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19. Kapitel

Das kleine Haus, welches Madame Lemaitre mit ihrer Tochter Adeline in der unbedeutenden Nebengasse der Fontankastraße bewohnte, war der Mittelpunkt einer eigentümlichen, geheimnisvollen Bewegung geworden, welche zwar von den Bewohnern jener Stadtgegend nicht bemerkt wurde, aber dennoch einem zur Aufmerksamkeit auf kleine Dinge gewöhnten Auge nicht entgangen wäre.

Dem Hause der Madame Lemaitre gegenüber wohnte ein Kaufmann, welcher infolge einer von der Regierung erteilten Lizenz englische Waren feilhielt und sich eines ganz besonderen Zuspruches in den hohen Beamtenkreisen erfreute, so daß oft die Nachbarn sich an ihn wendeten, wenn sie dieses oder jenes kleine Anliegen an eine Behörde hatten, bei welcher Gelegenheit er dann auch fast immer die Wünsche seiner guten Freunde zur Erfüllung brachte und als Dank ein den Vermögensverhältnissen derselben angepaßtes Geschenk nicht verschmähte.

In dem Hause dieses Kaufmanns waren, wie in den meisten Häusern der Gegend, möblierte Zimmer zu verschiedenen höheren oder geringeren Preisen zu vermieten, die teils von Fremden, welche die Residenz der nordischen Semiramis zu bewundern kamen, teils von jungen Offizieren, welche in den Kasernen kein Unterkommen fanden, oder auch von Künstlern und Handlungskommis in häufigem Wechsel bewohnt wurden.

In dem Hause dieses Kaufmanns erschien ein Mann von militärischer Haltung, aber in einen einfachen Zivilanzug gekleidet; er hatte nach einer längeren Unterredung, die er mit dem Hausherrn in dessen Privatkabinett ohne Zeugen führte, die beste der eben freistehenden Wohnungen gemietet, deren Fenster gerade denjenigen der Madame Lemaitre in gleicher Höhe gegenüberlagen.

Der Fremde war noch an demselben Tage mit einigen Koffern eingezogen; er war der Polizei des Reviers unter einem französischen Namen und unter Vorzeigung eines in vollkommenster Ordnung befundenen Passes angemeldet worden. Er sprach mit den Dienern des Hauses, die er wenig in Anspruch nahm, nur das Notwendigste mit einem stark fremdartigen Akzent, und in der Nachbarschaft galt er für einen jener französischen Reisenden, die damals ganz besonders häufig nach Petersburg kamen, um die Residenz der russischen Selbstherrscherin kennen zu lernen, welche den französischen Gästen bei jeder Gelegenheit so ausgezeichnete und schmeichelhafte Huldigungen erwies.

Der Fremde, welcher sehr viel Zeit für seinen Aufenthalt in Rußland ausgesetzt hatte, zeigte indes wenig Eifer, die Merkwürdigkeiten der in einem Jahrhundert aus unwirtbaren Mooren emporgestiegenen Kaiserresidenz kennen zu lernen, da er nur selten ausging und fast den ganzen Tag an den Fenstern seiner Wohnung verbrachte, wo man ihn in die Lektüre eines aufgeschlagenen Buches vertieft, die Augen mit einer großen Brille bedeckt, sitzen sehen konnte; dagegen mußte er viele Beziehungen und Bekanntschaften in der Stadt haben, denn schon vom frühen Morgen an empfing er zahlreiche Besuche von Personen verschiedenen Alters und Aussehens, und fast immer waren mehrere dieser Besuche bei ihm, was ihn jedoch nicht abhielt, seinen Platz am Fenster zu behaupten und seine Lektüre fortzusetzen, wobei er nur zuweilen einige Worte nach dem Innern des Zimmers hinsprach.

Der Hauswirt teilte dann auch gelegentlich dem einen oder dem andern Nachbar mit, daß der Fremde ein französischer Gelehrter sei, welcher sich des Wohlwollens der Regierung erfreue und sich mit wissenschaftlichen Studien beschäftige, bei denen ihm die Unterstützung verschiedener gelehrter Freunde zuteil werde.

