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28. Kapitel

Der General Berednikow hatte seine Abendrunde gehalten und alles im Fort Schlüsselburg in vollkommenster Ordnung gefunden. Zwei seiner zuverlässigsten Offiziere, die Leutnants Ulusiew und Tschekin, hatten die Wache bei dem Gefangenen. Alle Posten waren mit scharfen Patronen versehen, die Ablösungen für die Nacht waren vorgenommen, und vollkommen beruhigt über die seinem Befehl anvertraute Festung, bei deren unzugänglicher Lage er kaum so viel Vorsicht für nötig hielt, wie sie der Feldzeugmeister angeordnet hatte, zog er sich in seine im Mittelbau des innern Hofes gelegene Wohnung zurück.

Die Soldaten hatten noch eine Stunde Diensturlaub bis zum Zapfenstreich, und sie standen teils auf den Höfen plaudernd zusammen, teils saßen sie in den Kantinen, die von ihrer Löhnung ersparten Groschen zu einem Glas Branntwein oder zu einem Krug Kwas verwendend.

Der Wind strich über den Ladogasee hin, die Wellen der Newa schlugen an die mächtigen Fundamente der Mauern, das Schilf rauschte, die Möwen kreischten ihr einförmiges, melancholisches Lied und dichte Nebel stiegen ringsum über dem Wasser und den Niederungen auf, die finster aufragenden Steinmassen in ihre Schleier verhüllend. Einige Offiziere gingen auf den Wällen auf und nieder, andere saßen in ihrer gemeinschaftlichen Trinkstube beisammen, und der tiefste, ruhigste Frieden schien in dieser kleinen, militärisch organisierten Welt zu herrschen.

Mirowitsch hatte bei dem Appell unruhig suchend nach Uschakoff ausgespäht, der zu seinem Staunen und Schrecken am Tage vorher nicht zurückgekehrt war. So oft sich eine der Kasernentüren öffnete und einer der Offiziere mit seiner Mannschaft heraustrat, hoffte er, Uschakoff zu erblicken, aber vergebens. Der Kommandant fragte bei der Musterung nach dem fehlenden Offizier, zeigte aber keine Verwunderung und keinen Unwillen, als der Unteroffizier meldete, daß der Leutnant nicht zurückgekehrt sei.

Der Feldzeugmeister hatte gerade den Leutnant Uschakoff für die Überbringung der Rapporte nach Petersburg bestimmt, dieser Offizier mußte sich also seines ganz besonderen Vertrauens erfreuen; es war wahrscheinlich, daß der Fürst demselben irgendeinen Befehl gegeben, und der General Berednikow hütete sich daher wohl, irgendeine Bemerkung über dessen Ausbleiben zu machen.

Mirowitsch stieg gleich nach dem Appell in sein Zimmer hinauf, setzte sich an das Fenster und spähte durch die wallenden Nebel des Flusses auf die Straße nach Petersburg hinaus, von der er einen Teil übersehen konnte. Immer und immer glaubte er noch, daß Uschakoff kommen müsse; oft schien es ihm, als ob ein Schatten auf der Straße sich vorwärts bewegte, aber immer war es nur die Täuschung der dichter und dichter hinziehenden Nebelstreifen, er vermochte sich dieses Ausbleiben seines Freundes nicht zu erklären; derselbe wußte, daß an diesem Abend der Entscheidungsschlag fallen sollte, und doch war er nicht da.

Während er so in verwirrten, unruhigen Gedanken an seinem Fenster saß, stieg einer nach dem anderen der in die Verschwörung eingeweihten Offiziere zu seinem Zimmer hinauf; bald waren sie alle versammelt und sprachen ihr Befremden und ihre Besorgnis über Uschakoffs Ausbleiben aus. Einige fragten bedenklich, ob man nicht das ganze Unternehmen verschieben solle, da es doch möglich wäre, daß durch irgendeinen Zufall Verdacht entstanden und Uschakoff in Petersburg festgenommen worden sei, während andere wieder sein Ausbleiben ganz natürlich fanden, da er im Dienst in der Residenz sei, seine Abfertigung sich verzögert oder er einen anderen Befehl erhalten haben könne und es nicht gewagt haben werde, eine Nachricht darüber hinauszusenden; man werde ihn jedenfalls in der Artilleriekaserne finden, und es sei nicht nötig, wegen dieses Zwischenfalls die Ausführung der Pläne aufzuschieben, für welche alles so günstig als möglich läge.

Mirowitsch hatte während dieses leise mit zusammengesteckten Köpfen geführten Gesprächs nachdenklich dagesessen; endlich erhob er sich mit heiterer Miene und sah seine Kameraden mit klaren, von Mut und Entschlossenheit leuchtenden Augen an.

»Nein,« sagte er, »nein, es ist unmöglich, die Tat zu verschieben, denn wenn sie heute nicht ausgeführt wird, wird sie vielleicht für immer unmöglich werden; ich habe den Soldaten, die zu uns stehen, den Befehl für heute abend gegeben, ein Aufschub würde ihr Vertrauen auf das schwerste erschüttern, wir würden sie vielleicht nie wieder bereit finden, unseren Befehlen zu gehorchen, jeder Schritt rückwärts ist verhängnisvoll bei einem Unternehmen wie das unserige, und wenn wir heute nicht handeln, so ist es besser, unsere Tat und alle stolzen Hoffnungen, die sich daran knüpfen, für immer in die Vergessenheit zu versenken!«

»Er hat recht!« riefen einige. – »Aber wenn Uschakoff verhaftet ist, wenn man einen Verdacht gefaßt hat?« warfen andere zögernd ein.

