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Zwanzigstes Kapitel.

Still war es geworden in Langensalza nach den Tagen des Sturmes und der Aufregung. Die hannöverische Armee war aufgelöst und in die Heimat gezogen, die preußischen Truppen waren weiter gerückt nach Süden und Westen den übrigen Feinden entgegen, und die kleine Stadt Langensalza war äußerlich wieder so still und bewegungslos geworden, wie sie es so lange Jahre vorher gewesen war, bis die Fügung des Geschickes sie zum Schauplatz so blutiger Ereignisse machte.

Lagen aber auch äußerlich die Straßen wieder ruhig und eintönig wie vordem da im heißen Sonnenschein des Hochsommers, so bewegte sich doch im Innern der Häuser ein stilles Leben der unermüdlichen Liebe und Barmherzigkeit, jene Liebe und Barmherzigkeit, welche nach den furchtbaren Wettern der Kriege reicher denn je emporsprießt und ein schönes Zeugniß ablegt für den ewigen und unlösbaren Zusammenhang des Menschenherzens mit dem Gott der unversiegbaren Liebe, der unerschöpflichen Barmherzigkeit.

Viele der schwerverwundeten Preußen und Hannoveraner hatten nicht fortgeschafft werden können und zahlreiche Lazarethe waren eingerichtet, alle Privathäuser hatten sich geöffnet für die Aufnahme der armen Opfer des Krieges, und aus Preußen und Hannover waren außer den barmherzigen Schwestern und Diakonissinnen die Angehörigen der Verwundeten zahlreich herbeigekommen, um selbstthätig die Pflege ihrer Lieben zu übernehmen. Wenn nach der sinkenden Sonne eine leichte Kühlung die dunkelnde Luft durchzog, dann sah man Frauen und Mädchen in dunkeln, einfachen Toiletten mit ernsten Gesichtern schweigend durch die Straßen eilen zu einem kurzen Gang in's Freie, um in der frischen Luft neue Kraft zu suchen für das anstrengende Werk liebevoller Aufopferung, und mit Theilnahme und stillem Mitgefühl folgten ihnen die Blicke der Einwohner, welche vor den Thüren saßen nach der Arbeit des Tages und sich in flüsterndem Gespräch ihre Bemerkungen mittheilten bald über diese, bald über jene Gruppe der Vorübergehenden.

Frau von Wendenstein war mit ihrer Tochter und Helene freundlich aufgenommen im Hause des alten Lohmeier, und Margarethe hatte den Damen zwei Zimmer des wohlhabenden Bürgerhauses so freundlich und behaglich eingerichtet, als sie es vermochte, während der Kandidat in einem nahen Gasthause sein Unterkommen gefunden.

Zitternd vor banger Erwartung war Frau von Wendenstein an das Bett ihres Sohnes getreten, gewaltsam das krampfhafte Schluchzen unterdrückend, das sie zu ersticken drohte, ruhig und starr hatte der Lieutenant dagelegen, ohne ein Zeichen des Lebens außer dem leisen, regelmäßigen Athem.

Da hatte die Mutter seine Hand ergriffen, sich über ihn gebeugt und sanft einen Kuß auf seine Stirn gehaucht. Und der junge Mann hatte unter dem magnetischen Einfluß dieses Kusses von den mütterlichen Lippen langsam die Augen geöffnet, und mit großem leeren Blick um sich geschaut, – dann aber hatte ein freundlicher Strahl des Erkennens diese starren Augen belebt, ein bleiches Lächeln war über seine Lippen gezogen und in fast unmerkbarem Druck, der Mutter fühlbar, hatten seine Finger gezuckt.

Da war die alte Dame an der Seite des Bettes auf die Kniee gesunken, hatte das Haupt auf die Hand des Sohnes gelegt und schweigend, in stiller, wortloser Inbrunst hatte sie Gott angerufen um die Erhaltung dieses Lebens, das aus ihrem Blute entstanden war.

Hinter der alten Dame aber standen die beiden jungen Mädchen. Mit großen, brennenden Blicken hatte Helene das Bild dieses so schwach und gebrochen daliegenden Jünglings verschlungen, der so frisch und blühend von ihr gegangen war. Fräulein von Wendenstein hatte weinend ihre Augen mit dem Tuche bedeckt. Helenens Augen waren trocken und klar, ihre bleichen Züge starr und bewegungslos – mit gefalteten Händen stand sie da, ihre Lippen zitterten leise.

Des Lieutenants von Wendenstein weitgeöffnetes Auge erblickte die jungen Mädchen, als seine Mutter am Bette zu Boden sank. Ein leichter Glanz der Freude zog über sein Gesicht, es leuchtete auf in seinen Augen wie jubelndes Entzücken, seine Lippen öffneten sich leicht, – aber ein schwerer, röchelnder Athemzug drang aus dem Munde und ein leichter röthlicher Schaum erschien auf den Lippen. Seine Augenlider schlossen sich wieder und todtenblaß und starr lag das Gesicht da auf dem weißen Kissen.

Dann war der Arzt gekommen und hatte seinen bedingungsweisen Trost gebracht, – und es hatte eine Zeit begonnen der unermüdlichen Pflege, dieser stillen Arbeit, die so schwer ist in ihrer Einfachheit und auf der doch so viel Segen ruht, welche das Herz so mächtig emporzieht von dem Treiben der Erde zum ewigen Quell der Liebe, zu dem ewigen Herrn über Menschenleben und Menschenschicksal. Wie ist es so leicht, im weichen Lehnstuhl zu sitzen, um den Schlaf eines Kranken zu bewachen! wie ist die Mühe so gering, einen kühlenden Umschlag auf eine Wunde zu legen, einen stärkenden Trank, eine beruhigende Arznei den Lippen einzuflößen, – ein Kissen zu lockern und aufzurichten!

Aber wer wägt die Schwere der Angst und der bangen Spannung, mit der der Blick des liebenden Auges an jedem Zucken der Wimpern, an jedem Beben der Lippen, an jedem Hauch des Athems hängt! Von einer Minute Schlaf, von einer übersehenen Verordnung kann ja das Leben des Kranken abhängen. O wie werden sie da groß in den stillen Nächten diese kleinen, nichtsbedeutenden Handreichungen, mit wie schwerem, langsamen Fall rollen sie hinab die sonst so flüchtigen Sekunden in das unerfüllbare Meer der Ewigkeit, wie klein und farblos wird alles treibende und schimmernde Drängen da draußen außerhalb des stillen Krankenzimmers vor der heiligen Arbeit, ein Menschenleben zu erhalten und die Hand der kalten Parze mit der unerbittlichen Scheere von dem zarten Faden abzuwenden, an dem so viel Glück und Hoffnung, so viel Liebe und Freude, so viel Arbeit und Ernte hängt!

