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15. Kapitel

Das Regiment Smolensk war nach der Parade vor der Kaiserin wieder nach seiner Garnison Schlüsselburg zurückgekehrt. Der Leutnant Wassili Mirowitsch hatte auf dem Marsche bleich und finster seinen Platz in der Kompagnie, der er angehörte, eingenommen; mit zu Boden gesenkten Blicken war er vorwärts marschiert, zuweilen leise Worte vor sich hinmurmelnd, die wie grimmige Verwünschungen klangen. Wie aus einem Traume fuhr er auf, wenn es galt, ein Kommando zu geben; zuweilen blitzte es wild und drohend in seinen Augen, und sein zuckender Arm hob den gezogenen Degen empor, als ob er sich nicht auf einem friedlichen Marsche befände, sondern seine Soldaten zu stürmendem Kampfe dem Feinde entgegenführen wollte, so daß der Kapitän den sonst so eifrigen Offizier, den er heute vielfach an seine dienstliche Pflicht mahnen mußte, zuweilen befremdet und kopfschüttelnd betrachtete.

Die Festung Schlüsselburg liegt auf einer kleinen Insel mitten in der Newa, wo dieser Strom aus dem Ladogasee herausfließt. Rings umspülen diese alte Zwingburg, die schon im Jahre dreizehnhundertvierundzwanzig von dem großen Yurge Danilowitsch erbaut wurde, und deren alte Mauern zweiundeinhalb Faden dick sind, die Wellen. Finster ragen die Mauern mit ihren Zinnen und Türmen aus der Wassermasse, deren Wellen oft bei stürmischem Wetter brausend gegen die Granitfundamente sich aufbäumen. Der weite Ladogasee breitet seine Wasserfläche nach der einen Seite hin aus und nach den anderen Richtungen erstrecken sich langhin die Ufer des mächtigen Newastromes mit ihrem rauschenden Schilf und ihren überhängenden Weidengebüschen.

Die Besatzung wurde auf breiten Prahmen nach der Festung übergeführt und kleine Boote lagen bereit für die Offiziere, welchen ab und zu ein kurzer Urlaub Gelegenheit gab, die Garnison zu verlassen. Aber alle diese Kommunikationsmittel waren von Posten bewacht und durften ohne besondere, vom Kommandanten unterzeichnete Order nicht benützt werden.

Das Innere der Festung, in welches man durch ein fast unmittelbar vor dem Wasser sich öffnendes Tor mit düsterer Wölbung gelangte, bildete einen gepflasterten Hof, welcher von allen Seiten übersehen werden konnte. Vor den in den Kasematten befindlichen Kasernen standen hölzerne Tische und Bänke, an welchen die Soldaten nach abgemachtem Dienst frische Luft schöpfen und sich bei einem von den Marketenderinnen gekauften Glase Branntwein unterhalten konnten, ohne jedoch jemals der Aufsicht ihrer Vorgesetzten entzogen zu werden.

In der Mitte dieses inneren Raumes stand ein kleines, unvollendetes Haus, welches der Kaiser Peter III. zu bauen befohlen hatte, wie er öffentlich sagte, damit es dem in Schlüsselburg gefangenen Kaiser Iwan, dem unglücklichen Sohne der Regentin Anna Iwanowna und des Herzogs Ulrich von Braunschweig, zur Wohnung dienen sollte, das aber in der Tat für seine Gemahlin bestimmt gewesen war.

Im Hintergrunde des Hofes lag ein kleineres, für sich allein abgeschlossenes, mit eigenen Türmen und Toren versehenes Kastell, dessen Kanonen den ganzen Hof und die übrige Festung zu bestreichen vermochten, so daß, wenn ein Feind selbst die Festung erobert haben würde, derselbe von diesem Kastell aus unter den Trümmern seiner eigenen Eroberung begraben werden konnte.

Dieses Kastell wurde mit ganz besonderer Sorgfalt bewacht, ein starker Posten stand vor dem Gittertor, so daß niemand Eingang erhielt, dessen Dienst ihn nicht in das Innere des Kastells führte; aus den Schießscharten der Türme ragten Geschützrohre hervor, und Kanoniere mit brennenden Lunten hatten neben diesen Geschützen ihren Dienst. Von dem Gittertor aus führte ein schmaler, dunkler Gang in das Innere des Kastells und am Ende desselben befanden sich die Räume des Staatsgefängnisses, in dessen stark vergitterte Fenster nur während weniger Stunden des Tages die Strahlen der über die Hofmauern hinziehenden Sonne fielen.

