mittagsessen, seine Krabben für den heutigen Nachmittagsthee und sein Stück roten, scharfen Käses, den der Meiereiwarenhändler so nachlässig Cheshire-Käse nannte, zum Abendbrot.

Er sagte sich, daß der Bauer sowohl durch Rhoda, wie durch Dahlia gehört haben müsse, daß er keine hohe Stellung an Boynes Bank bekleidete, und es wurmte ihn, daß der geheimnisvolle Nimbus des Reichtums, der ihn in den Augen des Bauern umgab, und der ihn selbst mit einem so neuen Reiz prickelte, durch das, was derselbe nun wahrnehmen würde, erschüttert werden könnte.

Während seines letzten Besuches auf dem Hofe hatte Anton noch häufiger als gewöhnlich Andeutungen über die Fonds fallen lassen. Er hatte auf seine eigene Beteiligung an denselben angespielt, hatte Bemerkungen darüber fallen lassen, was er im Falle gewisser Eventualitäten tun oder nicht tun würde und hatte solcherart, in einer Art nebelhaften Glanzes und schattenartiger Unermeßlichkeit angedeutet, was er zu tun vermöge, im Falle sein Scharfsinn ihm zu dem oder jenem Wagnis riete. Der Bauer hatte es durch das fortwährende Schwirren seines unbestimmten Kummers hindurch gehört und nur durch Seufzer darauf geantwortet. »Daß du nur immer Arm in Arm mit mir gehst, Bruder William John,« hatte Anton gesagt, »wenn du in London bist, du könntest sonst zu leicht nach 'm Schein gehen. ›Gott,‹ sagt man wohl, ›was 's' das für 'n Tausendsassa, oder, das 's' doch ganz gewiß 'n Millionär!‹ Und dann gibt man seine Millionen und seine Tausende an die ganz Verkehrten, vielleicht gerad' an solche, die nich' 'n Pfennig haben. Wenn man da keinen Führer hat, denn steht einem ganz London auf 'n Kopf, aber einer, der damit Bescheid weiß, der zeigt einem so 'n alten, lumpigen, dreckigen Kerl, und der kauft dir den ganzen Rummel ab. Die Leute, die ihn nich' kennen, die sagen woll – kuck mal den! aber wer ihn kennt, na, ich kann dir sagen! ›Hut ab!‹ heißt es da! Und was so 'n Graf is', – ob der in die Stadt kommt oder nich', da fragen wir gar nichts nach, aber die haben's 'raus, wo sie Bargeld riechen! Vor mir hat schon mal 'n Graf den Hut abgenommen! Ganz gewiß! 'n richtiger Graf!«