Und wenn dann die Genesung leise, leise herantritt an das Schmerzenslager, wie eine zarte Frühlingsblume schüchtern das Haupt erhebend, immer bedroht von der rauhen Hand des winterlichen Todes, der ungern und zögernd sein Reich aufgibt und mit seinen kalten Flocken die Blüte ersticken möchte, welche die pflegende Hand Tag und Nacht mit unermüdlicher Sorge behütet, – wie beugt sich da das menschliche Herz in demüthiger Ergebung vor dem Allmächtigen, in dessen Hand das menschliche Leben ein Hauch ist, den der Augenblick verwehen kann, und der doch dieses Leben so sorgsam hütet und es mit so gewaltiger Kraft und so reichem Schmuck ausstattet! Wie gering erscheint da menschliches Wollen und Vermögen, – wie lernt da das Herz so ergebungsvoll beten: »Herr, nicht mein, sondern Dein Wille geschehe!« – wie hebt sich da aber auch die Seele so vertrauensvoll und gläubig empor zu dem Vater über den Sternen, der da spricht: »Bittet, so wird euch gegeben!«

Durch all' diese stillen Wege des innern Lebens war Frau von Wendenstein hindurchgegangen am Bette ihres Sohnes; bangend und hoffend, zagend und vertrauend, hatte sie in immer gleicher äußerer Ruhe die einförmige, gleichmäßige Arbeit der Pflege gethan, unterstützt von den jungen Mädchen, und Helene hatte in bleicher, stiller Ruhe ihren Theil der Arbeit gethan, ihre großen Augen blickten träumerisch vor sich hin und suchten mit ängstlicher Schärfe jeden Zug auf dem Gesicht des Kranken zu erspähen.

Und die Hoffnung war gekommen und hatte alle diese Herzen erfrischt und gestärkt, – der Kranke hatte das erste Wundfieber überwunden, – die Kugel war glücklich herausgezogen, es war nur noch eine Krisis zu überstehen, die Lösung des geronnenen Blutes, welches die Tiefe der Wunde erfüllte, und dann die Stärkung des schwer erschütterten Nervensystems.

Die tiefste und unbedingteste Ruhe hatte der Arzt zur Bedingung gemacht, kein lauter Ton durfte in der Nähe des Kranken erschallen, auf keine Frage durfte ihm geantwortet werden, und nur das Lächeln der Lippen, der freundliche Blick der Augen durften die Sprache bilden zwischen dem Leidenden und seinen Pflegerinnen.

Und wie lebhaft war diese Sprache!

Welch' ein reines, warmes Licht ergoß sich aus den Blicken Helenens, wenn sie auf dem bleichen Gesicht des Schlafenden ruhten, wie hingen diese Blicke besorgt an jedem Athemzuge, wie richteten sie sich dankerfüllt nach Oben, wenn diese Athemzüge in gleichmäßiger, sanfter Ruhe sich folgten!

Und wenn dann der Kranke die Augen aufschlug und diesen Blicken begegnete, wie leuchtend, wie strahlend in mattem, krankhaften Glanz sprachen diese Augen, – und wunderbar ist es, was ein Auge aussprechen kann, dieses so kleine Rund, welches doch das Firmament mit seinen Sternen, die ewigen Berge und das unendliche Meer umfaßt und zurückstrahlt; was das scharf begrenzte, in feste Form geschlossene Wort nicht sagen kann, was zwischen den Versen der blühendsten Dichtung unausgesprochen bleiben muß das Alles sagt das Auge in so feiner Nüancirung, in so unmittelbar verständnißvollem Ausdruck; und vor Allem das kranke Auge, das lichter und durchsichtiger wird, weil es den wechselnden und verwirrenden Bildern der Welt fern bleibt, das reiner und klarer der still in sich selbst zurückgezogenen Seele sich öffnet.

Wenn das Auge des kranken Offiziers so auf dem jungen Mädchen ruhte und in seiner tiefen Beredsamkeit eine ganze Geschichte voll Poesie erzählte, von Erinnerungen der Vergangenheit, von hoffnungsreichen Träumen für die Zukunft, dann senkte sich ihr Blick und eine leichte Röthe zog über ihre Stirn. Und doch mußte auch sie das Auge wieder heben und durch leichten Thränenschleier schimmerte die Antwort ihres Herzens zurück.

Dann hatte er einmal, als Helene ihm einen kühlenden Trank gereicht, seine weiße magere Hand mit den dunkelblau schimmernden Adern ihr entgegengestreckt – sie hatte die ihre hineingelegt und er hatte sie innig umschlossen und lange gehalten, und dabei hatte sein Auge so wunderbar dankend, fragend und sehnend auf ihr geruht, daß sie, mit Purpur übergossen, ihre Hand zurückgezogen, – aber ihr Blick hatte geantwortet und lächelnd hatte er die Augen geschlossen – den wachen Traum sanft hinüber nehmend in den leichten und ruhigen Schlummer.

Und seitdem hatte er öfter mit bittendem Blick ihr die Hand gereicht und sie hatte sie ihm gegeben, – und dann hatte er diese Hand sanft an seine Lippen gezogen und mit dem heißen Athem der Krankheit einen Kuß darauf gehaucht, und sie hatte wieder zitternd die Hand zurückgezogen und wieder hatten ihre Augen sich dennoch zu ihm erhoben und ein glückliches Lächeln auf seinen Lippen erscheinen lassen. Und immer reicher und verständnißvoller war die stumme Sprache geworden zwischen ihnen, und oft hatte er die Lippen öffnen wollen, um mit dem Flüstern seiner matten Stimme die Sprache der Augen zu unterstützen, – aber mit süßem Lächeln hatte sie den Finger auf ihre Lippen gelegt und sein Mund war stumm geblieben. Endlich aber hatte dieser Mund sich doch geöffnet, als sie an seinem Lager saß, und leise flüsternd hatte er nichts gesagt, als: »liebe Helene!«

Da hatte sie ihm in schneller Bewegung und mit leuchtendem Blick die Hand gereicht und sie nicht zurückgezogen, als er sie an seine Lippen führte und lange und innig an seinen Mund drückte.

Frau von Wendenstein hatte sie wohl gesehen, diese stumme Sprache, und sie hatte sie auch verstanden – denn welche Frau versteht sie nicht, und welcher Mutter entgeht es, wenn das Herz eines geliebten Sohnes sich in zarter Regung Derjenigen zuwendet, die in den Kämpfen des männlichen Lebens das weibliche Liebeswerk fortführen soll, welches die Mutter in der stillen Entwicklung der Kindheit begonnen, dieses Werk der mildernden, tröstenden, sänftigenden und versöhnenden Liebe, ohne welche die männliche Kraft hart und unfruchtbar bleibt, ohne welche dem männlichen Streben die Weihe und Verklärung der Anmuth fehlt?