»Es ist kein Grund, das zu glauben«, sagte Mirowitsch; »es ist zu natürlich, daß er dienstlich zurückgehalten ist, und er ist zu vorsichtig, eine Botschaft hierher zu versuchen, die alle Wachen passieren müßte; er kennt mich und weiß, daß mich nichts zurückhalten wird, meinen Entschluß auszuführen. Wir werden ihn bei Tschewaridew finden, und vielleicht ist es gut, daß er dort ist, um alle daselbst wachsam und bereit zu halten. Und hätte man einen Verdacht gefaßt, wäre Uschakoff dort verhaftet,« fuhr er fort, »so müßten wir nur um so schneller handeln, denn dann wäre jede Zögerung das sichere Verderben. Erinnert ihr euch nicht, daß auch die Verschwörung, welche Peter Feodorowitsch vom Thron stürzte, verraten, daß der Leutnant Passik damals verhaftet war und daß gerade deshalb Orloff schneller handelte, als es die Absicht war, und dadurch den Sieg gewann? Nehmen wir ein Beispiel an dem Feinde, den wir bekämpfen; wenn man einen Verdacht gefaßt, wenn man Uschakoff verhaftet hätte, so wären wir dennoch verloren, und nur das schnellste Handeln, nur der schnellste Sieg könnte uns retten.«

Alle Zweifel und Bedenken der Verschworenen verschwanden vor diesen Worten; Mut und Siegesvertrauen bestimmten die einen, die Furcht vor dem sichern Verderben, das bei längerem, untätigem Zögern gewiß schien, die anderen, und alle kamen überein, den für die Ausführung der Tat bestimmten Augenblick nicht vorübergehen zu lassen.

Man wartete noch kurze Zeit, bis die Dunkelheit völlig herabgesunken war und der auf den Höfen und Korridoren geschlagene Zapfenstreich den Soldaten gebot, die Kantinen zu verlassen und sich in ihre Schlafkammern zurückzuziehen.

Man hörte die Tritte und Stimmen der Soldaten, die sich voneinander verabschiedeten.

Diejenigen, welche von dem Vorhaben wußten, begaben sich durch einen Ausgang, dessen Wachtposten zu ihnen gehörte, in den Hof, welcher vor dem Zugang zu dem Staatsgefängnis lag.

Schnell eilte Mirowitsch mit seinen Kameraden die Treppen hinab; sie stellten die unter der Führung des Sergeanten Piskow versammelten Soldaten in Reih und Glied auf und Mirowitsch hielt denselben mit leiser Stimme noch einmal eine kurze Ansprache, in welcher er sie ermahnte, mit unerschrockenem Mut die Befehle des hohen Senats auszuführen und ihnen die glänzendsten Belohnungen im Namen des rechten Zaren versprach, den sie befreien und auf den Thron erheben sollten.

Die Soldaten antworteten mit einem dumpfen Hochruf auf den Zaren Iwan, und mit gefälltem Bajonett schritt der Zug in den dunklen, gewölbten Gang hinein, welcher zu dem Staatsgefängnis führte.

In der Mitte dieses Ganges befand sich eine etwa zehn Mann starke Wache, welche man nicht mit Verschworenen hatte besetzen können.

Der Posten vor Gewehr rief die Nahenden an, deren Tritte unter dem Gewölbe laut widerhallten.

»Wir kommen im Namen und auf Befehl des hohen Senats«, erwiderte Mirowitsch, vortretend; »gib Raum, mein Freund, laß uns passieren, du siehst, daß wir im Dienst sind!«

»Ich habe strengen Befehl,« erwiderte der Soldat, »bei Leibes- und Lebensstrafe niemand passieren zu lassen ohne persönlichen Befehl des Generals!«

Er streckte Mirowitsch die Spitze seines Bajonetts entgegen.

Der kurze Wortwechsel hatte die Aufmerksamkeit der übrigen Wachmannschaft erregt, da in diesen Räumen stets die vollkommenste Stille herrschte. Die nur halb angezogene Tür der Wachstube öffnete sich, und die Soldaten traten, ihre Gewehre im Arm, auf den Gang hinaus.

»Ich habe dem Posten bereits erklärt,« sagte Mirowitsch ungeduldig, »daß ich hier eine dienstliche Patrouille auszuführen habe; gebt Raum oder ihr setzt euch schwerer Strafe aus!«

»Es darf niemand passieren als der General selbst«, erwiderten die Soldaten, indem sie sich vor dem Offizier militärisch aufstellten, aber doch die ganze Breite des Durchgangs versperrten.

»Zum Teufel mit dem General!« rief Mirowitsch heftig. »Wir sind hier auf Befehl des hohen Senats; gebt Raum!«

Er drang mit gezogenem Degen gegen die Soldaten vor; einige derselben wichen zögernd zurück, der Posten hatte sein Gewehr erhoben und gab Feuer. Man hörte die Kugel gegen die Mauer anschlagen, ohne daß sie jemanden getroffen hätte.

Schnell fielen einige Schüsse aus den Reihen der Verschworenen.

»Kein Feuer, schießt nicht!« rief Mirowitsch, indem er sich auf den Posten stürzte und ihm ringend das Gewehr zu entreißen versuchte.