Trotzdem Anton seinem bäuerlichen Verwandten die Warnung eingeprägt hatte, nicht nach dem Augenschein zu urteilen, hegte er fortwährend die Furcht, daß des Pächters Meinung über ihn und damit seine eigene intensive, fast überschwengliche Freude an dieser Meinung gefährdet sein könne. Als er die sorgfältigst ausgewählte fette Gans, die Krabben und den Käse gekauft hatte, fühlte er sich noch immer nicht mehr als halb befriedigt. Sein kühner Gedankenflug verstieg sich bis zu einer Flasche Wein, und er verwandte einen sommerhellen Abend zu einem Rundgange, um die Plakate der Weinhändler zu studieren und die billigste Flasche, die man kaufen könnte, herauszufinden. Und er würde eine gekauft haben – Siegellack besaß er selbst und hätte sie für seinen Zweck mit dem Bureaustempel von Boynes Bank zusiegeln können, um ihr einen ebenso würdevollen und kostspieligen Anstrich zu geben, wie ihn die prahlerischen roten und grünen Siegel auf den Plakaten hatten – er würde eine gekauft haben, wenn ihm nicht durch einen seiner glücklichen Geistesblitze die Möglichkeit aufgedämmert wäre, daß er es in der Hand habe, sich einen Auftrag zu einer Weinprobe in den Docks zu verschaffen, durch welchen man aus großen Six-penny-Gläsern so viel Wein, wie man Lust hatte, trinken und eine Sorte nach der andern ausprobieren konnte, während man die gaserleuchteten Gänge zwischen den enormen, weitbauchigen Weinfässern entlangschritt, die danach schrien, angezapft und probiert zu werden, damit die Menschen sie kennen lernten. Der Gedanke, zweiundeinenhalben Schilling für eine einzige elende Flasche zu bezahlen, verschwand angesichts dieser in den schönsten Farben leuchtenden Perspektive. »Das wird ihm 'n Begriff davon geben, was London is',« dachte Anton, und ein zweiter Gedanke raunte ihm zu, daß der Bauer, wenn er also voll süßen Weines wieder zur frischen Luft emporstiege, nicht klein von dem Manne würde denken können, dem der Zutritt zu diesen wunderbaren Kellern offen stand. »Weiß der Himmel, es ist wie in einem Märchenbuche,« rief Anton im Stillen und kicherte in sich hinein bei der Vorstellung, wie der Bauer staunen würde, – ja, er führte die ganze Geschichte auf, mit lebhaft gestikulierenden Armen, den Hut im Nacken, und unter sich immer wieder erneuernden, krampfhaften Lachanfällen.

Am Bahnhof empfing er seine Gäste. Mr. Fleming war sehr ehrbar gekleidet, in einem Kostüm, das für Antons in London geschärftes Auge etwas Kuriositätenhaftes an sich hatte, doch fiel ihm der breite Hutrand, der eckige Schnitt des braunen Rockes und die Gamaschen als äußerst respektabel und einer Vorstellung bei jedweder Londoner Bank durchaus würdig auf.

»Du bleibst sicher einem ledernen Geldbeutel treu, Bruder William John?« fragte er, mit einem künstlerischen Auge für Dinge, die miteinander im Einklang stehen.

»Jawohl,« sagte der Pächter, indem er den Knopf über seiner Börse behutsam befühlte.

»Schön; ich werd' dich doch nicht bitten, sie mir auf offener Straße zu zeigen,« fuhr Anton fort, während er Rhodas herabhängender Hand einen kleinen, verwandtschaftlichen Klaps gab.

»Freust dich, deinen alten Onkel mal wieder zu sehen, was?«

Rhoda erwiderte ruhig, gewiß täte sie das, aber hauptsächlich habe sie doch der Wunsch hergeführt, ihre Schwester zu sehen.

»Sieh mal an!« rief Anton, »ein Kompliment kriegt man doch aus der Deern nich' 'raus. Sie gibt einem 'ne Nuß, und denn kann man sie ja aufknacken, und ob da 'n Kern in sitzt oder nich', – das is' ihr ganz egal!«

»Aber da ist nicht viel drin,« stieß der Bauer hervor, indem seine Finger den Knopf fahren ließen, an dem sie sicherheitshalber herumhantiert hatten, seit Anton die Frage wegen der Börse gestellt hatte.