In diesem Nachdenken hatte sie oft dagesessen gegenüber dieser Begegnung der zwei jungen Herzen, – ob es ihr recht war, ob sie mit Freude oder Sorge Dem zusah, was sich vor ihren Augen entwickelte und worin einzugreifen ihr die Macht fehlte, das wäre schwer zu lesen gewesen in ihrem blassen, stets freundlichen und gleichmäßig ruhigen Gesicht, jedenfalls war ihr Herz tief bewegt beim Anblick dieser Liebesblüte, die da an dem Schmerzenslager ihres Sohnes sich erschloß, und als eines Tages der Kranke beide Arme ausstreckte, ihre Hand zugleich mit der Helenens ergriff und seine Blicke so liebevoll, so innig bittend von der Geliebten zur Mutter hinübergleiten ließ, da hatte sie stumm die Arme um Helene geschlungen und einen sanften Kuß auf ihre Stirn gedrückt, dann war ihre Tochter gekommen und hatte Helene zärtlich an ihr Herz geschlossen – und der Kranke hatte mit glückseligem Lächeln und verklärtem Blick, die blassen Hände über der Decke des Bettes gefaltet, dem zugesehen.

So hatte sich im stillen Krankenzimmer, ein reiches, ereignißvolles Leben vollzogen, ein Herzensbund war geschlossen, so rein, so zart, so duftig und so heilig, wie er sich kaum hätte gestalten können im rauschenden Leben, – es war kein Wort weiter über alles Das gewechselt, – aber Alle verstanden sich, – Alle wußten und fühlten, daß, was hier erwachsen war, an den Grenzmarken, welche das Leben von dem Tode scheiden, in der Stille der Einsamkeit, – daß das stark und mächtig hineinwachsen würde in das künftige Leben. So hatte Gott, während er in furchtbaren Wettern herniederstieg in die Weltgeschichte und in gewaltigem Ringen die Völker Deutschlands hinüberführte zu neuen Ordnungen – hier mit leiser und zarter Hand eingegriffen in das innere Leben der Menschenherzen, und was diese Herzen hier erlebt in schweigender innerlicher Empfindung, das blieb in ihnen für das künftige Leben eben so tief in unauslöschlichen Zügen eingeschrieben, als die Riesenschrift, mit welcher das ewige Urtheil Gottes in die Tafeln der Geschichte gegraben war. –

Fritz Deyke, mit seinen klaren, treuen und scharfen Augen, hatte nicht minder gesehen und verstanden, was da vorgegangen war am Krankenbett seines Lieutenants, – auch er hatte kein Wort darüber gesprochen, aber wohl hatte er sein Verständniß und seine volle Zufriedenheit ausgedrückt durch die ehrerbietige Aufmerksamkeit, die herzliche Theilnahme, mit welcher er die Tochter des Pfarrers umgab, und wenn er das junge Mädchen am Bette des Kranken sitzen sah, dann blickte er mit lächelndem Gesicht von dem Einen zum Andern und nickte freundlich und wie einem innern Gedanken zustimmend vor sich hin.

Seit die Damen angekommen waren, kam er nur ab und zu in das Krankenzimmer, Alles herbeibringend, was zur Pflege nöthig war, und nur Nachts ließ er es sich nicht nehmen, die letzten und schwersten Stunden der Wache zu thun, mit gutmüthiger Derbheit die Damen aus dem Zimmer des Verwundeten entfernend.

Aber unermüdlich eifrig war er gewesen, der hübschen Margarethe in allen ihren Besorgungen zu helfen, um das stille, einförmige Leben der Gäste des Hauses so angenehm als möglich zu gestalten und ihnen jede mögliche Behaglichkeit zu schaffen; dann hatte er sich dem alten Lohmeier fast unentbehrlich gemacht im Hofe, im Stall und im Garten, – überall mit geschickter Hand zugreifend und dem Alten manche Mühe erleichternd, manche Besorgung ganz abnehmend. Und am Abend saß er vor der Thüre mit dem Alten und seiner Tochter; zufrieden hörte der Vater, still lächelnd die Tochter zu, wenn der kräftige Sohn des Wendlandes, der den Soldatenrock längst wieder ausgezogen, von seiner Heimat erzählte; wohlgefällig nickte der Alte, wenn aus allen diesen Erzählungen immer klar hervorging, was der alte Deyke für ein wohlhabender Mann sein müsse und ein wie reicher Besitz einst seinem einzigen Sohn und Erben zufallen werde.

Der Kandidat kam täglich mehrmals zu den Damen, half in leiser und ruhiger Weise, so gut er konnte, bei der Pflege des Kranken und sprach der alten Dame in wohlgesetzten frommen Worten Trost zu. Er ging in allen Häusern aus und ein, wo Kranke und Verwundete lagen, brachte ihnen geistlichen Zuspruch und war unermüdlich thätig in der Einrichtung und Verwaltung der Lazarethe, so daß er sich bei den Bewohnern von Langensalza und bei allen Angehörigen der Verwundeten die allgemeine Sympathie und Anerkennung erwarb. Frau von Wendenstein war seines Lobes voll und zeigte dem jungen Geistlichen bei jeder Gelegenheit ihre achtungsvolle Dankbarkeit.

Helene hielt sich von ihrem Vetter in einer gewissen Entfernung und er suchte sich auch seinerseits ihr nicht weiter zu nähern, als es der tägliche Verkehr bedingte. Wohl ruhten seine Blicke oft mit einem eigentümlichen Ausdruck auf ihr, wohl zuckte zuweilen ein feindlicher, böser Strahl aus seinem scharfen Auge, wenn er das junge Mädchen am Bette des Verwundeten sitzen sah, wenn ihre ganze Seele in ihrem Blick lag und das Gefühl ihres Herzens warm aus ihren Zügen sprach, – aber kein Wort, keine Andeutung verrieth, daß er bemerkte, was hier in der Stille und Einsamkeit sich entwickelt hatte.

An einem späten Nachmittage der letzten Julilage saß Frau von Wendenstein mit ihrer Tochter in ihrem Zimmer, dessen Fenster weit geöffnet waren, um die kühlere Luft des herabsinkenden Abends hineinströmen zu lassen. Die Thüre zum Zimmer des Kranken war geöffnet, Helene saß an seinem Bette, mit sorgender Aufmerksamkeit den ruhigen Schlummer bewachend, in dem er dalag, den lächelnden Ausdruck stillen Glückes auf den bleichen Zügen.

Bei den Damen in ihrem Zimmer saß der Kandidat in seinem gleichmäßig unveränderten schwarzen Anzug, die weiße Kravatte in blendender Reinheit sorgfältig um den Hals geschlungen, die Haare glatt gescheitelt an den Schläfen anliegend.

Er sprach mit leiser Stimme und erzählte Frau von Wendenstein von den andern Verwundeten, die er heute besucht.