Einige seiner Leute sprangen zu ihm heran; in wenigen Augenblicken war der Mann entwaffnet und zu Boden geworfen, die übrigen Soldaten der Wache standen unschlüssig, ihre Gewehre im Arm, da.

»Ihr hört es ja,« rief der Sergeant Piskow, indem er zu ihnen herantrat, »wir haben einen Befehl des Senats auszuführen; widersetzt euch nicht, das wäre Hochverrat!«

»Einen Befehl des Senats?« sagte einer der Soldaten. »Der Senat steht freilich über dem General; aber wo ist der Befehl?«

»Hier«, rief Mirowitsch, indem er das Papier hervorzog, das er mit Uschakoff verfertigt hatte; »hier, überzeugt euch, aber schnell; eine weitere Zögerung wird euch nicht verziehen werden!«

Einer der Soldaten hatte eine Laterne aus der Wachstube herbeigebracht; er betrachtete ehrerbietig das Papier mit dem großen, daran hängenden Siegel.

»Und was steht in dem Befehl?« fragte einer von ihnen furchtsam und zögernd.

»Lies«, sagte Mirowitsch, indem er dem Sergeanten Piskow das Dokument reichte. »Lies, aber schnell; bei Gott, wir haben schon zu viel Zeit verloren!«

Mit lauter Stimme las Piskow den Inhalt der Schrift vor.

»Die Kaiserin abgesetzt«, flüsterten die Soldaten erschrocken; »der Gefangene dort hinten ist der rechte Zar!«

»Ihr hört es!« rief Piskow. »Das heilige Rußland soll nicht länger von einem fremden, ungläubigen Weib beherrscht werden! Jedes fernere Zögern ist Hochverrat gegen den rechten Zaren, Frevel gegen die heilige, rechtgläubige Kirche, die er beschützt. Also nehmt eure Gewehre auf, folgt uns und erwerbt euren Anteil an der Gnade, die der rechte Zar ausgießen wird über seine Getreuen!«

»Es ist wahr,« riefen die Soldaten der Wachmannschaft, »Katharina ist eine Fremde, man hat schon gehört, daß sie im Herzen eine Ketzerin sei; der hohe Senat befiehlt es, wir müssen gehorchen!«

»Es lebe Iwan, der rechte Zar!« rief Mirowitsch.

Die Wachmannschaft wiederholte den Ruf und trat in die Reihen der Verschworenen; auch der Posten, welcher vorher geschossen hatte, schloß sich den übrigen an.

Mirowitsch trat an die Spitze des Zuges, um die Seinen vorwärts zu führen. Da erschallten schnell Schritte unter dem Gewölbe des Ganges; der General Berednikow hatte die Schüsse gehört und kam, von seinem Adjutanten und noch zwei anderen Offizieren begleitet, heran, um nach der Ursache des außerordentlichen und unerhörten Vorgangs zu forschen.

In unwillkürlicher gewohnheitsmäßiger Subordination öffneten sich die Glieder vor dem General und im nächsten Augenblick stand Berednikow vor Mirowitsch.

»Wer hat es gewagt, die Schüsse abzugeben, die ich gehört?«

Mirowitsch legte die Hand auf Berednikows Schulter.

»Für jetzt, Herr General,« sagte er, »bin ich Kommandant von Schlüsselburg und Sie sind mein Gefangener; ich bitte um Ihren Degen! Sie sehen, jeder Widerstand wäre vergebens, und ich würde es bedauern, wenn Sie mich zwängen, Gewalt gegen Sie zu brauchen.«

Berednikow legte die Hand an seinen Degen und rief den Soldaten zu:

»Hierher, Leute, zu mir, kennt ihr euren General nicht? Ergreift den Rebellen gegen die Kaiserin, und es soll euch verziehen sein!«

Aber mit finsteren Blicken senkten die Soldaten die Spitzen der Bajonette gegen Berednikows Brust.

»Es gibt keine Kaiserin!« riefen sie. »Der hohe Senat hat Rußland befreit von der Fremden. Es lebe Iwan, der rechte Zar!«

Berednikow erbleichte und sah die Soldaten mit verwirrten Blicken an; seinen Kopf durchzuckte der Gedanke, ob nicht wirklich Mirowitsch die Wahrheit spreche, nicht wirklich in Petersburg bereits die Kaiserin entthront sei. Außerdem aber erkannte er, daß in der Tat jeder Widerstand vergebens sei, denn bereits waren immer mehr Soldaten aus den Kasernen herangekommen, und alle hatten sich nach kurzer Erklärung den Verschworenen angeschlossen. Alle stimmten ein in den Ruf:

»Es lebe Iwan, der rechte Zar!«

Berednikow erbleichte und sah die Soldaten noch verwirrter an; er kreuzte die Arme über der Brust und senkte schweigend das Haupt.

Schnell hatte Piskow ihm seinen Degen abgenommen.

»Bleib' hier, Piskow,« befahl Mirowitsch, »behalte fünf Mann bei dir. Ihr werdet eure Gewehrläufe auf die Brust des Generals richten und bei jedem Versuch des Widerstandes oder der Flucht Feuer geben. Sie sehen, mein General, Ihre Sicherheit hängt nur von Ihnen allein ab; wenn Sie sich freiwillig fügen, bürge ich für Ihr Leben. Ihre Gefangenschaft soll nur kurze Zeit dauern, und Sie sollen mit allen Ehren Ihres Ranges behandelt werden.«

Auch die beiden Offiziere, welche den General begleitet hatten, machten keinen Versuch des Widerstandes mehr und blieben ruhig an der Seite ihres Chefs stehen.