Dies alles erregte nur eine sehr geringe Aufmerksamkeit und interessierte die Bewohner der Straße sehr wenig; ein fremder Gelehrter, der den ganzen Tag las und still und eingezogen lebte, hatte für niemand einen Reiz; wäre es ein junger, schöner und glänzender Kavalier gewesen, so hätte vielleicht die Neugier der Frauen und Mädchen und das Geschäftsinteresse der Kaufleute sich um ihn gekümmert. So aber blieb er vollständig unbeachtet, man gewöhnte sich in wenigen Tagen daran, den Fremden mit seinem Buch und seiner Brille fast als einen Teil des Hauses zu betrachten, an dessen Fenstern man ihn unablässig sitzen sah.

Auch Fräulein Adeline und Frau Lemaitre, welche anfänglich sich durch dieses fast niemals vom Fenster weichende Visavis belästigt fühlten, gewöhnten sich bald an dasselbe, und da der Fremde niemals einen Blick hinüber warf, niemals sich im allergeringsten um das gegenüberliegende Haus zu kümmern schien, so öffneten sich bald die anfangs geschlossenen Fenster wieder, und Fräulein Adeline bewegte sich in ihrem Zimmer so unbefangen, als ob der Fremde gar nicht vorhanden wäre; und dennoch schien ein gewisser Zusammenhang, freilich von niemand wahrgenommen, zwischen der Wohnung des fremden Gelehrten und derjenigen der jungen Schauspielerin zu bestehen.

Der Leutnant Uschakoff kam nach seinem ersten Besuche öfter zu Fräulein Adeline, zur großen Freude des jungen Mädchens und zum ebenso großen Verdruß ihrer Mutter, welche trotz der gnädigen Worte der Kaiserin kein Vertrauen in die romantischen Beziehungen ihrer Tochter zu dem Leutnant Mirowitsch setzte und ihre Zukunftshoffnungen lieber auf die konkrete Basis der Millionen Firulkins aufbauen mochte, es dennoch aber nicht wagte, die Besuche Uschakoffs zurückzuweisen, und sich nur im stillen freute, daß Mirowitsch selbst nicht wieder in ihrem Hause erschien.

Uschakoff brachte Fräulein Adeline jedesmal ein Billett ihres Geliebten, das er ihr geschickt in die Hand spielte und das sie mit Entzücken erfüllte, da Mirowitsch ihr jedesmal voll Hoffnung schrieb und ihr, wenn auch in etwas geheimnisvollen, unverständlichen Ausdrücken, so doch in voller Zuversicht eine glückliche Zukunft in Aussicht stellte, welche alle ihre Erwartungen übertreffen würde.

Sie hatte ihm gleich in ihrem ersten Briefe mitgeteilt, daß sie eine persönliche Bitte an die Kaiserin gewagt, und eine gnädige Zusicherung erhalten habe, und war erstaunt, daß Mirowitsch auf diese freudige Mitteilung nicht geantwortet hatte, sondern nur häufig in den Billetten, die er ihr sendete, die Worte wiederholte:

»Traue derjenigen nicht, auf welche du deine Hoffnungen setzest!«

Sie wußte ja nicht, daß alle ihre Briefe, die sie so glücklichen, vertrauensvollen Herzens dem Kameraden ihres Geliebten übergab, von diesem dem Feldzeugmeister überbracht wurden, und daß keiner von ihnen jemals in die Hände ihres Geliebten gelangte.

Uschakoff sagte seinem Freund jedesmal, daß es Fräulein Adeline ganz unmöglich sei, die Wachsamkeit ihrer Umgebung zu täuschen und einen unbewachten Augenblick zum Schreiben zu finden.

Mirowitsch kannte ja den Zwang, unter welchem Adeline unter der Aufsicht ihrer Mutter bei der Eifersucht Firulkins leben mußte, und fand daher die Mitteilung Uschakoffs ganz natürlich, um so mehr, da er nicht auf den leisesten Gedanken eines Zweifels an dem Kameraden und Freund kommen konnte, der mit ihm gemeinsam in so hoch gefährlichem Spiel seinen Kopf einsetzte. Um aber wenigstens einen gewissen Zusammenhang in diese einseitige Korrespondenz zu bringen und bei Adeline keinen Verdacht zu erwecken, hatte er Mirowitsch erzählt, daß das junge Mädchen entschlossen sei, bei der nächsten sich darbietenden Gelegenheit nochmals für ihn die Gnade der Kaiserin anzurufen, und daß sie sich von diesem Schritt großen Erfolg verspreche, da die Kaiserin ihr stets huldvolle Freundlichkeit bewiesen habe.