»Es ist ein schöner Beruf, den Sie gewählt haben,« sagte die alte Dame mit einem freundlichen Blick auf den jungen Geistlichen, – »in solchen Zeiten besonders muß es eine herrliche Befriedigung geben, den Leidenden den Trost des göttlichen Wortes zu bringen und unter den Leiden des Körpers die Seele aufzurichten und zu erquicken.«

»Gerade in solchen Zeiten aber,« sagte der Kandidat in demüthigem Ton und die Augen zu Boden schlagend, »fühlt man doppelt, welch' ein unwürdiges Werkzeug man ist in der Hand der Vorsehung – wenn ich zu den Leidenden spreche, welche schon der Ewigkeit die Hand reichen und schon den Glanz der jenseitigen Welt erblicken, – dann frage ich mich oft, ob ich es werth bin, zu ihnen im Namen des Herrn zu reden, und möchte fast verzagen vor dem Gewicht meines Berufs. – Aber,« fuhr er fort, leicht die Hände in einander fallend, – »auch dem unwürdigen Werkzeug gibt die ewige Kraft des göttlichen Wortes die Macht, Großes zu wirken, – und mit hoher Freude kann ich sagen, daß ich manches Herz, das im Leben leichtfertig der Welt angehörte, an den Pforten der Ewigkeit dem Glauben geöffnet, dem Heil zugeführt habe.«

»Wie viele Familien werden Ihnen dankbar sein!« sagte Frau von Wendenstein mit warmem Ton, ihm die Hand reichend.

»Nicht mir soll man danken, sondern Dem, der in mir mächtig ist,« antwortete der Kandidat, das Haupt neigend mit leiser Stimme.

Und zugleich warf er von unten herauf einen raschen, stechenden Blick nach dem Krankenzimmer, aus welchem ein leichtes Geräusch vernehmbar war.

Leise war der alte Arzt dort eingetreten, hatte sich vorsichtig schreitend dem Bette genähert und beobachtete lange ruhig den schlafenden Kranken, dann beugte er sich über ihn, entfernte mit leichter Hand das Hemd und die Kompresse von der Wunde und beobachtete dieselbe aufmerksam.

Nach wenigen Augenblicken trat er in das Nebenzimmer zu den Damen.

Mit ängstlicher Spannung richtete Frau von Wendenstein ihren Blick auf ihn, – Helene war ihm gefolgt und blieb in der Thür stehen.

»Es geht Alles vortrefflich,« sagte der Arzt, freundlich zum Gruße das Haupt neigend, »und wenn ich auch noch nicht sagen kann, daß alle Gefahr beseitigt, so darf ich doch versichern, daß die Hoffnung auf einen vollständig glücklichen Ausgang mit jedem Tage größer wird.«

Frau von Wendenstein dankte mit gerührtem Blick für die gute Botschaft. Helenens Augen leuchteten in feuchtem Schimmer.

»Es ist nur noch einige Zeit der unbedingtesten Ruhe nöthig, jeder Reiz des schwer erschütterten Nervensystems kann zu hitzigem oder typhösem Fieber führen, das den schwachen Organismus zerstören würde. Die innern tiefen Theile der Wunde sind mit geronnenem Blut gefüllt, das langsam absorbirt und entfernt werden muß, jedes plötzliche Losreißen desselben durch irgend eine Erschütterung könnte tödtlich werden, – also, ich wiederhole, unerläßliche und erste Bedingung der Genesung ist die absoluteste Ruhe, – damit die Natur in ihrer eigenen jugendlichen Kraft sich selbst helfen kann. – Außerdem nichts weiter als leichte Kompressen auf die Wunde, die kühlende Arznei und Erhaltung der Kräfte durch die leichtesten stärkenden Nahrungsmittel. – Nun aber, meine Damen, muß ich auch über Sie meine ärztliche Autorität ausüben,« fuhr er fort, – »Sie sind so lange nicht an die Luft gekommen, es ist heute eine leichte Abkühlung draußen eingetreten, – Sie müssen in's Freie!«

Frau von Wendenstein blickte ihn zögernd an.

»Es ist ja für den Kranken nothwendig,« sagte der Doktor, »daß Sie Ihre Kräfte behalten, – was sollte aus ihm werden, wenn Sie auch krank würden! – ich muß wirklich auf einen ernstlichen Spaziergang dringen. Fritz kann ja so lange den Kranken behüten, der übrigens jetzt nichts bedarf, als Schlaf!«

»O, ich will hier bleiben,« rief Helene lebhaft, – doch schnell sich besinnend schwieg sie und blickte erröthend zur Erde.

»Ich bitte Sie, meine gnädige Frau,« sagte der Kandidat, »ruhig und unbesorgt die Vorschrift des Herrn Doktors zu befolgen, – ich werde bei dem Kranken bleiben – ich habe hier gelernt, was am Krankenbette zu thun ist, gehen Sie, Sie Alle bedürfen der Erholung!«

»Dann schnell vorwärts!« rief der Doktor, – »ich werde Sie selbst hinausführen zu einem schönen schattigen Weg – und Sie werden sehen, wie wohl Ihnen dieß wunderkräftige Arzneimittel thut, das in der großen Apotheke der Natur für Jedermann bereitet wird: die frische Luft.«

Frau von Wendenstein nahm ihren Hut und ihre Mantille, die jungen Mädchen folgten ihrem Beispiel. Helene warf einen langen Blick voll Sorge und Unruhe auf den Kranken, dann folgte sie zögernd den beiden anderen Damen und dem Arzte, welche das Zimmer verlassen hatten.

Der Kandidat hatte sie mir gesenkten Augen und einem milden Lächeln bis zur Thür begleitet.

Dann kehrte er zurück, trat in das Krankenzimmer und setzte sich in den am Bette stehenden Lehnstuhl.

Von seinem bleichen Gesicht verschwand das milde Lächeln, der wohlgeordnete Zug geistlicher Ruhe und gesammelter Würde. Sein halb geschlossenes und gesenktes Auge öffnete sich mehr und richtete sich mit einem stechenden Blick voll feindlichen Hasses auf den Kranken und seine dünnen Lippen preßten sich fest aufeinander.

Es war ein wunderbarer Kontrast zwischen dem verwundeten Offiziere, der da auf dem Lager hingestreckt lag in leisem Schlummer, dessen Gesicht mit den geschlossenen Augen das Bild süßer und reiner Träume wiederstrahlte, auf dessen Stirn ein Abglanz des Himmels eine verklärte Spur des göttlichen Odems lag, – und dem Mann, der in der Tracht des Geistlichen da vor ihm saß und dessen Angesicht vom häßlichsten Ausdruck irdisch niedriger Leidenschaft, dämonisch finstern Hasses erfüllt war.