In diesem Gefängnisse war lange Zeit der Minister Karls XII., Graf Piper, gefangen gehalten worden, bis derselbe hier im Jahre 1715 starb; jetzt diente dasselbe dem unglücklichen Iwan zum Aufenthalt.

Das Leben in dieser Festung war wegen des strengen Dienstes und der verschärften Vorsichtsmaßregeln ungemein einförmig und wenig unterhaltend; die Offiziere erhielten nach der Reihenfolge ihrer Anciennität einzeln oder auch wohl zu Zweien und Dreien Urlaub, um sich nach Petersburg zu begeben und dort sich einen oder zwei Tage lang an dem fröhlichen Leben der Residenz zu erholen; die übrige Zeit verbrachten sie trübe und traurig in der einsamen, von allem menschlichen Verkehr abgeschlossenen Festung. Ihre einzige Zerstreuung bestand in der Fischerei und der Jagd an den Ufern des Ladogasees und der Newa, wozu der Kommandant der Festung, der General Berednikow, ihnen zuweilen die Erlaubnis erteilte, um für die Tafel einige Abwechslung an Wild und vorzüglichen Fischen herbeizuschaffen. Den Abend brachten sie trinkend und plaudernd in ihren Versammlungszimmern im Erdgeschoß unter der Wohnung des Kommandanten zu, einander erzählend von den Abenteuern, die sie bei ihren Ausflügen erlebt, um auf diese Weise so gut als möglich den Dienst in dieser traurigen Garnison zu ertragen, welche für sie fast ebenso sehr ein Kerker war, als für die in derselben eingeschlossenen Staatsgefangenen.

Der Leutnant Mirowitsch war sonst nicht nur ein im Dienst außerordentlich pünktlicher Offizier, sondern auch ein guter und fröhlicher Kamerad gewesen; und wenn ihn auch seine Liebe für die schöne französische Schauspielerin nachdenklich und träumerisch stimmte, so hatte er doch niemals in der Gesellschaft seiner Kameraden gefehlt, unter denen er, obgleich er fast der Ärmste von allen war, eine hervorragende Rolle spielte und großen Einfluß ausübte, sowohl durch sein festes, mutiges Wesen und die mannigfachen Kenntnisse, die er sich durch eigenes Studium angeeignet hatte, als auch durch seine liebenswürdigen geselligen Eigenschaften. Am Tage nach der großen Parade vor der Kaiserin aber hatte er sich sogleich nach dem abgemachten Dienst auf sein Zimmer zurückgezogen, und vergebens erwarteten ihn seine Kameraden in dem allgemeinen Versammlungszimmer.

Die Wohnung des Leutnants Mirowitsch bestand aus zwei kleinen, niedrigen Turmzimmern an einer der vorspringenden Ecken der Festung; die Fenster waren schmal und von außen vergittert, sie boten die Aussicht auf die weite Wasserfläche des Ladogasees und einen Strich des mit Schilf und niederem Gestrüpp bewachsenen Ufers. Das Wohnzimmer war einfach mit hölzernen Möbeln ausgestattet; auf einem Tische lagen aufgeschlagen verschiedene französische Bücher, welche bewiesen, daß der junge Offizier die Einsamkeit des Garnisonslebens, so gut es ging, zu seiner Ausbildung in verschiedenen Wissenschaften zu benützen versuchte. Der einzige mit Leder überzogene Polsterstuhl war an das Fenster gerückt und Wassili Mirowitsch saß in sich zusammengesunken da, weit hinausblickend auf die Wellen des Ladogasees, die, vom frischen Ostwinde bewegt, sich in weißem Schaum kräuselten.

Wohl hatte er auch sonst hier gesessen, aber dann hatten seine Augen hoffnungsvoll geleuchtet und über den Wellen des Sees war ihm die Gestalt der Geliebten, umgaukelt von reizenden, hoffnungsvollen Bildern einer holden Zukunft, erschienen; heute aber blickte er starr und finster auf das Wellenspiel hin, zuweilen ballte sich seine Hand und seine Lippen flüsterten den Namen der Geliebten, aber nicht wie sonst sehnsüchtig und doch glücklich lächelnd, sondern dumpf und verzweiflungsvoll.