»Nicht viel? ach was, Bruder William John.« Anton sah sich etwas ratlos um, als wisse er nicht recht, was er aus dieser Bemerkung machen solle. »Nicht viel Gepäck, das seh' ich,« rief er aus, »ja, Gott sei Dank! keine Koffer. Aha, mein liebes Kind,« wandte er sich an Rhoda, »du entsinnst dich wohl noch der kleinen Lektion von damals, was? Nu' paß mal auf, siehst du, dafür will ich an dich denken. Weißt du was, mein Deern,« er sprach in gedämpften Flüsterton zu ihr, »der elende halbe Schilling damals, den mir der Droschkenkutscher ablassen mußte, – da lag der Hase im Pfeffer, der war für meine Konstitutschon mehr wert, als so 'ne olle Medizin. Der war für mich wie 'ne Lunge voll Seeluft, und denn hat man da noch nich' mal Ausgaben von. Ich könnt' mir rein noch einmal so was wünschen, bloß um mich mal wieder so jung zu fühlen, wenn ich mich so recht schön fest hingestellt hab', um so loszugehen auf – 'n Droschkenkutscher. Ah, als ich jung war, da könnt' ich sogar 'n billigen Jakob auf 'n Markt mundtot kriegen. Zirkulatschon, die is' wie 's Korn in 'n Stroh. Darum mach' ich mir da auch gar nichts aus, so 'n Droschkenkutscher mal 'n büschen zu foppen, – 'n ganzen Tag sitzen die da und haben rein gar nichts zu sagen als ›Hüh‹ und ›Hott‹, und denn 's gut. Ob die Jungens man so losbrüllen, das is' mir ganz einerlei. Ich bin ja doch selber 'n Jung' gewesen. Ich hab' 'n Teufel in mir, aber sei man nich' bang', mit 'n Gesetz kriegt er schon nichts zu tun. Aber nun man los, die Herren kucken dich so an, das tut dir ja nich' gerad' weh, aber, weißt was? ich werd' da eifersüchtig von.«

Ehe die Gesellschaft den Perron verließ, entspann sich zwischen Anton und dem Pächter noch ein heftiger Zank darüber, wer den gewichtigen Reisesack tragen solle, aber da die Sache doch nur halb im Ernst war, verschwendete der Bauer nicht allzuviel Kraft daran und ließ Anton den Willen.

»Du hast dich wohl gewundert, Bruder William John,« sagte er, als sie auf der Straße waren.

Der Pächter gab zu, daß er kräftiger sei, als er aussähe.

»Geh man bloß nich' nach 'n Schein, das is' alles, was ich sag',« bemerkte Anton, während er den Sack niedersetzte, um den Finger an die Nase zu legen und dadurch seine Rede eindrucksvoller zu machen.

»So, nun lassen wir London Bridge rechts liegen und schwenken links 'um, das 's' 'ne ruhigere Gegend.« Er faßte den Sack aufs neue. »Hör' bloß mal! das, was man da hört, das is' das Rollen von ganzen Lawinen von Gold, Bruder William John. Ganz feines Bild, was? Hör' bloß mal! Ich hab' das Bild aus so 'n Penny-Blatt; für 'n Penny, ach, da kauft man heutzutage alles mögliche. Poesie unterm Strich und Erzählungen, Verführungsgeschichten, – da war ein Kerl, der hat sich mit seines Herrn Geld aus 'm Staube gemacht und is' nach Australien durchgegangen und hat Millionen verdient, als wenn er 'n Graf wäre, und doch – das Gesetz immer hinter ihm her. Alle immer mit 'n Hut ab vor ihm und verrenken sich beinah 'n Kopf mit Verbeugungen, – und wenn er bloß 'n Polizisten sieht, denn schuddern ihm die Knie so an'nander, – is' 'n Kerl gewesen mit 'n roten Gesicht, so 'n robusten, stämmigen Kerl, der gern was essen mochte und auch 'n Glas Wein trinken, aber weil er dann so mit einmal ganz weiß werden konnte, nannten ihn die Leute ›Siegellack und Pergament‹, – das war so ein Name, und ›Karotten und Zwiebeln‹, das war noch einer, oder ›Blumenkohl‹, und ich weiß nich' was und so allerhand. Und stell' dir mal vor, sein halbes Einkommen mußte er für Auszahlungen an Kerls verwenden, die ihn einfach aus seinem Stadthaus oder Landhaus hätten 'rausgraulen und in einem Nu ins Gefängnis hätten stecken können. Und zuletzt haben sie ihn doch gekriegt! So 'ne Geschichten, da hat man doch was zum Nachdenken an. Früher, da bin ich auch man so 'n junger Grünschnabel gewesen. Aber man kann sich wirklich 'n ganzen Berg nützliche Gedanken für 'n Penny kaufen. Ich hab's auch mal mit 'n Half-penny-Blatt versucht. Aber das Billigste ist nicht immer das Vorteilhafteste. Die Hauptsache is': Man muß Geld machen, und denn kann man sich nachher den ganzen Rest kaufen.«