Der Verwundete warf einigemal leicht den Kopf hin und her, als fühlte er die Last der unablässig auf ihm ruhenden Blicke des Kandidaten, dann öffnete er mit einem tiefen Seufzer die Augen und richtete sie mit freudigem Ausdruck auf den Platz, wo er das geliebte Bild verkörpert zu erblicken hoffte, das seine Träume erfüllt hatte. Mit großen, erstaunten, fast erschrockenen Blicken sah er an dieser Stelle den Geistlichen, dessen Gesicht bei dem Erwachen des Kranken urplötzlich wieder den gleichmäßig ruhigen Ausdruck annahm, während seine Augen sich senkten, um den feindlichen Strahl des Hasses zu verdecken, den die starke Willenskraft nicht sogleich verschwinden zu lassen im Stande war.

»Bedürfen Sie etwas, Herr von Wendenstein?« fragte der Kandidat mit leiser, sanfter Stimme, – »die Damen sind in's Freie gegangen und haben mich hier zurückgelassen, um für Sie zu sorgen.«

Der Kranke deutete mit dem leicht erhobenen Finger nach einem kleinen neben dem Bette stehenden Tischchen, ans welchem sich eine Krystallflasche mit frischem Wasser und ein kleines Arzneifläschchen mit rother Flüssigkeit befand.

Der Kandidat goß einige Tropfen dieser Arznei in ein Glas Wasser und flößte das Getränk dem Kranken, welcher mit einiger Mühe den Kopf etwas erhob, vorsichtig ein.

Die Augen des Verwundeten sagten so deutlich als Worte: »Ich danke.«

Der Kandidat setzte das Glas wieder auf den Tisch, faltete leicht die Hände übereinander und sprach, indem er die Augen niederschlug:

»Haben Sie, Herr von Wendenstein, wenn Ihr Körper nach irdischer Erquickung verlangt, auch wohl daran gedacht, daß Ihrer Seele eine geistliche Arznei noth thut, um sie zu erquicken und zu stärken an den Grenzen des Lebens, damit sie wohl vorbereitet und gerüstet sei, wenn es der Vorsehung gefallen sollte, sie abzurufen, um vor den Richter zu treten und strenge Rechenschaft zu geben?«

Die Augen des Verwundeten, welche sich nach dem wohlthuenden kühlen Trank halb wieder geschlossen hatten in schlummernder Müdigkeit, öffneten sich groß und weit und starrten den Kandidaten erstaunt und erschrocken an. Er war es gewohnt, daß man mit Blicken, mit Zeichen, mit leise geflüsterten einzelnen Worten zu ihm sprach, so daß seine müden Nerven zusammenzuckten, als er die ungewohnte Rede vernahm. Auch hatte die zarte, liebevolle Pflege, welche seine Krankheit hütete und die Keime der Genesung mit sorgsamer Hand bewachte, ihn so sehr umgeben mit den Bildern der Hoffnung, der Zuversicht auf ein neues, blühendes Leben der Zukunft, daß die so plötzlich und scharf an ihn herantretende Mahnung an den Tod, der seine Hand noch drohend über ihn hielt, ihn berührte wie der eiskalte Hauch eines geöffneten Grabgewölbes, in das man aus sonniger, blumenduftender Tageshelle eintritt. Ein leichter Schauer zuckte durch seinen Körper und er schüttelte in schwacher Bewegung den Kopf, wie um die plötzlich vor ihm heraufsteigenden finstern Bilder von sich zu weisen.

»Haben Sie daran gedacht,« fuhr der Kandidat mit allmälig erhöhter, scharfer, einschneidender Stimme fort, »wie Sie jene schwarze, furchtbare Stunde überwinden wollen, welche Ihnen vielleicht nahe bevorsteht, jene Stunde, in welcher die Seele unter krampfhaften Schauern sich losreißt vom erkaltenden Körper, – in welcher das Herz fahren lassen muß alle irdischen Freuden, alle irdische Hoffnung, um sie niederzulegen in die dunkle Tiefe des Grabes, in der der staubgeborene Leib wieder zum Staube werden muß, aus welchem er geformt ist?«

Der Verwundete öffnete weiter und größer seine Augen, ein fieberhafter Glanz glühte in ihnen auf und es lag eine flehende Bitte in dem Blick, mit welchem er den Kandidaten ansah.

Dieser schlug seine Augen auf und mit jenem elektrisch zitternden, fascinirenden Blick, mit welchem die Klapperschlange ihr Opfer versteinert, sah er den jungen Offizier starr an.

»Haben Sie,« fuhr der Kandidat fort, und seine scharfe Stimme drang eben so tief und schneidend in die Seele des Kranken, wie sein Blick in dessen immer entsetzter starrende Augen, – »haben Sie daran gedacht, daß Sie dann unter den Posaunentönen der Ewigkeit vor den Thron des eifrigen und strengen Richters treten müssen und Rechenschaft ablegen von Ihrem Leben hienieden, Ihrem Leben, dessen letzte Handlung der Mord und das Vergießen des Blutes Ihrer Brüder gewesen, in einem Kampfe, den das irdische Gesetz rechtfertigt, der aber vielleicht vor dem Urtheil der ewigen Gerechtigkeit als ein Frevel erscheint?«

Ein leichtes Zittern flog über die Züge des Verwundeten, immer fieberhafter wurde der Glanz seiner Blicke und seine Augenlider senkten und hoben sich in schneller, unwillkürlicher Bewegung.

»Der Himmel hat Ihnen große Gnade gegeben,« sprach der Kandidat weiter, »indem er Ihnen die Zeit läßt, auf Ihrem Krankenlager sich vorzubereiten für den Uebergang in die Ewigkeit, während so Viele plötzlich abgerufen werden in der Mitte der irdischen Unruhe. Haben Sie diese Zeit benutzt, haben Sie sich der Gnade würdig bewiesen? Haben Sie Ihren Sinn und Ihre Gedanken abgewendet vom Irdischen und hinaufgerichtet zur Ewigkeit? Haben nicht irdische Wünsche und Hoffnungen auch hier noch Ihr Herz bewegt? Geben Sie sich Rechenschaft über Ihr Leben und lassen Sie die Gnadenfrist nicht unbenützt!«

Allmälig hatte sich der Kandidat mehr und mehr vornüber gebeugt und aus fast unmittelbarer Nähe hefteten sich seine stechenden Blicke auf die Augen des Lieutenants, in denen die gewaltige Erschütterung der Nerven immer deutlicher sichtlich hervortrat. Die blassen Hände des Verwundeten zitterten bis in die Fingerspitzen, er erhob sie wie zu einer abwehrenden Bewegung und deutete dann aus den Tisch, indem er mit einem schwachen, mühsamen Athemzug sagte: »Wasser!«

Der Kandidat näherte seine in grünem Feuer sprühenden Augen noch mehr dem zuckenden Antlitz des Verwundeten, streckte die rechte Hand über dessen Haupt aus, während er die Fingerspitzen der linken ihm gegen das Herz erhob, und sprach mit gedämpfter Stimme, die wie ein fühlbarer Hauch aus seinen Lippen hervordrang:

»Denken Sie an die ewige Erquickung, denken Sie daran, sich würdig zu machen des Borns der Gnade, der allein die verzehrenden Flammen der ewigen Verdammniß kühlen kann, welche Ihrer wartet, wenn Sie die Gnadenfrist nicht benützen, um die irdischen Gedanken aus Ihrem Herzen zu reißen! Kurz vielleicht ist die Zeit, welche Ihnen noch zugemessen ist, und wenn Ihre Seele sich anklammert an das Vergängliche, so werden Sie dem Abgrund verfallen, der sich schon vor Ihnen öffnet!«

Ein leichter rother Schaum trat auf die Lippen des Kranken, seine Augen öffneten sich weit und brachen in einem zuckend umherirrenden Blick. Seine Finger streckten sich starr aus und der ganze Körper dehnte sich in konvulsivischer Bewegung.