Auf diese Mitteilungen Uschakoffs bezogen sich die Mahnungen, durch welche Mirowitsch das Vertrauen seiner Geliebten auf die Kaiserin herabzustimmen suchte, und Adeline ihrerseits sah wiederum in den stets sich wiederholenden Bemerkungen, welche sie nur auf die Kaiserin beziehen konnte, eine Antwort auf ihre Briefe und einen Ausfluß des Mißtrauens, das sie immer von neuem wieder zu überwinden versuchte.

Sie schrieb ihre Antworten stets, während sie sich in ihrer Garderobe für die Probe ankleidete und übergab dieselben Uschakoff dann beim Ausgange aus dem Theater.

Uschakoff benützte seine häufige Anwesenheit in Petersburg, zu der die ihm übertragene regelmäßige Ablieferung der Rapporte des Kommandanten von Schlüsselburg die Gelegenheit gab, jedesmal zu einem Besuch in Fräulein Adelines Hause, um ihr nach dem Empfang ihres Billetts Zeit zur Antwort zu lassen, und auch um Madame Lemaitre zu täuschen, welche diese häufigen und öffentlichen Besuche nur für ein von Mirowitsch gewähltes Mittel ansah, ihre Tochter bei den neu entstandenen Hoffnungen ihrer Liebe in ihrer Treue zu ihm festzuhalten, und gerade weil diese Besuche so häufig und so öffentlich stattfanden, hatte sie keinen Verdacht eines weiteren Verkehrs.

Nun fügte es sich in eigentümlicher Weise stets so, daß jedesmal, wenn Uschakoff das Haus der Madame Lemaitre verließ, unmittelbar darauf einer der zahlreichen und verschiedenen Besucher des fremden Franzosen aus dem Hause des Kaufmanns gegenüber heraustrat und sich genau auf demselben Wege entfernte, welchen Uschakoff genommen; er folgte dann dem Offizier in einer gewissen Entfernung, von diesem bei der Bewegung auf den Straßen unbemerkt, und wohin auch Uschakoff seine Schritte richten mochte, immer blieb sein Verfolger fest auf seiner Spur, er wartete selbst vor dem Palais des Feldzeugmeisters auf ihn und stellte seine Verfolgung erst ein, wenn Uschakoff abends im Hofe der Kommandeure wieder zu Pferde stieg und, durch die Vorstadt hinausreitend, den Weg nach Schlüsselburg einschlug.

An jedem Tage war diese Persönlichkeit, welche Uschakoffs Spuren folgte, eine andere, und um so weniger konnte der Offizier, welcher sich unter dem Schutze des allmächtigen Fürsten Orloff ganz sicher und sorglos fühlte, diese Überwachung bemerken, selbst wenn ihm an einem Tage bei irgendeiner Gelegenheit sein geheimnisvoller Verfolger aufgefallen wäre.

Aber der wundersame Zusammenhang zwischen den beiden Häusern ging noch weiter.