Unter solchen Gesprächen und gelegentlichen Unterbrechungen dadurch, daß er des Bauern Bemühungen, ihm seinen Reisesack abzunehmen, mit der Bemerkung zurückwies, daß der Schein trüge, und daß er, so es seinem Schöpfer gefalle, noch ein Weilchen zu leben und ein gut Stückchen Geld beiseite zu legen hoffe, brachte Anton seine Gäste nach Mrs. Wicklows Haus. Mrs. Wicklow versprach, ihnen die beste Omnibuslinie zu Dahlias Wohnung im Südwesten anzugeben, und Marianne Wicklow, die im geheimen keinen glühenderen Wunsch hegte, als den, wenigstens die äußere Schale von ihrer Freundin neuem Glanz zu sehen, erbot sich in selbstlosester Weise, sie zu begleiten. Anton schärfte ihnen beim Abschied aufs nachdrücklichste ein, daß sie sich Punkt halb vier nachmittags an einer Straßenlaterne vor Boynes Bank treffen wollten.

»Grüßt Dahlia von mir,« sagte er. »Sie war immer einen guten Kopf größer, als ich. Sagt ihr, wenn sie mir mal in ihrer Karosse vorbeirollt, brauchte sie mich nicht weiter zu beachten. Ich hab' so meine eignen Ideen über den Wert der Menschen. Und wenn ihr Mr. Ayrton sein Geld vielleicht in Boynes Bank deponieren sollte, so werd' ich ihn nicht anders behandeln, als jeden andern Kunden. Dies hier ist das Mädel für mein Geld.« Er streichelte Rhodas Arm und empfahl sich.

Der Pächter machte ihr Vorwürfe über ihr kühles Wesen ihrem Onkel gegenüber und raunte ihr zu: »Du hast doch gehört, was er gesagt hat.« Rhoda war eiskalt in der Erwartung dessen, was vor ihr lag, und Andeutungen und Vorwürfe glitten an ihr herab, ohne daß sie ihrer gewahr wurde. Die Menschen, welche in den Omnibus stiegen, kamen ihr vor wie schattenhafte Phantome, die mit jedermann, den sie früher gekannt, Ähnlichkeit hätten, die Eine, Heißgeliebte ausgenommen, die sie nach langer Trennung jetzt wiedersehen sollte.

Sie empfand eine Art Mitleids dem Blödsinn gegenüber, der ohne irgendwelchen vernünftigen Grund die Straßen mit solchem Leben erfüllte. Als sie auf den Füßen stand, wurde es ihr zum erstenmal klar, daß sie ihrer Schwester, nach der es sie hungerte, wirklich näher komme, und es war ihr, als sei sie an einem fremden Gestade ans Land gestiegen. Währenddessen redete Marianne Wicklow, unbekümmert, ob ihr jemand zuhörte, ins Blaue hinein. Sie war sehr stolz darauf, daß sie es war, die Dahlias Straße zuerst entdeckt hatte.

Nicht um die Welt würde sie mit hineinkommen, sagte sie so nebenher, das fiele ihr gar nicht ein, irgendwo hinzugehen, wenn man sie nicht geradezu dringend dazu aufgefordert hätte.