Jetzt beugte sich der Geistliche fast ganz über den Kranken und unmittelbar in dessen Ohr drang seine heiser und rauh klingende Stimme:

»Der Abgrund öffnet sich – die Flammen des ewigen Pfuhls züngeln empor, herauf steigt der Weheruf der hoffnungslosen Qual, der Jammer der Verdammten, welcher das Ohr der Gnade nicht mehr erreicht; das Licht des Himmels erlischt, und hinabgerissen versinkt die Seele in die furchtbaren Schrecken, welche kein lebender Geist denken, kein lebendes Herz fühlen kann, – tiefer – tiefer – immer tiefer –«

Ein rasches, plötzliches Zucken durch flog den Körper des Verwundeten, ein röchelndes Aechzen drang aus seiner hochaufsteigenden Brust, seine Lippen öffneten sich, ein Strom schwarzen dicken Blutes quoll aus seinem Munde, Todtenblässe überzog sein Antlitz.

Der Kandidat schwieg – langsam erhob er sich, die Augen fest auf dieß im Todeskampfe zitternde Gesicht gerichtet, langsam zog er die Hände zurück und mit kaltem, eisigem Lächeln stand er da – ruhig und unbeweglich.

Leise öffnete sich die Thüre des Nebenzimmers, man hörte einen vorsichtigen, gedämpften Schritt.

Der Kandidat zuckte zusammen. Mit gewaltiger Anstrengung zwang er seine Züge zu dem gewohnten Ausdruck ruhiger, frommer Würde, faltete die Hände vor der Brust und wendete den Kopf zur Thüre.

Fritz Deyke erschien in derselben, leise den Kopf vorstreckend.

»Ah, Sie sind da, Herr Kandidat?« sagte er in flüsterndem Tone, »ich war im Stalle beschäftigt und hörte, die Damen seien ausgegangen, da wollte ich sehen, ob mein Lieutenant – Herr Gott im Himmel!« rief er plötzlich mit lautem Aufschrei an das Bett heranstürzend – »was ist hier vorgegangen – mein Lieutenant stirbt!«

Er ergriff die starre Hand des Kranken und beugte sich über den scheinbar leblosen Körper.

»Ich fürchte das Schlimmste!« sagte der Kandidat ruhig mit milder Stimme voll trauriger Theilnahme, »ein plötzlicher Krampf hat den armen jungen Mann ergriffen und ein Blutsturz scheint unseren Hoffnungen ein Ende gemacht zu haben. Es kam schnell und augenblicklich, wahrend ich ihn aufrichten wollte durch freundlichen Zuspruch und geistlichen Trost!«

»Mein Gott, mein Gott!« rief Fritz Deyke, »das ist ja entsetzlich, die arme Frau Mutter – Fräulein Helene –«

Und schnell zur Thür eilend riß er dieselbe auf und rief mit lauter Stimme und dem Ausdruck der Angst und Verzweiflung:

»Margarethe, Margarethe!«

Das junge Mädchen eilte auf diesen Ruf schnell die Treppe herauf, der Ton der Stimme, mit welchem Fritz ihren Namen gerufen, hatte den Ausdruck tiefen Schreckens auf ihrem Gesichte erscheinen lassen und mit ängstlichen Blicken erschien sie an der Thür des Krankenzimmers.

»Mein Lieutenant stirbt, um Gotteswillen suchen Sie schnell den Doktor!« rief Fritz Deyke ihr entgegen.

Margarethe warf einen flüchtigen Blick auf das Bett des Kranken, sah dessen bleiches Gesicht, das aus dem Munde hervorquellende Blut, und mit leichtem Aufschrei die Hände zusammenschlagend eilte sie die Treppe hinab.

Fritz Deyke kniete vor dem Bett und entfernte mit einem Tuche das Blut vom Munde des Kranken, indem er einmal über das andere rief: »Mein Gott, mein Gott, was wird die Frau Mutter sagen!«

Der Kandidat war in das Nebenzimmer gegangen und hatte seinen Hut ergriffen, dann in plötzlichem Entschluß stehen bleibend, hatte er einen Augenblick nachsinnend angehalten und hatte sich dann auf einen Sessel niedergesetzt, von wo aus er in das Krankenzimmer blicken konnte.

Margarethe war hinausgeeilt; sie kannte den Weg, den der Arzt mit den Damen eingeschlagen hatte, und eilte ihnen nach. Schon an den ersten Häusern der Stadt sah sie den Doktor, welcher die Damen bis zu einer schattigen Allee geführt hatte und sich von ihnen verabschieden wollte, um zu den Geschäften seiner Praxis nach der Stadt zurückzukehren.

Athemlos lief das junge Mädchen auf die Gruppe zu. Erstaunt blickte ihr der Arzt entgegen, Helenens Augen richteten sich mit angstvoller Spannung auf sie.

»Um Gotteswillen, Herr Doktor,« rief Margarethe, mühsam nach Luft ringend, um ihre Worte hervorbringen zu können, »ich glaube, ich fürchte, – der arme Lieutenant –«

»Was ist geschehen?« rief der Arzt erschrocken.

»Ich glaube, er ist todt!« stieß Margarethe hervor, – »kommen Sie schnell, schnell!«

Frau von Wendenstein ergriff den Arm des Arztes, wie um eine Stütze zu suchen, dann aber fuhr sie empor und ohne den Arm des Doktors fahren zu lassen, begann sie eilig und schweigend zu gehen, immer schneller, den Arzt mit sich fortreißend, welcher Margarethe nach den näheren Umständen der ihm unbegreiflichen Krisis befragte.

Allen voraus aber eilte Helene in fliegendem Schritt, kaum den Boden berührend. Einen einzigen Schrei hatte sie ausgestoßen, als Margarethe das entsetzliche Wort ihrer Botschaft aussprach, und dann war sie fortgeeilt, unaufhaltsam starren Blicks durch die Straßen, bis zum Hause des alten Lohmeier, die Treppen hinauffliegend, zum Zimmer des Kranken.

Sie hatte vor der Thüre einen Augenblick angehalten, tief aufseufzend und beide Hände vor die Brust pressend.