Piskow blieb mit fünf Mann, wie Mirowitsch befohlen, bei ihnen zurück. Man brachte für den General und seine Begleiter eine Bank herbei, und die Soldaten blieben vor den Gefangenen stehen, bereit, sie bei der geringsten verdächtigen Bewegung niederzuschießen.

Mirowitsch mit seiner Schar, der sich fast die ganze Besatzung angeschlossen hatte, stürmte nun durch den Gang weiter und kam vor die innere Ausgangstür zu den Räumen des Staatsgefängnisses. Die beiden Posten, welche hier standen und bereits in unruhiger Spannung dem außerordentlichen Lärm gelauscht hatten, versuchten kaum eine Einwendung und stellten sich nach kurzer Erklärung ebenfalls auf die Seite der Verschworenen.

Aber die Tür war verschlossen und von innen verriegelt.

Mirowitsch schlug mit dem Gefäß seines Degens gegen die starken, eisenbeschlagenen Eichenbretter der Füllung.

»Macht auf, macht auf,« rief er, »führt den Zaren heraus; Rußland erwartet seinen Befreier!«

»Es lebe Iwan, der rechte Zar, der Befreier!« riefen die Soldaten. Doch drinnen regte sich nichts.

Mirowitsch legte das Ohr an die Eichenbretter. Wohl schien es ihm, als ob drinnen Stimmen durcheinander sprächen, aber die Bohlen waren zu stark, als daß er irgend etwas deutlich vernehmen konnte.

»Ulusiew,« rief er, den Mund an das Schlüsselloch legend, »Ulusiew, Tschekin, hört mich! Katharina Alexiewna ist abgesetzt, Iwan, der rechte Zar, ist unser Herr! Führt ihn heraus, um mit ihm einzuziehen in Petersburg und mit uns die ersten zu sein auf den Stufen seines Thrones!«

Keine Antwort erfolgte, kein Schlüssel knirschte im Schloß; die Tür schien die Pforte eines schweigenden Grabes zu sein.

Auch die Rufe der Verschworenen verstummten. Ängstlich lauschend standen die Soldaten umher.

»Ulusiew! Tschekin!« rief Mirowitsch nochmals durch das Schlüsselloch. »So hört doch, verscherzt nicht euer Glück in törichtem Starrsinn; bei Gott, wenn ihr länger zögert, ist euer Kopf verwirkt!«

Abermals lauschte er; aber die Tür blieb geschlossen, keine Antwort erfolgte.

»Ha,« rief Mirowitsch flammenden Blickes, »die Zwingburg der Kaiserin ist in unseren Händen. – Sollen diese verfluchten Bretter das russische Volk von seinem Zaren trennen? Eilt, Freunde; holt Äxte und Beile herbei, schlagt dies elende Holz in Stücke, den Kerker eures Kaisers zu öffnen, und wehe den Verblendeten da drinnen, die an diesem Verlust der kostbaren Zeit schuld sind!«

Einige Soldaten eilten davon. Bald waren Äxte und Beile herbeigebracht, und die schweren Eichenbohlen der Türfüllung zersplitterten krachend unter den wuchtigen Hieben, zu denen Mirowitsch und seine Leute immer eifriger und ungeduldiger anfeuerten.

Während dies alles in dem Gange und vor der Tür des Gefängnisses vorgegangen war, hatte im Innern des Raums, der so lange schon den im Purpur geborenen Sprößling vom Blute Peters des Großen einschloß, eine nicht minder bewegte Szene stattgefunden. Iwan hatte sich schon früh auf sein Lager ausgestreckt, nachdem er das Abendessen zu sich genommen. Er war seit der Mitteilung, welche ihm Mirowitsch über den Plan zu seiner Befreiung gemacht, in seinem ganzen Wesen verändert; die heftigen Ausbrüche, welche sich früher zuweilen bis zu völliger Raserei gesteigert hatten, waren ganz verschwunden; auch vermied er sorgfältig den übermäßigen Genuß der schweren Weine und Liköre, welche ihn früher so oft in betäubendem Rausch niedergeworfen hatten. Er war ruhig, ernst und freundlich und begrüßte stets artig die zu seiner Bewachung kommandierten Offiziere, obwohl dieselben nach ihren strengen Instruktionen seiner Einladung, an seinen Mahlzeiten teilzunehmen, nicht folgen und auch keine Unterhaltung mit ihm führen durften. Auch an diesem Abend hatte er nur wenige Gläser Madeira getrunken und plauderte, das Haupt in die Kissen seines Lagers zurückgelehnt, freundlich und ruhig mit dem alten Sergeanten Wjatscheslaw Pauloskow, der, wie er an jedem Abend zu tun pflegte, am Rande seines Bettes in einem hölzernen Lehnstuhl Platz genommen hatte.

Die beiden Leutnants Ulusiew und Tschekin saßen in dem Vorzimmer, dessen Tür nach dem Schlafgemach, das vorschriftsmäßig halb offen stand, führte. Sie hatten ihr Abendessen beendet, tranken ein Gemisch von Wacholderbranntwein und Wasser und spielten, um sich die Zeit zu kürzen, eine Partie Ecarté miteinander bis zur Nachtruhe, welche sie abwechselnd hielten, so daß immer einer von ihnen zwei Stunden schlief, während der andere sich wach halten mußte.