Rhoda ging von ihr fort, um die Nummern der Villenstraße besser zu übersehen, sie stand auf dem Fahrdamm, damit ihr Herz unter all den anderen farblosen Wohnungen Dahlias Heim herauskennen möge. Sie entschied sich für ein bestimmtes Haus, aber es war ein Irrtum, und der Mut entsank ihr. Die hübsche Marianne forderte sie heraus und trug den Sieg über sie davon durch eine sorgsame Berechnung:

»Ich mach' meine Augen gut auf,« bemerkte sie, »Nummer 15 ist das Eckhaus, das Erkerfenster dort, ganz gewiß!«

Vor den Fenstern waren Gärten oder, besser ausgedrückt, schmale Streifen eines Gartenweges. Dicht vor der berankten eisernen Pforte, die zu Nr. 15 führte, hielt eine Droschke. Marianne trieb sie vorwärts, indem sie ihnen auseinandersetzte, sie könnten noch jetzt auf ein paar Dutzend Schritt Entfernung hin zu spät kommen, denn wenn Londoner Droschken auch im ganzen im Schneckengang kröchen, so könnten sie doch auf Verlangen, und wenn man sie dementsprechend bezahlte, wie der Blitz dahinsausen. Sie war kaum, einen Augenblick zurückgeblieben, als sie eine Illustration ihrer Behauptung erlebten, denn plötzlich sprang ein Herr quer über das Pflaster, warf sich in die Droschke und davon ging's, – für provinziale Augen scheinbar mit einer so zauberhaften Schnelligkeit, als handle es sich um ein pantomimisches Kunststück. Rhoda eilte unwillkürlich ihrem Vater voraus.

»Vielleicht war es ihr Mann,« dachte sie und zitterte. Die Vorhänge im Wohnzimmer bewegten sich, wie durch eine Hand, aber wo war Dahlias Gesicht? Dahlia wußte, daß sie kämen, – sah sie denn nicht nach ihnen aus? – das war alles so merkwürdig, daß Rhodas schwarze Brauen sich darüber so dicht zusammenzogen, daß es dem Mädchen welches die Tür öffnete, vorkam, als läge eine Drohung in ihrem Ausdruck. Sein: »Bitte sehr, Fräulein –« prallte zusammen mit Rhodas: »Meine Schwester, Mrs. – sie erwartet mich. Ich meine, Mrs. –«, aber Rhodas Lippen wollten keinen andern Namen formen als »Dahlia«.

»Ayrton,« sagte das Mädchen und dann fing sie noch einmal an: »O, bitte sehr, Fräulein, Sie sind wohl die junge Dame, es tut Mrs. Ayrton so leid, sie läßt sagen, ob Sie morgen nicht 'mal wiederkommen wollten, sie hätte eine sehr dringende Verabredung gehabt und hoffte sicher, Sie würden es entschuldigen, aber ihr Mann wollte durchaus, daß sie ginge, und es war nicht aufzuschieben, und es täte ihr so sehr leid, aber ob Sie vielleicht morgen um zwölf mal wieder vorkommen wollten? Dann wollte sie auch ganz pünktlich hier sein.«

Das Mädchen lächelte, wie jemand, der seine Lektion sehr korrekt aufgesagt hat. Rhoda war wie vom Blitz getroffen.

»Ist Mrs. Ayrton zu Hause? Nicht zu Hause?« fragte sie.

»Nein, hörst du denn nicht?« sagte der Bauer herb.

»Sie hat doch meinen Brief bekommen – wissen Sie das vielleicht?« Rhodas Augen ruhten flehend auf dem Mädchen.

»O ja, Fräulein. Einen Brief von auswärts.«

»Heute morgen?«

»Ja, Fräulein, heute morgen.«

»Und sie ist ausgegangen? Um welche Zeit ist sie weggegangen? Wann wird sie wohl wiederkommen?«

Ihr Vater zupfte sie am Kleid. »Laß doch das junge Mädchen ihren Lecks nicht noch einmal herbeten. Sie sagt doch, es ist keiner zu Haus, der uns sehen will. Was willst du sie denn noch länger aufhalten.«

»Morgen mittag um zwölf?« stammelte Rhoda.

»Ja, bitte, wenn Sie morgen mittag um zwölf mal wieder vorsprechen möchten, dann würde sie ganz pünktlich da sein,« sagte das Mädchen.