Dann öffnete sie diese Thür und bleich und stumm stand sie da, unverwandten Blickes das todtenblasse Gesicht des jungen Mannes betrachtend, vor dem Fritz Deyke kniete, vorsichtig das seinem Munde entquellende Blut mit weißen Tüchern entfernend.

Fritz Deyke erhob den Kopf und wendete sich um. Als er Helene da vor sich stehen sah, ein Bild der starren Verzweiflung, begriff er, daß dieser Schmerz größer und gewaltiger war, als der seinige. Langsam stand er auf und sprach mit tonloser, bebender Stimme:

»Ich glaube, der liebe Gott hat ihn gerufen, kommen Sie, Fräulein Helene, wenn ihn Jemand erwecken kann, sind Sie es!«

Und sanft ihre Hand ergreifend, führte er sie an das Bett.

Sie sank auf die Kniee, ergriff die Hand des Kranken und drückte die Lippen daran, mit warmem Hauch sie überströmend; thränenlos starrte ihr Blick empor zu seinem Antlitz und leise bewegte sich zuweilen ihr Mund in den flüsternden Worten: »O mein Gott, laß mich ihm folgen!«

So blieb die Gruppe in dem Zimmer fast unbeweglich einige Zeit. Helene niedergeworfen am Bett, Fritz Deyke daneben in tiefer Bewegung sie betrachtend und die immer wieder hervorquellenden Thränen mit der Hand trocknend – im Nebenzimmer saß der Kandidat, den Ausdruck inniger Theilnahme auf den Zügen, die Hände gefaltet und die Lippen bewegend wie zu leisem Gebet.

Dann kam der Arzt und die beiden Damen.

Frau von Wendenstein wollte heraneilen an das Bett des Kranken, aber mit Ernst, fast mit Rauhheit hielt der Doktor sie zurück.

»Hier kann Niemand helfen als ich,« sagte er streng und energisch, – »mir gehört der Kranke, – die Damen müssen das Zimmer verlassen – wenn Sie nöthig sind, werde ich rufen.«

Fritz Deyke drängte mit sanfter Gewalt Frau von Wendenstein und ihre Tochter in das Nebenzimmer, – Helene erhob sich ruhig und setzte sich auf einen entfernten Stuhl im Krankenzimmer.

Der Arzt trat an das Bett und prüfte sorgfältig das Gesicht des Verwundeten, untersuchte die Wunde und hielt lange die Hand an das Herz, aufmerksam auf die Uhr blickend.

Der Kandidat näherte sich Frau von Wendenstein, welche, das Gesicht mit den Händen bedeckend, auf einen Stuhl gesunken war.

»Fassen Sie sich, meine geehrte gnädige Frau,« sagte er mit sanftem Ton, »noch ist ja nicht alle Hoffnung verloren, und wenn es der Wille der Vorsehung ist, daß das Lebensziel Ihres Sohnes erreicht sei, so müssen Sie an die Vielen, Vielen denken, welche Gleiches und oft Schwereres zu erdulden haben.«

Frau von Wendenstein antwortete nur durch ein lautes Schluchzen.

Der alte Arzt trat jetzt zu den Damen. Kaum hatte er das Bett verlassen, so nahm Helene wieder an demselben Platz, abermals die Hand des Verwundeten ergreifend und mit dem Hauch ihres Mundes erwärmend.

»Es ist eine furchtbare Krisis,« sagte der Arzt, »deren Grund ich mir nicht erklären kann und welche leider wenig Hoffnung läßt. Man muß sich auf Alles gefaßt machen, – indeß noch schlägt das Herz, und so lange noch ein Funken Leben da ist, darf der Arzt nicht verzagen. Zu thun ist freilich fast nichts – hilft die Natur sich nicht selbst, so ist die Wissenschaft machtlos.

– Aber wie,« fuhr er fort, indem er sich zu dem Kandidaten wendete, »ist diese erschütternde Krisis gekommen? – Der Kranke war doch in der letzten Zeit vollkommen ruhig –«

»Er war es auch,« sagte der Kandidat, »als ich mich an sein Bett setzte, erwachte er aus tiefem Schlummer, ich flößte ihm sein Getränk ein und er schien sich ganz wohl zu befinden, – während ich mit freundlichen Worten seine Seele durch geistlichen Zuspruch zu erquicken versuchte, stellten sich konvulsivische Bewegungen und ein Blutsturz ein; Alles kam schnell und plötzlich.«

»Ganz recht, ganz recht,« sagte der Doktor – »was ich sanft und allmälig sich entwickeln lassen wollte, ist durch eine heftige Nervenkrisis urplötzlich vollzogen, – das in den Gefäßen angesammelte Blut hat sich gelöst. – Es ist kaum möglich, daß dieß geschehen ist, ohne etwas zu zerreißen, dazu die furchtbare Erschütterung der Nerven! – Haben Sie viel mit ihm gesprochen?« unterbrach er sich, den Kandidaten anblickend.

»Ich habe ihm gesagt,« erwiederte dieser, die Hände faltend, »was mein Beruf mir befiehlt, den Kranken zu sagen, – ob er es gehört oder verstanden, weiß ich nicht –«

»Verzeihen Sie mir, Herr Kandidat,« sagte der Doktor kopfschüttelnd mit brüskem Ton, – »ich gehöre nicht zu den Aerzten, welche der Religion fern stehen, und ich glaube von Herzen, daß alle Hülfe von Gott kommt, – aber hier wäre es wahrlich besser gewesen, den Kranken schlafen zu lassen –«

»Das geistliche Wort mit seiner wunderbaren Kraft ist überall an seinem Platz,« – erwiederte der Kandidat kalt in überlegenem Ton, indem er die Augen in frommem Aufschlag nach Oben richtete.

»Mein Gott, mein Gott,« rief Helene im Nebenzimmer mit lauter, halb erschrockener, halb jubelnder Stimme, »er lebt, – er erwacht!«

Alle eilten in das Krankenzimmer, der Arzt trat an das Kopfende des Bettes, während Helene knieend die Hand des Verwundeten an die Lippen drückte.

Der Lieutenant von Wendenstein hatte die Augen weit geöffnet, sein verwunderter Blick ging von Einem zum Andern und umfaßte mit dem Ausdruck des Erstaunens alle diese tief bewegten Gesichter.

»Was ist mir widerfahren?« fragte er mit leiser, aber völlig klarer Stimme, indem noch eine leichte Blutwelle aus seinen Lippen quoll, – »ich habe einen sehr schweren, bösen Traum gehabt, – ich dachte zu sterben!«

Und er schloß die Augen wieder.

Der Arzt hob die Kissen empor, welche das Haupt des Kranken stützten, nahm sanft seine Hand aus der Helenens und verfolgte aufmerksam den Pulsschlag.

»Ein Glas Wein!« rief er.

Fritz Deyke eilte hinaus und kehrte nach einigen Augenblicken mit einem Glase dunkelrothen alten Weins zurück.