Lange schon hatte er so dagesessen, als die Tür seines Zimmers sich öffnete und der Leutnant Pavjel Sacharjewitsch Uschakoff eintrat.

Mirowitsch fuhr bei dem Geräusch der geöffneten Tür zusammen; als er jedoch den eintretenden Kameraden erkannte, seufzte er tief auf und streckte ihm mit einem matten Lächeln die Hand entgegen.

»Du bist allein, Wassili?« sagte Uschakoff, indem er einen Stuhl neben Mirowitsch heranzog und einen der mit türkischem Tabak gefüllten Tschibuks anzündete, welche auf einem Brett an der Wand bereit standen. »Du ziehst dich von den Freunden zurück; was fehlt dir?«

»Du fragst mich«, erwiderte Mirowitsch, »was mir fehlt, und du hast doch gesehen, wie schnöde die Bitte um Gnade – nein, um Gerechtigkeit zurückgewiesen wurde, die ich an die Kaiserin richtete. Damit ist meine letzte Hoffnung versunken; was sollte ich unter den Freunden tun, deren Fröhlichkeit in meinem Herzen keinen Widerhall findet?«

»Es ist hart, Wassili,« sagte Uschakoff, »ich fühle es mit dir; aber mein Gott, noch ist nicht alles verloren! Und wenn die Kaiserin wirklich unerbittlich bleibt, wir haben die Armut ertragen gelernt; wir sind darum nicht minder fröhlich gewesen, weil wir arm waren, und uns bleibt doch die Hoffnung des Soldaten auf die Generalsfedern und den Marschallstab!«

Mirowitsch zuckte die Achseln.

»Das war früher, Pavjel Sacharjewitsch«, sagte er; »damals drückte mich die Armut nicht, denn ich war nur allein in der Welt, aber jetzt ist das anders. Du weißt ja, daß ich liebe, du weißt ja, daß ich nur deshalb von der Kaiserin Gerechtigkeit forderte, um das Glück meiner Liebe erringen zu können, und nun ist alles verloren für mich; Adelinens Mutter hat mich zurückgewiesen, ich darf sie nicht mehr sehen und sie soll,« sagte er knirschend, »dem alten, elenden Schurken Firulkin ihre Hand reichen; zwar wird sie widerstehen, aber wird man sie nicht verfolgen und ängstigen? Wird man nicht alles aufbieten, ihren Widerstand zu brechen? – Und auch wenn sie fest bleibt, für mich ist sie dennoch verloren! Was kann ich ihr bieten, der arme Offizier? – Von der Hoffnung auf die Generalsfedern und den Marschallstab«, lachte er bitter, »können wir nicht leben!«

»Sei vernünftig, Wassili,« erwiderte Uschakoff, »die Liebe zu der Französin kann doch so ernst nicht sein, daß dein ganzes Leben davon abhängt. Ich habe das für eine Zerstreuung gehalten, die so gut war wie eine andere; aber jetzt gib sie auf, setze deine Jugendkraft, deinen Mut und deine Hoffnung nicht an eine Phantasie; ein Soldat muß keine Fesseln tragen, um Ruhm und Ehre zu erwerben, und willst du Ersatz für die Güter deiner Familie, welche die Kaiserin dir verweigert, so gibt es ja auch der reichen Mädchen unseres Landes genug, die der kühnen Werbung eines Offiziers vom Regiment Smolensk zugänglich sind.«

»Nein, Pavjel,« erwiderte Wassili, »du weißt nicht, was Adeline mir ist; ich kann nur einmal lieben und werde nie einer andern meine Hand reichen, nie einen Blick auf eine andere wenden!«

»Und doch«, sagte Uschakoff, »bitte ich dich: vergiß sie mit männlicher Kraft, vergiß sie im Kreise deiner Freunde und laß den Ehrgeiz dir die verlorene Liebe ersetzen!«

»Niemals, niemals!« rief Mirowitsch. »Ich werde sie nie vergessen und werde sie dennoch nicht aufgeben, und wenn statt der Kaiserin und dieses übermütigen Orloff, statt des schleichenden Schurken Firulkin die ganze Hölle mir entgegenträte!«

»Du bist wahnsinnig, Wassili«, erwiderte Uschakoff; »was könntest du tun, um so unabwendbarem Verhängnis zu trotzen?«