Der Bauer ließ den Kopf hängen und ging hinaus. Rhoda schritt ihm langsam nach durch den Garten. Miss Wicklow stürzte sich sofort mit Fragen und Ausrufen der Verwunderung auf sie, aber erst durch ihre Frage: »Sie sahen ihn doch wegfahren in der Droschke, nicht?« vermochte Rhoda irgendwelchen Sinn aus ihrem Geschwätz zu entnehmen.

War es Dahlias Mann, den sie gesehen hatte? Und wenn er es war, warum war denn Dahlia nicht mit ihm zusammen? In ihrem Herzen tönte die Frage, aber sie versuchte sie nicht zu beantworten, denn sie gestattete sich nicht das Aufsteigen irgendwelcher Zweifel. Der Farmer ging mit seinen schwerfälligen Bauernschritten, mit seinen wie unter einer Last gebeugten Schultern, mit seinem rotbackigen, ernsthaften Gesicht vorwärts, ohne ein Wort an Rhoda zu richten, die auch ihrerseits nach keinem Wort von ihm verlangte und ihn ungestört seinen Gedanken überließ. Marianne funktionierte als Steuermann und rief ihm von hinten zu, in welche Straßen er einzubiegen habe, während sie gegen Rhoda mit lauter Stimme erwog, was für Geschäfte es nur gewesen sein könnten, die Dahlia zu so ungelegener Zeit vom Hause weggeführt haben möchten. Mit einmal rief sie, sie wisse, um was es sich handeln werde, aber Rhoda drückte keinerlei Neugier aus. Marianne konnte nicht widerstehen, ihr allerlei Seltsames hinsichtlich gewisser notwendiger Einkäufe zuzuraunen. In diesem Augenblick schwenkte der Bauer seinen Regenschirm und rief eine Droschke an; Rhoda lief zu ihm hin:

»O, Vater, warum wollen wir denn fahren?«

»Ja, ja, ich sag's dir ja!« sagte der Bauer, indem er seinen Halskragen lockerte.

»Es ist aber doch so teuer, Vater, wir können doch gehen.«

»Ach was, teuer oder nicht, ist mir ganz egal. Ich will fahren«. Er schrie noch einmal nach einer Droschke, und es kam eine und nahm sie auf, worauf der Farmer, da ihm niemand weiter dreinsprach, wieder in seine frühere ernste Ruhe versank. Bei Boynes Bank ließ er halten. Anton paßte auf und bedeutete sie, einige Schritte vom Eingang entfernt, stehen zu bleiben. Etwa eine Viertelstunde mußten sie hier zwischen zwei Menschenströmen warten, die sie bald von der einen, bald von der andern Seite drängten, bis endlich die alte, breite, untersetzte Gestalt herauskam und mit kleinen, lächerlich gespreizten Schritten, den Kopf voran, die Arme über der ausgepolsterten Brust gekreuzt, an ihnen vorüberstürzte. Er hielt einen Moment inne, um zu sehen, daß sie ihm folgten, winkte ihnen mit seinem Kinn und ging dann in höchster Eilfertigkeit voran. Bewundernswert war sein Um-die-Ecke-biegen, sein Umgehen jeglichen Hindernisses, sein geschicktes Ausweichen vor jedem Passanten. Plötzlich verloren sie ihn aus den Augen und blieben verwirrt stehen, aber während sie noch überlegten, was zu tun sei, hörten sie seine Stimme. Er stand hoch über ihnen, da er eben zwischen zwei glänzend polierten, schwingenden Türen heraustrat, und er lachte und nickte, während er die Stufen herunterlief und machte ihnen allerhand Zeichen zu, um ihnen begreiflich zu machen, daß er einer Last ledig sei.