Auch in dem Hause, dessen oberes Stockwerk Madame Lemaitre bewohnte, und das einem wohlhabenden Handwerker gehörte, befanden sich in den Parterreräumen noch einige zur Vermietung bestimmte möblierte Zimmer. Am nächsten Morgen, nachdem der Fremde in das Haus des Kaufmanns eingezogen war, wurden diese Räume von zwei jungen, hübschen und frischen Leuten gemietet, welche etwa neunzehn bis zwanzig Jahre alt sein mochten. Beide legitimierten sich dem Hausherrn und der Revierpolizei gegenüber durch vollkommen richtige Pässe als die Söhne wohlhabender Bürger aus Moskau, welche nach Petersburg gekommen waren, um die Vorlesungen an der von dem Grafen Iwan Schuwalow und der Kaiserin Elisabeth gegründeten, und von Katharina beschützten und eifrig weiter entwickelten Akademie zu hören. Auch diese beiden jungen Leute empfingen zahlreiche Besuche von anderen Studenten ihres Alters, aber sie schienen weit weniger mit wissenschaftlichen Studien beschäftigt als der ihnen gegenüber wohnende Fremde. Auch sie brachten einen großen Teil des Tages am Fenster zu, aber nicht mit einem Buche in der Hand; auch waren ihre Fenster nicht verschlossen, sondern sie beugten sich lachend und plaudernd weit hervor, um nach allen Seiten herumzuspähen, bis sie irgendwo einen hübschen Mädchenkopf entdeckt hatten, und wenn ihre Freunde kamen, so schallten laute Unterhaltungen und fröhliches Gelächter weit auf die Straße hinaus; sie machten mannigfache Einkäufe in den umliegenden Läden, bezahlten, ohne zu feilschen, die geforderten Preise, und so waren sie dann bald, abermals ganz im Gegensatz zu ihrem zurückhaltenden und eingezogen lebenden Visavis, der Gegenstand des wohlwollenden Interesses aller Nachbarn; die Frauen und Mädchen saßen kichernd hinter ihren Gardinen, wenn die Studenten an ihrem Fenster erschienen und eroberungslustig umherspähten; die Handwerker und Kaufleute begrüßten die jungen Leute freudig und zuvorkommend, wenn dieselben in den Läden erschienen, um ihre Einkäufe zu machen. Aber auch für die so heiteren, lebenslustigen und übermütigen Studenten schien die Person des Leutnants Uschakoff ein ebenso merkwürdiges und geheimnisvolles Interesse zu haben als für den gelehrten Fremden und die Mitarbeiter an dessen wissenschaftlichen Studien, denn jedesmal, sobald Uschakoff auf der Straße erschien und sein Verfolger in dem gegenüberliegenden Hause seine Spur aufgenommen hatte, verließ auch einer der beiden Studenten oder einer ihrer zahlreichen Freunde die Parterrewohnung des Hauses der Madame Lemaitre, um mit genauer Regelmäßigkeit und ebenso großer Vorsicht dem Offizier und seinem Beobachter überallhin zu folgen. Da auch dieses Geschäft an jedem Tage von einem anderen Studenten besorgt wurde, so blieb es natürlich ebenso unbemerkt.

So geschah es, daß der Leutnant Uschakoff, wohin er sich auch während seines Aufenthaltes in Petersburg nur immer wenden mochte, stets von zwei einander fremden und einander völlig unbekannten Personen verfolgt und beobachtet wurde. Der Unterschied zwischen den beiden so aufmerksamen Wachposten bestand nur darin, daß von der Studentenwohnung aus einer oder mehrere junge Leute auch Fräulein Adeline auf ihren Ausgängen folgten, während die junge Schauspielerin für die Freunde des französischen Gelehrten vollständig gleichgültig war.

Würde ein unbeteiligter Neugieriger sich ebenfalls diesem geheimnisvollen Geleit des Leutnants Uschakoff angeschlossen haben, so würde er, wenn Uschakoff abends sein Pferd bestieg und nach Schlüsselburg hinausritt, haben bemerken können, daß von den beiden Verfolgern der erste sich sogleich in das Marmorpalais begab, während der Student nach dem kaiserlichen Winterpalais eilte und dort in einem der Seiteneingänge verschwand, nachdem er dem Wachposten ein Wort zugeflüstert hatte, das ihm sofortigen Einlaß verschaffte.

Fräulein Adeline hatte ebensowenig wie der Leutnant Uschakoff eine Ahnung von dieser sonderbaren Überwachung ihres Hauses und ihrer Person. Wohl bemerkte sie es mit ihrem feinen weiblichen Instinkt, daß ihr fast regelmäßig einer oder mehrere von den jungen Leuten, deren fröhliche Stimmen sie häufig von unten herauftönen hörte, nachfolgte, aber da diese jungen Leute stets in respektvoller Entfernung blieben, so hielt sie diese Begleitung für eine Art von schülerhafter Huldigung, gegen welche sie nichts einwenden und der sie kaum zürnen konnte, so daß sie stets freundlich dankte, wenn die Studenten sie beim Vorbeigehen an deren Fenster artig grüßten.