Die beiden Offiziere waren stark und kräftig gebaut, in ihren Mienen lag Mut und Entschlossenheit; beide waren Musterbilder jener strengen Soldaten, deren ganzes Leben der Pflichterfüllung gehört, deren Wollen und Denken sich nach dem dienstlichen Befehl regelt und welche bestimmt zu sein scheinen, das Räderwerk einer großen Maschine zu bilden, deren Bewegung sie in sicherer Gleichmäßigkeit erhalten, in der sie aber kaum bemerkt werden und nur eine gleichgültige und nebensächliche Bedeutung zu haben scheinen.

»Ich begreife nicht,« sagte Ulusiew, indem er zum Beginn eines neuen Spiels die Karten in die Hand nahm, »warum der Kommandant so wenig Wechsel in diesem Wachdienst eintreten läßt. Seit acht Tagen nun schon sind wir auf diesem Posten und noch immer werden wir nicht abgelöst; ich scheue bei Gott keine Mühe und Last, aber ich würde tausendmal lieber draußen im Kampf gegen die Türken stehen, wo man freilich sein Leben wagen und jede Bequemlichkeit entbehren muß, als daß ich hier mein Bett habe, aber alle zwei Stunden gezwungen bin, meinen Schlaf zu unterbrechen; eine solche Lebensweise kann eine eiserne Kraft aufreiben.«

»Bah,« sagte Tschekin, »Dienst ist Dienst; ich frage wenig danach, ob er so oder so fällt, und kümmere mich nicht darum, warum ein Befehl gegeben ist. Freilich, draußen im Feldlager wäre ich auch lieber; aber hier in dieser trübseligen Garnison ist es ziemlich gleich, ob wir in den engen Höfen umhergehen oder hier eingeschlossen sind. Gib die Karten. Drei Spiele noch, dann will ich mich zur Ruhe legen; an mir ist heute die Reihe des ersten Schlafs.«

»Und dann,« sagte Ulusiew, indem er die Karten gab, »zuweilen fällt mir der Gedanke an diesen geheimen Befehl, den wir erhalten haben, schwer auf die Seele. Ich würde mich nicht fürchten, dem Teufel selbst zu Leibe zu gehen, wenn es der Dienst erforderte; aber der Arme da stammt doch vom Blute der Zaren, und er hat in seinem Leben so viel ausgehalten in der traurigen Gefangenschaft – das Herz würde mir weh tun, wenn es einmal notwendig werden sollte, den schrecklichen Befehl auszuführen und ihn niederzustoßen.«

Tschekin lachte.

»Wie kommt dir ein solcher Gedanke? Wir sollen ihn töten, so lautet der Befehl, wenn man einen Versuch zu seiner Befreiung machte und wir kein anderes Mittel mehr hätten, dieselbe zu hindern. Das ist eine Vorsicht, die, bei Gott, ziemlich überflüssig erscheint. Wer sollte wohl über die Wellen der Newa in dieses Inselnest dringen, das die Schweden vergebens zu stürmen versuchten? Und wenn es jemals so käme,« fügte er achselzuckend hinzu, »wer weiß, ob wir dem Gefangenen nicht eine Wohltat erwiesen, wenn wir ihn von seinem traurigen Leben befreiten.«

Er spielte seine Karte aus, Ulusiew warf seufzend die seine daneben und das Spiel nahm seinen Fortgang. –

»Ich habe oft an meinen armen Vater gedacht in diesen Tagen, Wjatscheslaw«, sagte Iwan, indem er sich ganz nahe zu dem alten Sergeanten herüberbeugte. »Zweimal habe ich seine Gestalt im Traum gesehen; oh, ich kenne ihn so gut, obgleich es so lange her ist, daß sie mich von ihm fortrissen, die höllischen Rasboyniks. Er war so schön und blickte so freundlich zu mir herab – ich reichte ihm damals kaum bis zum Gürtel hinauf – und ich liebte ihn so sehr, er lehrte mich lesen in einem alten Gebetbuch und erzählte mir von dem Lande Deutschland, aus dem er stammte, und von meinem Ahnherrn, dem großen Kaiser Peter; oh, ich liebte ihn weit mehr als meine Mutter; sie schalt mich oft, wenn ich ungestüm wurde und fragte, warum ich nicht hinausgehen dürfte auf die grünen Wiesen, die ich von weitem aus unseren vergitterten Fenstern sah. Sie sah mich kalt und zornig an, oder sie begann zu weinen und verbot mir solche Fragen. Mein Vater aber lehrte mich, daß es Gott sei, der jedes Menschen Schicksal bestimme und dem man sich demütig unterwerfen müsse. Und ich hätte ihm gehorcht; ich hätte alles ertragen, wenn sie mich bei meinem Vater gelassen hätten, aber das, Wjatscheslaw, das, bei Gott, verzeih' ich ihnen nicht!«

Er hob die geballte Hand empor, dunkle Röte stieg in seinem Gesicht auf.