»Das hab' ich nun zwanzig Jahre meines Lebens getan, Bruder William John,« sagte er. »Ja, das ahntest du wohl nicht, daß ich 'n paar Tausend wert war, als ich eben von euch wegrannte? Da soll mal einer versuchen, mich aufzuhalten. Ebensogut kann er versuchen, 'n Eisenbahnzug aufzuhalten. Dampf dahinter und dann – los!«

Er lachte und wischte sich die Stirn. Ein bißchen ärgerlich über den geringen Eindruck, den seine Schilderung auf des Bauern Gesicht entdecken ließ, fuhr er fort:

»Du meinst, da wär' nichts Besonderes bei. Na, ich kann dir sagen, in Boynes Bank ist kein Zweiter, dem sie das anvertrauen würden. Dreißig Jahre haben sie mir solches Vertrauen geschenkt, warum sollten sie es nich' noch dreißig Jahre tun? Ein guter Ruf, Bruder William John, der is' wie Zinseszins, wie gutes Bargeld. Hast du nich' so was wie 'ne Art Hitze gefühlt, als ich an euch vorbeifegte? Ja, ja, das war 'ne Sache von ein – zwei – drei – vier« (Anton beobachtete den Bauer, während seine Stimme mit dem Steigen der Zahlen immer lauter anschwoll) »fünf – sechs – sechstausend Pfund, Bruder William John. Die Menschen müssen doch ein bißchen was auf einen geben, dem sie ungefähr jeden Tag, den sie leben, mit Ausnahme der Sonntage, so 'ne Summen anvertrauen. Was? Meinst das nich' auch?«

Er verweilte eine Zeitlang auf dem ungeheuren Vertrauen, das man in ihn setze, auf der fürchterlichen Versuchung, die solches Vertrauen manch einem sein würde, und wie die ihrem guten Stern dankbar sein könnten, daß solche Versuchung nie an sie heranträte, die ihm wahrhaftig gar nichts bedeute, aber auch rein gar nichts, – bis des Bauern Gesichtszüge plötzlich den Ausdruck herber Spannung verloren, denn in seinen Kopf fand ein Problem seine Lösung. Es stand ihm plötzlich ganz fest, daß Anton aus dem Grunde ein so außergewöhnliches Vertrauen genieße, weil die Chefs und die ersten Beamten von Boynes Bank wußten, daß der alte Mann selber ein ganz erkleckliches Sümmchen besitze; aller Wahrscheinlichkeit nach ruhte diese Summe als Sicherheit in ihren Gewölben, und so konnten sie ihn mit dergleichen Beträgen sorglos betrauen. Ja, mehr noch, man konnte sich schön vorstellen, daß der arglose alte Kerl, der sich selber für so gerissen hielt, ihnen all das Seine ohne den geringsten Argwohn, was ihr Hauptbeweggrund dabei sei, in die Hände lieferte.

Mr. Fleming sagte: » O ja, gewiß!«

Er sah förmlich schlau aus, als er über Antons Hut hinweg lächelte. Die gesunde Kombination seiner Verstandeskräfte hatte sein sorgenvolles Vaterherz etwas erleichtert,, und als er eine Bemerkung darüber fallen ließ, daß sie Dahlia nicht zu Hause getroffen hätten, geschah es mit einem gewissen Sondieren, welche Art der Entschuldigung sein Zuhörer für sie aufzubringen haben werde, indem er selbst ziemlich ungeschickt ein oder zwei Gründe ins Feld führte, als wollte er zeigen, daß er für jeden auch noch so kleinen Trost sehr empfänglich sei. »So, natürlich!« meinte Anton spöttisch. »Aus war sie? Na, ihr werdet überhaupt von Glück sagen können, wenn ihr sie die nächsten drei, vier Tage zu Haus trefft. Ach, Bruder William John!«

Halb erschreckt durch Antons bedauerndes Kopfschütteln, rief der Bauer aus: »Was ist denn los, Mensch?«

»Was würd' ich stolz sein, wenn du auf eine oder die andere Art mal was in Boynes Bank deponieren würdest!«

»Ach!« wehrte der Bauer seinerseits ab und vergrub das Kinn tief in sein Halstuch.