Herr Peter Sebastianow Firulkin war schäumend vor Wut nach Hause zurückgekehrt und hatte im ersten Zorn den Entschluß gefaßt, jede Verbindung mit der Schauspielerin, welche ihn mit so höhnischer Verachtung behandelte und in so widerwärtige und peinliche Verwickelungen brachte, kurz abzubrechen und ihr zum Trotz irgendeinem schönen, jungen Mädchen von Petersburg seine Hand zu reichen; war er doch gewiß, daß seine Werbung bei gar vielen bereitwillige Aufnahme finden würde, aber schnell kam er von diesem Entschluß wieder zurück, denn er vermochte es nicht, dem Besitz der schönen Französin, die er schon so sicher gewonnen zu haben glaubte, zu entsagen; auch bei ihm bewährte sich die alte Erfahrung, daß die Flamme der Leidenschaft am schwersten zu löschen ist, wenn sie das dürre Holz des Alters in lodernder Glut erfaßt hat, auch schien ihm die Lage der Dinge, als er, in seinen weiten Hauspelz gehüllt, bei einem alten Tokaier darüber nachdachte, gar nicht mehr so schlimm, als er dieselbe in der ersten Aufwallung seines Zornes aufgefaßt hatte. Es war ja ganz natürlich, daß Mirowitsch, der von Madame Lemaitre so entschieden abgewiesen war, durch einen seiner Kameraden noch den Versuch machte, die Verbindung mit Adeline zu unterhalten, ebenso natürlich war es, daß ein Offizier vom Regiment Smolensk, der von Schlüsselburg nach Petersburg kam, eine Meldung im Palais des Feldzeugmeisters zu machen hatte. An Adelines spöttische und abstoßende Behandlung war er gewöhnt, erst mußte sie ihm ja gehören, um ihren Trotz zu brechen, und der kecke, spöttische Übermut des jungen Offiziers war ebenfalls eine ganz natürliche Sache.

Er fand also bei längerem Nachdenken immer mehr, daß sich eigentlich die Lage der Dinge fast gar nicht zu seinen Ungunsten verändert habe und daß es nur für ihn darauf ankäme, mit Festigkeit und Geschicklichkeit sein Ziel zu verfolgen. Die Hauptsache dabei war, daß er sich die Gunst des allmächtigen Fürsten Orloff erhielt, unter dessen Schutz er sich seine Millionen erworben hatte und der allein imstande war, alle Hindernisse niederzuwerfen, welche sich seiner leidenschaftlichen Gier nach dem Besitz der schönen Adeline entgegenstellten.

Nach dem Grundsatz, den er bei seinen Handelsunternehmungen stets befolgt hatte, beschloß er daher, auch diesmal den ganzen Nachdruck seines Willens und seiner Tätigkeit auf den entscheidenden Punkt, das heißt auf die Gunst des Feldzeugmeisters zu konzentrieren, wenn er dann erst den Besitz Adelines gewonnen hatte, so besaß er die Mittel, ihren Trotz zu brechen, und fast reizte ein solcher Sieg seine Leidenschaft noch mehr, als wenn Adeline freiwillig oder gleichgültig sich seiner Werbung hingegeben hätte.

Er stellte daher seine Besuche in dem Hause der Madame Lemaitre für die nächsten Tage ein, dort konnte er ja doch seinen Zielen nicht näher kommen und sich nur neue Kränkungen und Demütigungen zuziehen; er wollte vor Adeline erst wieder erscheinen, wenn er, auf Orloffs mächtigen Schutz gestützt, als Herr und Gebieter auftreten konnte, um dann in vollen Zügen den Triumph zu genießen, das widerspenstige Mädchen, welches ihm seine Liebe versagte, doch zur Sklavin seines Willens zu machen.

Er sendete seine eifrigsten und geschicktesten Agenten aus, um überall Pferde zu suchen, welche das ukrainesche Gespann der Kaiserin an Schönheit und Schnelligkeit übertreffen möchten, und er fuhr selbst zu den bedeutendsten Pferdezüchtern in der näheren Umgebung von Petersburg, um die besten Tiere ihrer Zucht zu prüfen und diejenigen, welche Orloffs Wünschen entsprechen könnten, um jeden Preis anzukaufen.

Das Leben am Hofe setzte sich inzwischen in der gewohnten gleichmäßigen Weise fort, und die unruhige Spannung, in welcher die ganze vornehme Gesellschaft eine Zeitlang täglich eine erschütternde Katastrophe erwartet hatte, verschwand allmählich wieder. Die Erscheinung des neuen Adjutanten der Kaiserin, den sie mit so außerordentlicher Gnade überhäuft hatte, schien keine wesentliche Veränderung in den Verhältnissen nach sich zu ziehen.