»Seid ruhig, Herr, seid ruhig«, erwiderte Wjatscheslaw; »auch das hat Gott geschickt, und manchen hat wohl noch Schwereres getroffen; und wenn Ihr gehorsam und demütig Euch dem Willen Gottes fügt, so kann er ja Euer Schicksal wenden und Euch die Freiheit wiedergeben.«

»Er wird es, Wjatscheslaw,« sagte Iwan, »du weißt es ja, daß er es wird, jener edle Offizier hat es uns ja versprochen. Er ist nicht wiedergekommen seit jenem Tage, aber er wird kommen, ich weiß es! Hätte ich meinen Vater im Traum gesehen, wenn mir nicht das Glück nahte? Er kann mir nur Glück bringen; er beugte sich zu mir herab, wie er es tat in jenen fernen Tagen meiner Kindheit, und küßte mich auf die Stirn, und seine treuen Augen sahen mich an wie damals; und als ich aufwachte, Wjatscheslaw, da habe ich mir gelobt, daß er, mein Vater, neben mir sitzen solle auf meinem Thron, wenn ich Kaiser sein werde, und alle sollen sich vor ihm beugen, und das ganze weite Rußland will ich durchforschen lassen, ob ich die Rasboyniks finde, die mich von ihm gerissen, und die hochmütigen Kerkermeister, die ihn gequält; und dann, Wjatscheslaw, soll ihr Blut den Boden färben vor seinen Augen, und ihre Köpfe will ich zu seinen Füßen hinrollen lassen!«

»O Herr, Herr,« sagte Wjatscheslaw, indem er sich bekreuzte und scheu nach dem Nebenzimmer hinblickte, »führt nicht solche Reden. Bittet Gott, daß er Euch gnädig sei; und wenn er Euch wirklich befreit, so seid gnädig, Herr, wie er es ist gegen alle.«

»Gegen alle,« sagte Iwan knirschend, »aber nicht gegen meines Vaters Kerkermeister, nicht gegen die Rasboyniks, die mich aus seinen Armen gerissen haben.«

Wjatscheslaw schüttelte den Kopf und faltete die Hände, als ob er den Himmel bitten wolle, diese drohenden Worte nicht zu hören. Iwan aber blieb schweigend in seinen Kissen liegen, seine Hand sank herab, ohne daß seine geballte Faust sich öffnete. Immer lauter klangen seine tiefen Atemzüge, seine Augenlider senkten sich allmählich, und er schien die Bilder der Rache, durch die er den alten Wjatscheslaw erschreckt hatte, mit hinübernehmen zu wollen in seinen Schlaf.

Da plötzlich fuhr er wieder auf.

Zugleich erhoben sich Ulusiew und Tschekin im Nebenzimmer von ihrem Spiel.

Man hatte einen Schuß ganz in der Nähe fallen hören, mehrere andere Schüsse krachten unmittelbar darauf und dann drangen verworrene Stimmen wie aus weiter Ferne herüber.

»Was ist das,« sagte Ulusiew zu Tschekin, »Schüsse in dieser Stunde?!«

Beide setzten ihre Grenadiermützen auf, spannten die auf einem Seitentisch liegenden Pistolen und warteten, die Hand am Degengriff, was weiter geschehen würde.

Iwan legte seine Hand auf Wjatscheslaws Arm und flüsterte ihm zu:

»Hörst du wohl? Sie kommen, sie kommen, das sind die Befreier; o Gott der Rache, steh' ihnen bei!«

Eine Zeitlang herrschte tiefe, lautlose Stille in den beiden Räumen des Gefängnisses; man hörte nur die Atemzüge der Lauschenden und die leise gemurmelten Gebete des alten Wjatscheslaw, der neben Iwans Bett auf die Knie gesunken war.

Da drang der dumpfe Lärm von außen immer näher heran, und bald konnte man, durch die schwere Tür gedämpft, wie von fern her klingend, aber doch deutlich den Ruf vernehmen:

»Es lebe Iwan, unser rechter Zar!«

»Hörst du, Wjatscheslaw, hörst du's?« rief Iwan. »Sie sind es, mein ist die Krone und die Macht; nicht umsonst ist mir mein Vater im Traum erschienen!«

Wjatscheslaw betete immerfort.

Iwan war aus dem Bett gesprungen und stand, nur mit einem leichten Nachtgewand bekleidet, da, den Kopf vorgebeugt, die Hände ausgestreckt; die Augen schimmerten in fieberhafter Glut.

Da hörte man in dumpfem Schall die Worte, welche Mirowitsch durch das Schlüsselloch rief.

»Hörst du, Tschekin?« sagte Ulusiew. »Du hast gelacht, als ich von unserem Befehl sprach, die finstere Stunde ist da; mein Gott, warum bin ich zu dieser Wache bestimmt gewesen!«

»Würdest du zögern,« fragte Tschekin, »wenn es not täte?«

»Nein,« erwiderte Ulusiew, »ich kenne die Pflicht des Dienstes!«

Noch einmal hörte man Mirowitsch sprechen.

Iwan stürmte in das vordere Zimmer.

Erschrocken sprang Wjatscheslaw auf und eilte ihm nach.

»Öffnet, öffnet!« rief Iwan den beiden Offizieren zu. »Ihr hört es ja, die Befreier sind da; ihr hört es, ich bin euer Kaiser, und ein glückliches Schicksal hat euch beide zuerst auf meinen Weg geführt!«

Die beiden Offiziere zogen ihre Degen.

»Zurück, Herr,« rief Ulusiew, »Ihr dürft dieses Zimmer nicht betreten, das ist gegen die Order!«

»Gegen die Order,« rief Iwan, »wer hat hier Befehl zu geben? Öffnet oder, bei Gott, in einer Stunde liegt euer Kopf zu euren Füßen!«

»Zurück!« rief Tschekin drohend.

Wjatscheslaw schlang seine Arme um Iwan und zog ihn bis zur Schwelle des Schlafzimmers zurück.