»Was ich tun könnte?« erwiderte Mirowitsch, indem er seinen flammenden Blick auf den Freund richtete. »Wer die Furcht nicht kennt, kann alles überwinden! Auch du bist tapfer, mutig und entschlossen, auch du bist arm wie ich, auch du kannst im Kampfe mit dem Schicksal kaum mehr verlieren als das elende Leben, aber alles gewinnen, was dem Leben Schmuck und Reiz verleiht. Ja, ja,« rief er, Uschakoffs Hand erfassend, »du bist mein Gefährte, mein Kampfgenosse in dem Ringen um das Glück! Allein kann ich's ja doch nicht vollbringen, was dämmernd aus den Tiefen meiner Seele aufstieg und immer festere, immer klarere Gestalt annimmt!«

»Du hast einen Gedanken, einen festen Plan?« fragte Uschakoff. »Ich begreife nicht –«

»Doch solltest du's begreifen,« sagte Mirowitsch, »gerade hier begreifen, hier, wo der Schatz verborgen liegt, der uns weit über die kühnsten Träume hinaus Reichtum, Größe und Macht bringen kann, wenn wir es verstehen, ihn zu heben! Ja, du sollst mein Gefährte sein, mit dir vor allem will ich die blendende Herrlichkeit der Zukunft teilen, die ich in lichtem Glanze vor mir sehe!«

Uschakoffs lauernde Blicke hafteten auf dem erregten Gesicht seines Freundes, seine Hand zitterte.

»Was träumst du?« fragte er; »ich begreife immer noch nicht.«

»Und doch sollten es dir«, sagte Mirowitsch, »jene weißschäumenden Wellen dort verkünden, wie sie es mir verkündet haben, denn sie hüten ja das Geheimnis des Talismans, der uns aus Niedrigkeit und Armut zu den höchsten Höhen des Glückes erheben kann. Pavjel,« fuhr er fort, »du hast dort, als wir aufmarschiert standen zur Parade, als der vernichtende Blitz meine letzte Hoffnung traf, du hast gesehen die ganze Waffenmacht jener Katharina, den ganzen strahlenden Glanz des Hofes, der ihre kaiserliche Herrlichkeit umgibt! Nun denn, wo wäre diese Macht, wo wäre diese Herrlichkeit, wenn es ihr, die jetzt über Rußland herrscht, nicht gelungen wäre, die Krone dem schwachen Haupte ihres Gemahls zu entreißen, wenn das Glück nicht ihrem kühnen Mute gehörte? Längst wäre sie zu Staub versunken oder sie schmachtete vergessen in den Kerkermauern!«

»Wassili, was sprichst du da?« fragte Uschakoff, indem seine Hand stärker zitterte.

»Und denke weiter zurück«, fuhr Wassili fort. »Was wäre Elisabeth Petrowna, was wäre Peter Feodorowitsch gewesen, wenn es einen kühnen und starken Arm gegeben hätte zum Schutze des armen Iwan, dessen Wiege die Kaiserkrone schmückte? Ihm würde heute alle Waffenmacht des weiten Rußlands gehorchen, ihn würde aller Glanz des Thrones umgeben, und niemals wäre der Name Elisabeths und Peters, niemals der Name Katharinas gehört worden!«

»Wassili, Wassili,« rief Uschakoff, »um Gottes willen, welche Worte sprichst du? Auch die toten Steine dieser Mauern dürfen sie nicht hören!«

»Worte sind nichts«, erwiderte Mirowitsch; »aus den Worten wachsen die Taten und auf die Taten baut sich das Glück, die Größe und die Macht. Die Vergangenheit ist nicht gestorben, Pavjel, sie haben es nicht gewagt, das Blut der Purpurgeborenen zu vergießen; sie haben diese Vergangenheit hier eingeschlossen, hier in diese finsteren Mauern und in die Wellen der Newa und des Ladogasees, während sie auf ihrer glänzenden Höhe sich sicher fühlen; aber die Wellen kennen das Geheimnis und die Wellen flüstern wunderbare Dinge, wenn man ihnen zuhört, wie ich es getan hier in der Einsamkeit meines Zimmers!«

Er sprang auf, streckte die Hand durch das Gitter nach dem Ladogasee aus und sprach in dumpfem Tone:

»Wenn das Verließ sich öffnete – so rauscht das Lied der Wellen zu mir herauf –, wenn der, den sie lebendig begraben haben, jahre- und jahrelang, heraufstiege aus seinem Kerker und sich den Garden zeigte und dem Volke von Petersburg, in seiner Gestalt so ähnlich dem großen Kaiser, wo würde sie bleiben, jene Herrlichkeit des fremden Weibes? – War der Sproß vom Blute der echten Zaren schon gefährlich für Elisabeth und Peter Feodorowitsch, die doch von demselben Blute stammten, wieviel gefährlicher ist er für diese Kaiserin! Wie würde seinem Rufe das Volk begeistert zuströmen, wie würde vor seiner Erscheinung, vor dem Hauch seines Mundes der blutbefleckte Thron zusammenbrechen! Und wer ihn heraufführte aus seinem Kerker, wer das Morgenrot eines neuen Tages der Gerechtigkeit, der Wahrheit und Freiheit über Rußland aufgehen ließe; wer den Ruf und die Mahnung dieser Wellen verstünde und zum Werkzeug der Vorsehung sich darböte, glaubst du, Pavjel, daß der noch der Gnade dieser Kaiserin und dieses Orloff bedürfte? Glaubst du nicht, daß dessen Name über alle anderen hinaufklingen würde im neuen Rußland unter dem rechten und gerechten Zaren? Nun, Pavjel,« rief er, beide Hände auf die Schultern des Freundes legend und starr in dessen Gesicht blickend, »hier in diesen Mauern schlummert die herrliche Zukunft Rußlands, welche dem gehört, der sie erweckt, und wir – wir, Pavjel, sind ihre Wächter!«

»Du träumst, Wassili«, sagte Uschakoff; »was du sprichst, ist Hochverrat!«

»Hochverrat?« lachte Mirowitsch höhnisch, »Hochverrat – an ihr, in deren Adern kein Tropfen russischen Blutes fließt?«

»Und dann,« sagte Uschakoff mit lauernden Blicken, »es ist wahnsinnig, es ist unmöglich!«

»Unmöglich?« rief Mirowitsch. »Als Iwan, der in diesem Kerker schmachtet, noch in seiner gekrönten Wiege ruhte, hätte da nicht die matte Alltäglichkeit auch das Reich der Kaiserin Elisabeth für unmöglich erklärt? Und schien es nicht eines Tages ganz unmöglich, daß die zweite Katharina jemals Rußland beherrschen sollte? – Nichts ist unmöglich für Männer, die zu wollen verstehen!«

»Und doch begreife ich nicht,« sagte Uschakoff, »wie es geschehen kann.«

»Es ist leichter, als du glaubst,« erwiderte Mirowitsch, »eben ist mir das alles durch den Kopf gegangen, fast sah ich es schon vollendet vor mir. Waren es die Wassergeister, die aus den Wellen herauf mit mir sprachen, oder waren es meine eigenen Gedanken? Aber leichter ist es hier auszuführen als irgend wo anders; hier in dieser Einsamkeit, der kein Mensch nahen darf, aus der keine Kunde dringt in die übrige Welt, und doch dem Thron so nahe, so nahe dem Mittelpunkte der Macht, daß wir nur die Hand ausstrecken dürfen, um die Krone der Fremden zu entreißen und sie auf das Haupt des rechten Erben zu setzen. Es ist nur nötig,« fuhr er sinnend fort, »die Soldaten hier zu gewinnen, nur die ältesten und festesten, die anderen folgen von selbst nach; dann sind wir Herren des Platzes, niemand weiß etwas davon; keine Nachricht kann nach Petersburg dringen, und wir bedürfen dann nur weniger Vertrauten in den Kasernen der Garden, welche die Mannschaften vorbereiten, um in der Nacht den befreiten Gefangenen dorthin zu führen, und in wenigen Augenblicken wird ihm die Krone seiner Kindheit und uns die höchste Macht im Reiche gehören!«

»Du schwärmst,« sagte Uschakoff, »du schwärmst; und doch,« sagte er gesenkten Hauptes, »doch magst du vielleicht recht haben; alles könnte geschehen, wie du es sagst, wenn das Glück lächelte; aber bedenke, Wassili, der Weg zum Gelingen führt hart am Schafott vorbei!«

»Besser, auf dem Schafott zu enden, als in Elend und Niedrigkeit verderben; ich habe den Mut, auch dem Schafott zu trotzen; willst du mir folgen, so laß uns kühn ans Werk gehen; zagst du, so gehe ich allein oder suche mir andere Genossen!«

»Gut denn,« sagte Uschakoff, »ich bin bereit, Wassili, denke über deinen Plan nach, ich werde dir gehorchen; du hast das ungeheure Unternehmen ersonnen, du sollst der Führer sein.«

Mirowitsch öffnete ein Schubfach seines Tisches und nahm aus demselben ein kleines, äußerst kunstvoll gearbeitetes, ziseliertes und mit Edelsteinen besetztes Kruzifix hervor.