Der Arzt näherte dasselbe den Lippen des Verwundeten. In durstigem, gierigem Zuge sog dieser die Flüssigkeit bis auf den letzten Tropfen ein.

In zitternder Spannung warteten Alle, Helenens Gesicht war marmorblaß, ihre Seele lag in ihren Augen.

Nach kurzer Zeit überzog sich das Gesicht des Kranken mit leichter Röthe, ein tiefer, langer Athemzug hob seine Brust und von Neuem schlug er die Augen auf.

Sein Blick fiel auf Helme und ein Lächeln flog über sein Gesicht.

»Athmen Sie tief auf!« sagte der Doktor.

Der Kranke that einen langen Athemzug.

»Haben Sie einen Schmerz dabei?«

Der junge Mann schüttelte langsam den Kopf, immer den Blick auf Helene gerichtet.

Der Doktor prüfte nochmals den Puls, legte die Hand an die Stirn des Kranken und horchte aufmerksam auf seine Athemzüge.

Dann trat er zu Frau von Wendenstein und sagte mit freundlichem Lächeln ihr die Hand reichend: »Die Natur hat die gewaltsame Krisis überstanden, – jetzt ist nur noch Ruhe und Stärkung nöthig, – danken Sie Gott – Ihr Sohn ist gerettet!«

Die alte Dame ging auf das Bett zu, drückte einen innigen, langen Kuß auf die Stirn des Kranken und sah ihm lange in die Augen.

Dann verließ sie das Zimmer, sank auf den Sopha im Nebengemach und die furchtbare Erregung, die lange, anstrengende Anspannung aller Kräfte ihrer Seele löste sich in einen Strom wohlthätiger Thränen.

Helene aber blieb am Bett sitzen, immer die Hand des Geliebten in der ihren haltend, immer ihre Blicke in die seinigen versenkend, ruhig, unbeweglich, den Glanz stillen Glückes auf dem bleichen Gesicht.

Der Kandidat stand noch immer da mit gefalteten Händen; ein unveränderliches mildes Lächeln auf seinen Lippen festhaltend, betrachtete er starren und unverwandten Blickes die Szene am Bett des Verwundeten.

Der Doktor hatte schweigend und nachdenklich ein Rezept geschrieben. Jetzt trat er mit dem Papierstreifen in der Hand zu den Uebrigen.

»Hievon muß der Kranke jede Stunde einen starken Löffel voll nehmen,« sagte er. »Hoffentlich wird er die Nacht ruhig schlafen, – morgen oder übermorgen werden wir mit kräftiger Ernährung beginnen und wenn Gott weiter hilft, wird bald Alles glücklich vorüber sein!«

Er wendete sich zum Kandidaten Behrmann.

»Verzeihen Sie mir,« sprach er ernst, »meine raschen Worte von vorhin! Sie hatten Recht, von der Wunderkraft des göttlichen Wortes zu sprechen, – denn hier hat Gott ein Wunder gethan, – unter hundert Fällen kaum einmal hätte eine solche Krisis glücklich verlaufen können. – Ich beuge mich vor diesem Wunder und blicke mit Ihnen voll Ehrfurcht und Dank empor zu dem Lichtquell, welcher die Wissenschaft und den Glauben als verschiedene Strahlen desselben ewigen Mittelpunktes zu uns herniedersendet.«

Er hatte bewegt und warm gesprochen und reichte dem Kandidaten die Hand.

Es war ein unbeschreiblicher Ausdruck, der in dessen Gesicht sich zeigte.

Er schlug die Augen nieder, neigte tief den Kopf und schwieg.

Dann erinnerte er sich, daß noch mehrere Kranke seines Besuches harrten, und empfahl sich mit einigen Worten freundlicher Teilnahme an Frau von Wendenstein. Auch zu Helene trat er heran und reichte ihr die Hand.

Warum zog sie dieselbe so schnell in schreckhafter Bewegung wieder zurück? Warum strömte eine eisige Kälte von den Fingerspitzen bis zu ihrem Herzen?

Sah sie den Blick, der unwillkürlich, flüchtig wie ein Wetterleuchten aus seinem Auge den Verwundeten traf, oder war es jener geheimnißvolle Instinkt, der sich zuweilen auch in der menschlichen Natur regt und in unerklärlichen Sympathien und Antipathieen oft richtiger, wahrer spricht, als die längste Erfahrung, die tiefste Menschenkenntniß und die verständigste Ueberlegung?

Der Arzt und der Kandidat entfernten sich – still blieben die Damen bei dem Verwundeten, der bald in ruhigen Schlaf verfiel.

Fritz Deyke aber, auf dessen stärker organisirtes Nervensystem die Aufregungen der letzten Stunden weniger nachhaltig wirkten, gab sich ganz der Freude über die neue gewisse Hoffnung hin. Er eilte, nachdem er das Medikament für seinen Lieutenant hatte machen lassen, in den kleinen Garten, wo Margarethe beschäftigt war, die Blumen zu begießen, welche nach der drückenden Hitze des Tages matt ihre Häupter hängen ließen.

Sie sprachen wenig dabei, – er eilte ab und zu, die Gießkanne mit Wasser füllend, und dann zog er kleine Rinnen in die Erde um die Wurzeln der Gewächse, damit das Wasser besser eindringe, und freute sich, wie Margarethe geschickt und anmuthig die Pflanzen begoß, wie sie leicht und gewandt die gesunkenen Blüten aufrichtete und an die Stöcke band und wie ihr Auge dann zuweilen freundlich auf ihm ruhte, – wie sie leicht erröthete, wenn er es bemerkte.

Dann setzte er sich mit dem alten Lohmeier und seiner Tochter zu dem einfachen, kräftigen Abendessen und freute sich wieder, wie Margarethe so flink und aufmerksam in der Häuslichkeit waltete und so freundliche, ruhige Behaglichkeit um sich zu verbreiten wußte.

Und im Stillen dachte er sich, wie schön sie aussehen müßte im alten, reichen Bauernhause zu Blechow und was der alte Deyke für eine Freude haben müßte über eine solche Hausfrau und Schwiegertochter. Was Margarethe dachte, das war ihr Geheimniß; aber unendlich glücklich sah sie aus, wenn sie den Vater und den Gast bediente und alle jene kleinen Pflichten der aufmerksamen Hausfrau erfüllte mit der Sicherheit der erfahrenen Wirthin und mit der frischen Anmuth der blühenden Jugend.

So herrschte stille Freude und hoffnungsvolles Glück überall in dem stattlichen Bürgerhause zu Langensalza.

Der Kandidat Behrmann aber besuchte noch viele Kranke und Verwundete, unermüdlich in wohlgesetzter und eindrucksvoller Rede Trost zusprechend und allen Dank mit demüthiger Bescheidenheit ablehnend; in den Lazarethen rathend und ordnend, – und von allen Lippen ertönte das Lob des frommen, beredten und anspruchslos einfachen jungen Geistlichen.


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