Da begannen von draußen her die Axthiebe gegen die Tür zu donnern. Immer lauter wurden die Schläge, schon drang an einer Stelle das Eisen durch die Tür, und Holzsplitter fielen in das Zimmer.

Iwan riß sich aus Wjatscheslaws Armen los.

»Wollt ihr öffnen!?« rief er außer sich, mit funkelnden Augen gegen die Offiziere vorstürmend.

»Die Stunde ist da«, sagte Tschekin; »es gibt kein Zögern mehr; wir haben kein anderes Mittel, seine Befreiung zu verhindern.«

Ein großes Holzstück sprang von der Tür ab und flog bis mitten in das Zimmer hinein; man konnte die blanke Spitze einer Axt in der entstandenen Öffnung sehen.

Tschekin erhob seinen Degen und führte einen Stoß gegen Iwans Brust.

»Ha, Mörder, verruchter Mörder!« rief Iwan, der eine schnelle Wendung gemacht hatte, so daß der Degen nur seine Schulter traf.

Er stürzte sich auf Tschekin, entriß ihm mit Riesenkraft den Degen und brach die Spitze desselben ab.

»Ulusiew,« rief Tschekin, »Ulusiew, zu Hilfe oder, bei Gott, sie werden ihn entführen!«

Ulusiew war bleich wie der Tod; er erhob seinen Degen und führte einen Stoß gegen Iwans Seite, ein Blutstrahl spritzte aus der Wunde auf.

Mit einem jammernden Wehlaut sprang Wjatscheslaw heran und fing den Taumelnden in seinen Armen auf.

»Verfluchte Mörder, verfluchte Rasboyniks!« rief Iwan, indem sein Gesicht sich vor Schmerz und Wut furchtbar verzerrte.

Noch einmal riß er sich aus Wjatscheslaws Armen los und stürzte gegen Ulusiew vor.

Dieser hielt ihm seine Klinge entgegen und das Eisen drang in Iwans Brust. Er aber ergriff die Klinge, riß sie aus der Wunde und faßte mit seinen beiden Händen Ulusiews Hals, um ihn zu erwürgen. Tschekin aber hatte seine Waffe wieder erhoben; er trat von hinten heran und mit sicherem Stoß trieb er den abgebrochenen Degen bis ans Heft in Iwans Rücken.

Er hatte genau gezielt; unter der linken Schulter war die Klinge eingedrungen und hatte in sicherem Stoß das Herz durchbohrt.

Iwans Arme ließen Ulusiews Hals los und breiteten sich weit aus; mit einem röchelnden Atemzug stürzte der arme, unglückliche Iwan vornüber zu Boden. Nach wenigen Zuckungen streckte er sich starr aus und blieb, das Gesicht zur Erde gewendet, in seinem ringsum den Boden färbenden Blute liegen.

Entsetzt trat Ulusiew zurück.

»Ich war es nicht,« flüsterte er leise, »der dieses Herz durchbohrte. Und doch, wird dieses Blut nicht dennoch über mich kommen?«

Der alte Wjatscheslaw kniete nieder, dumpfe, unverständliche Klagelaute nur drangen aus seiner Brust; er wendete den Toten um, drückte dessen erstarrende Augen zu und beugte sich über sein bleiches, verzerrtes Gesicht. Schauerlich klang das Schluchzen des Alten, dessen weißer Bart sich rot färbte von dem Blute des Ermordeten.

Immer wuchtiger drangen die Beilhiebe durch die Tür. Tschekin nahm den Schlüssel von dem Tisch, knirschend öffnete sich das Schloß und auf flogen die schweren Türflügel.

Mirowitsch voran, drangen die Stürmenden über die Schwelle mit dem lauten Ruf:

»Es lebe Iwan, der rechte Zar!«

»Hier ist euer Zar!« sagte Tschekin kalt, während Ulusiew sein Gesicht mit den Händen bedeckte.

Entsetzt wichen die Soldaten zurück, mit einem furchtbaren Schrei stürzte sich Mirowitsch auf die Leiche; er betastete das Antlitz des Toten, er legte seine zitternde Hand auf dessen Herz; aber er fühlte keinen Schlag mehr, die Kälte des Todes hatte bereits den erstarrenden Körper erfaßt und ließ das aus der Wunde strömende Blut gerinnen.

Die Soldaten waren von dieser furchtbaren Wendung so erschüttert, daß sie scheu und ängstlich zurückwichen, und keiner von ihnen kam auch nur auf den Gedanken, den Tod des Gefangenen, den sie auf den Thron hatten erheben wollen, an den beiden Offizieren zu rächen.

»Zurück, Rebellen,« rief Tschekin, »über euch kommt dies Blut, die ihr in wahnsinniger Empörung euren Eid gebrochen; wir haben unsere Pflicht getan und das Reich gerettet!«

Eine Zeitlang kniete Mirowitsch regungslos neben dem alten Wjatscheslaw, er starrte die Leiche an; finstere, verzweiflungsvolle Ergebenheit lag auf seinem Gesicht.

»Das Schicksal hat entschieden,« sagte er endlich mit tonloser Stimme, »Klagen sind eines Mannes unwürdig; ich habe um mein Leben gespielt und das Spiel verloren. Arme Adeline, möchtest du vergessen können!«

Er stand auf und ging festen Schrittes durch die Soldaten, welche scheu vor ihm zurückwichen, nach dem gewölbten Gang zurück.

Vor der Wachstube saß der Kommandant mit seinem Adjutanten; Piskow und seine Soldaten hielten ihre Gewehrläufe gegen die Brust der Gefangenen, jede Bewegung derselben beobachtend.