»Sieh hier, Pavjel Sacharjewitsch,« sagte er, »dieses ist das einzige Erbe meiner Vorfahren, das mir blieb; mein Ahnherr trug es auf seiner Brust, als er im Kampfe fiel; ein treuer Kosak brachte es seinem Sohne, meinem Großvater, und so ist es auf mich gekommen. Lege deine Hand auf das heilige Zeichen, das für mich eine teure Reliquie ist, und schwöre mir, treu zu mir zu halten; schwöre mir, mit mir die Gefahren zu teilen und mich nie zu verlassen und an meiner Seite zu stehen, bis alles vollendet ist, zum Siege oder zum Untergange!«

Mirowitsch umarmte den Freund, nachdem dieser den verlangten Schwur geleistet; er war ja nun sicher, daß der Gefährte ihn nicht verlassen und zu ihm stehen werde in dem tollkühnen Unternehmen, das in jedem anderen Lande als Wahnsinn erschienen wäre, dem aber in Rußland die drei letzten Regierungen zum ermutigenden Beispiel dienen konnten.

Der junge Mann hatte sich nur die Genossenschaft auf seinem Wege beschwören lassen, nicht die Verschwiegenheit; denn der Gedanke an einen Verrat des Waffengefährten fand in seinem ritterlichen Sinn keinen Platz.

Noch ruhte Uschakoffs Hand auf dem Kruzifix, noch war kaum das letzte Wort seines Schwurs verklungen, als die Tür geöffnet wurde und ein Ordonnanzsoldat eintrat.

»Auf Befehl des Herrn Kommandanten,« sagte der Soldat, während die beiden Offiziere erschrocken auseinandertraten, »hat der Herr Leutnant Mirowitsch heute den Dienst in dem Kastell anzutreten!«

»Das ist der Wink des Schicksals,« flüsterte Mirowitsch, »der Wink des Glücks!«

»Auch den Herrn Leutnant Uschakoff habe ich gesucht,« fuhr der Soldat fort, »um ihn zu meinem Kommandanten zu rufen.«

»Und was gibt's?« fragte Uschakoff.

»Ich habe gehört,« erwiderte der Soldat, »daß der Herr Leutnant eine Meldung nach Petersburg bringen soll.«

»Geh,« sagte Uschakoff, »melde meinem General, daß ich sogleich erscheinen werde.«

»Nun, Freund,« rief Mirowitsch, als der Soldat sich entfernt hatte, »was sagst du? Haben die Wellen unrecht, ist es nicht eine wunderbare Fügung, die mich gerade jetzt zum Dienst in das Kastell ruft? Der Gefangene muß vorbereitet sein, wenn das Werk gelingen soll; eine plötzliche, unerwartete Befreiung könnte ihm einen jener Anfälle zuziehen, an denen er zuweilen leidet, und der es unmöglich machen würde, ihn dem Volke zu zeigen. Und dich sendet der General nach Petersburg, auch das ist eine Fügung des Glücks; suche einen Freund, dem du vertrauen kannst, denn wir müssen einer Kaserne, eines Regiments wenigstens sicher sein. Du kennst Semen Tschewaridew, er ist kühn und mutig, sprich mit ihm, der Preis wird uns gehören, er ist zurückgesetzt gegen einen Günstling des Hofes, – benutze deine Zeit, wirb ihn an für uns, wenn du kannst; wenn uns nur eine Kaserne gehört, nur ein Regiment, so werden wir das Spiel gewinnen, bei dem unser Leben der Einsatz und die Herrschaft über Rußland der Preis ist!«

»Sei ruhig,« erwiderte Uschakoff, »ich werde tun, was ich vermag, und deinem Befehl gehorsam sein, wie ich es versprochen.«