»Vielleicht wird es doch noch mal einer aus deiner Familie tun, Bruder William John.«

»Sehr wahrscheinlich, daß einer aus meiner Familie es tut, Bruder Anton!«

» Wird es tun, sagte ich, Bruder William John, wenn's 'n paar gute Deerns sind und nett, und anständig heiraten, – was?« und er drehte sich zu Rhoda um, die mit Mrs. Wicklow ging. »Warum sieht sie denn so trübselig aus, mein Deern? Trübselig muß man nie sein. Meinetwegen kannst du's gern deinem jungen Mann erzählen, wer's denn auch sein mag. Und ich möchte wohl, es wär' ein gewisser, stämmiger junger Kerl von sechs Fuß Höhe, auf den ich 'n Auge geworfen hab', 'n Landmann. Womit bebaut er sein Feld, damit bei dem Feldbau was herauskommt heutzutage? Jawoll, mit seinem Verstand bebaut er's! Das kannst du in meinem letzten Wochenblatt finden, Bruder William John, und als ich das so bei mir überleg', denk' ich – das sollt' so 'n Landmann lesen! Das kannst du jedem jungen Manne, den du Lust hast, gern sagen, mein Kind, daß dein alter Onkel dich gern leiden mag.«

Bei ihrer Rückkehr empfing Mrs. Wicklow sie mit einem Brief in der Hand. Er war von Dahlia an Rhoda und sagte, daß Dahlia von ganzem Herzen betrübt sei, ihren lieben Vater und ihre süße Schwester verfehlt zu haben. Aber ihr Mann habe darauf bestanden, daß sie ausgehen müsse, um einige spezielle Einkäufe zu machen und ein Dutzend Sachen zu bestellen; und es täte ihm außerordentlich leid, daß er sie hätte mitnehmen müssen, aber sie hoffe, ihre liebe Schwester und ihren Vater sehr, sehr bald zu sehen. Sie wünschte, sie wäre Herrin ihrer Zeit, dann käme sie sicherlich gleich zu ihnen gelaufen, aber die Männer verlangten so furchtbar viel von ihren Frauen, daß sie nie auch nur über fünf Minuten frei verfügen könne. Sie würde sie dringend bitten, morgen zu kommen, wenn sie nicht gerade den Tag in ihre neue Wohnung übersiedeln wollten. »Aber o, meine liebe angebetete Rhoda,« schloß der Brief, »nur halte in Deinem Herzen ganz daran fest, daß ich dich so sehr liebe, und bete, daß wir einander bald wiedersehen mögen, wie solches bei Tag und bei Nacht auch mein Gebet ist. Bitte Vater, hier zu bleiben, bis wir uns treffen können. Bald wird sich alles machen lassen. Es kann gar nicht anders sein. 0, o, meine geliebte Rhoda, wie hübsch du geworden bist. Es ist ja eine Zeitlang ganz nett, blond zu sein, aber die Brünetten sind doch glücklicher dran. Ihre Schönheit hält sich besser, und wenn wir Blonden viel weinen oder dünne werden, o, wie sehen wir dann aus!«

Es folgten noch einige zärtliche Abschiedsworte aber keinerlei weitere Erklärungen.

Wiederum sammelten sich Falten auf des Bauern milder, meist zufriedener Stirn.

Rhoda sagte: »Laß uns warten, Vater.«

Als sie allein war, drückte sie den Brief an ihr Herz, als wollte sie seinen geheimsten Sinn erforschen. Aber jegliches Nachgrübeln war nutzlos; nur das eine wollte ihr nicht aus dem Sinn: wie wußte ihre Schwester, daß sie sehr hübsch geworden sei? Vielleicht hatte das Hausmädchen geplaudert.


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