»Ist es geschehen?« rief Piskow freudig, als Mirowitsch sich näherte. »Ist der Zar befreit?«

»Es ist geschehen,« erwiderte Mirowitsch, »was nach des Schicksals Schluß geschehen mußte; der Zar ist befreit von allen irdischen Leiden und Sorgen.«

Dann trat er zu dem Kommandanten.

»Das Spiel ist aus, Herr General,« sagte er kalt und ruhig, »ich habe es verloren; jetzt bin ich Ihr Gefangener!«

Er reichte dem General seinen Degen, während Piskow mit seinen Soldaten zitternd zurückwich.

»Unglücklicher,« sagte Berednikow, »was haben Sie getan!? So war es gemeint?« flüsterte er dann vor sich hin. »O mein Gott, welch ein Abgrund öffnete sich vor meinen Augen! Doch jetzt gilt es, meine Pflicht zu tun.«

Mit einem schweren Seufzer richtete er sich auf.

»Tretet an!« befahl er den Soldaten, welche langsam von der Tür des Gefängnisses wieder zurückkehrten. »Eure Schuld, die vielleicht nur Verblendung war, wird später untersucht und gerichtet werden.«

Die Soldaten gehorchten schweigend seinem Befehl und stellten sich in langer Front an der Tür des Ganges auf.

»Geben Sie Ihre Degen ab!« befahl Berednikow den Offizieren, welche an der Verschwörung teilgenommen hatten. »Begeben Sie sich in Ihre Zimmer; zwei Mann Wache vor jede Tür. Der Sergeant Piskow wird im Arrest gefesselt!«

In schweigendem Gehorsam wurden alle seine Befehle befolgt.

Die verschworenen Offiziere und Piskow wurden abgeführt, ohne daß einer von ihnen ein Wort sprach.

Alle waren von dem so ganz unerwarteten, furchtbaren Ausgang niedergeschmettert.

»Sie übernehmen das Kommando der Festung«, sprach Berednikow zu seinem Adjutanten. »Ich erteile Ihnen Vollmacht, alle meine Rechte auszuüben; lassen Sie Kanonen an die Tore fahren, die Offiziere selbst sollen die Geschütze bedienen und Feuer auf jeden geben, der zu fliehen versucht. Ich muß nach Petersburg, um über die unerhörte Tat und ihren blutigen Ausgang Bericht zu erstatten und den Hauptschuldigen seinen Richtern zu überliefern. – Es tut mir leid,« sagte er wehmütig zu Mirowitsch, »Sie waren ein tüchtiger Offizier und hätten Ihr Leben für eine bessere Sache wagen können. Ich muß Sie fesseln lassen und erwarte, daß Sie keinen Versuch zur Flucht machen werden, denn der Tod wäre Ihnen dann gewiß.«

Mirowitsch sprach kein Wort; in finsterem Schweigen ließ er sich die schnell herbeigebrachten Handschellen anlegen.

Berednikow befahl, zwanzig berittene Grenadiere auf den Flößen überzusetzen, bestimmte einen Offizier zu seiner Begleitung und begab sich, dem mit seiner Stellvertretung beauftragten Adjutanten noch einmal die größte Wachsamkeit und den rücksichtslosesten Gebrauch der Geschütze empfehlend, nach dem äußeren Tor der Festung.

Bereits waren die Pferde und die Grenadiere auf den Prahm gebracht, fünf Mann sollten mit dem gefesselten Mirowitsch in das Boot des Kommandanten steigen, die Ruderer waren beschäftigt, die Uferkette zu lösen und das Fahrzeug heranzuziehen; aber die Kette leistete Widerstand, es wollte nicht gelingen, sie um den Ankerpfahl zu binden und das Boot über die schwankenden Wellen heranzuziehen.

»Es muß sich etwas darin verfangen haben,« sagte einer der Ruderer, und vorsichtig stiegen einige Leute von dem Ufersand in das Wasser, um das Hindernis zu beseitigen.

»Es ist ein Ertrunkener,« riefen sie erschrocken, »eine Leiche hängt an der Kette!«

Mit einiger Mühe wurde ein menschlicher Körper an das Ufer geschafft. Die Fackelträger leuchteten.

Mirowitsch stieß einen Schrei aus; er erkannte in dem Toten, dessen offene Augen unheimlich aus dem aufgeschwollenen Gesicht hervorstarrten, den unglücklichen Uschakoff, dessen Rückkehr er vergebens erwartet hatte.

»Armer Freund,« sagte er traurig, »darum bist du nicht gekommen! Ist dies alles ein verhängnisvoller Zufall oder das finstere Werk einer geheimnisvollen Macht, die im Dunkel meinen Spuren folgt? Wohl ist dir das bessere Los geworden: du hast überstanden, was das Leben Schwerstes auferlegen kann; ich habe den bitteren Kelch tropfenweise noch zu leeren und Gott zu bitten, daß mein fester Mut nicht erlahmt.«

Der erschütterte Kommandant befahl, Uschakoffs Leiche in die Festung zu bringen, dann ließ er Mirowitsch zwischen zwei Grenadieren in das Boot setzen. Er nahm seinen Platz dem Gefangenen gegenüber, die Ruder schlugen in das Wasser, und schnell über die Wellen hinschießend, folgte das Fahrzeug dem Prahm mit den Pferden und Soldaten, welche bereits die Mitte des breiten Stromes erreicht hatten.


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