»Welch ein Glück,« rief Mirowitsch, »welch ein Glück, daß gerade ich heute zum Kastell befohlen werde und daß dich der Kommandant für die Meldung nach Petersburg auserwählte! Wochen hätten vergehen können, ehe uns eine so günstige Gelegenheit gekommen wäre. O Adeline, Adeline, die dunklen Wolken öffnen sich und wunderbares Licht strahlt uns entgegen! Doch halt,« sagte er plötzlich, sich besinnend, »versuche, ob es dir möglich ist, zu Adeline zu dringen; vielleicht wird ihre Mutter sie bewachen und einen Offizier meines Regiments nicht empfangen wollen, aber du kannst ihr auf dem Wege zur Probe begegnen; biete alles auf, sie zu sehen, bringe ihr meinen Gruß, bringe ihr ein Wort der Hoffnung und beschwöre sie, daß sie mir treu bleibt, daß sie ausharrt, bis ich,« fügte er, die Arme ausbreitend, hinzu, »eine Fürstenkrone auf ihr Haupt setzen kann.«

»Gib mir eine Zeile mit«, sagte Uschakoff; »sie kennt mich wenig, sie wird mehr Vertrauen zu mir gewinnen, wenn ich ihr ein Billett von dir bringe.«

»Du hast recht, du hast recht!« rief Mirowitsch. »O welches Glück, daß alles sich so fügt! – Nicht wahr, es muß gelingen!?«

Er schrieb hastig ein Billett und verschloß dasselbe mit seinem Siegel.

»Hier nimm, Pavjel«, sagte er; »der Gott der Liebe und der Schutzgeist Rußlands mögen dich begleiten.«

Er umarmte Uschakoff, der das Billett in seine Uniform steckte und dann schnell, dem Befehle gemäß, sich zum Kommandanten begab.

Mirowitsch kleidete sich hastig mit zitternden Händen dienstgemäß an, denn bereits war die Stunde gekommen, die ihn zum Dienst in dem Kastell rief.

Die Wachtmannschaft stand bereits im Hofe aufmarschiert; er führte dieselbe nach dem Gittertor, löste die Posten vorschriftsmäßig ab und marschierte mit seiner Abteilung in den dumpfhallenden Torgang des Kastells ein, um überall die neuen Wachen aufzustellen und sich dann der strengen Dienstvorschrift gemäß in das unmittelbar neben der Wohnung des Gefangenen befindliche Wachzimmer zu begeben, das der Offizier vom Dienst nur zu den regelmäßigen Inspizierungen der Posten verlassen durfte.

Uschakoff hatte inzwischen vom Kommandanten seine Briefschaften und zugleich die Order empfangen, welche ihm einen Prahm zum Übersetzen über die Newa zur Verfügung stellte.

Er führte eines der zum Festungsdienst bestimmten Pferde am Zügel bis zum Festungstor, die zur Überfahrt kommandierten Soldaten ergriffen die Ruderstangen und, das unruhige Tier festhaltend, fuhr Uschakoff auf dem flachen Fahrzeug über den breiten Arm des unruhig bewegten Stromes hin.

Der Abend dunkelte bereits, Gewitterwolken standen am Himmel, der Wind rauschte durch das Schilf und die Weiden des Ufers.

»Wenn er recht hätte,« sagte Uschakoff leise vor sich hin, indem er, die Hand auf die Mähne seines schnaubenden Pferdes gestützt, über das wogende Wasser hinblickte, »wenn das Lied der Wellen von künftiger Macht und Herrlichkeit, das er zu hören meint, ihm wirklich die Wahrheit entgegentönte? Was er ersinnt, kann gelingen, wie Ähnliches schon gelang, und die Zukunft wird denen gehören, die es vollbracht. Wäre es nicht wert, das Werk mit ihm zu wagen? – Aber der Einsatz ist das Leben; das Leben kann man nur einmal verlieren, und auch der höchste Gewinn ist nicht des Lebens Einsatz wert. – Nein, nein, ich will das Leben behalten und ohne tollkühnes Spiel es schmücken mit Reichtum, Glanz und Ehre auf meinen Wegen!«

Der Prahm stieß ans Land. Uschakoff schwang sich auf sein Pferd und ritt in scharfem Trabe auf der einsamen Straße nach Petersburg am Ufer der Newa dahin.


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