Der Fürst Orloff und der Graf Potemkin begegneten sich täglich bei den großen Hoffesten und in den kleinen Zirkeln der Kaiserin mit der ausgesuchtesten Höflichkeit und liebenswürdigsten Artigkeit. Wenn auch Gregor Orloff in seiner Haltung dem neuen Günstling gegenüber stets eine gewisse vornehme Überlegenheit und Herablassung zur Schau trug, so schien doch Potemkin dies nicht zu bemerken oder doch natürlich zu finden und die Überlegenheit der Stellung des Fürsten bereitwillig anzuerkennen. Er zeigte demselben bei jeder Gelegenheit eine fast unterwürfige Ehrerbietung, er sprach niemals ein Wort über politische Angelegenheiten, und der Feldzeugmeister übte die Macht und Autorität der in seinen Händen ruhenden hohen Reichsämter ebenso unumschränkt und mit derselben stolzen Sicherheit aus wie bisher. Man hatte sich also an den Gedanken gewöhnt, daß der neue Adjutant sich mit der persönlichen Gunst seiner Gebieterin begnügen und keinen Versuch machen werde, in die Sphäre der Macht Orloffs einzugreifen. Die meisten waren mit dieser Wendung der Dinge sehr zufrieden, sie wurden der peinlichen Schwierigkeit überhoben, in einem so gefährlichen Konflikt Partei zu nehmen und paßten ihr Benehmen den nunmehr ganz geordnet erscheinenden Verhältnissen an, indem sie dem Fürsten Orloff ihre ehrfurchtsvollen Devotionen bewiesen, während sie Potemkin eine gewisse herzliche Freundlichkeit entgegenbrachten.

Die Kaiserin hatte nach einer kurzen Krankheit von wenigen Tagen die Folgen der Impfung glücklich überstanden, und so wurde denn durch den Doktor Dimsdale nunmehr dieselbe Operation an dem Großfürsten vorgenommen, bei dem sie ebenfalls gefahrlos verlief.

Ganz Petersburg hallte wider von Bewunderung für die Kaiserin, welche mit eigener Lebensgefahr das neu entdeckte Schutzmittel erst an sich selbst erprobt hatte, bevor sie dasselbe an ihrem Sohne anwenden ließ und in ihrem Reiche einführte. Weit über die Grenzen Rußlands hin verbreitete sich der Ruf von der mutigen Hochherzigkeit, welche die Mutter und die Kaiserin bewiesen, ebenso war nicht nur in Petersburg, sondern an allen europäischen Höfen die stolze Botschaft bekannt geworden, welche Katharina dem Feldmarschall Romanzow gesendet hatte, und wie ein hohes, siegesgewisses Selbstbewußtsein stets Vertrauen erzwingt, so hatte auch diese Botschaft dazu beigetragen, die Zuversicht der Untertanen auf die Allmacht ihrer Kaiserin zu beleben und die Scheu vor der russischen Macht in Europa zu vermehren.

Heller, lichter Sonnenschein lachte also über dem russischen Hof, Katharina zeigte sich überall strahlend von Huld und Liebenswürdigkeit; jeder, der sich ihr nahte, war eines freundlichen, gnädigen Wortes gewiß, und auch der Großfürst Paul Petrowitsch hatte die düstere, oft abstoßende Zurückhaltung, die er sonst gezeigt, vollständig abgelegt; er zeigte sich täglich eifriger in seinen Huldigungen für seine Braut, die Prinzessin Wilhelmine. Jedermann sah, daß er in seine zukünftige Gattin wie ein einfacher Privatmann verliebt war, und daß er seiner Mutter eine herzliche Dankbarkeit für das ihm bereitete Glück entgegentrug.

Es schien also auch die Einigkeit und die Wärme des Familienlebens endlich auf dem russischen Thron, dem sie so lange fremd gewesen, ihren Platz zu finden, und jedermann konnte nun seine Huldigungen zwischen der Sonne des herrschenden Tages und der Morgenröte einer noch fernen Zukunft teilen, ohne die Furcht, sich nach der einen oder der anderen Seite hin zu kompromittieren.

Die Kaiserin schien Fräulein Adeline völlig vergessen zu haben. Es hatten mehrfach Vorstellungen auf dem Theater der Eremitage stattgefunden, aber die Kaiserin hatte noch nicht wieder mit den Darstellern gesprochen, und die sehnsüchtig bittenden Blicke, welche die junge Schauspielerin oft von der Bühne aus ihrer Rolle heraus auf ihre erhabene Beschützerin richtete, bemerkt.

Als an einem solchen Theaterabend Katharina abermals nach dem Schluß der Vorstellung ihre Zufriedenheit aussprach, sagte Potemkin in unbefangener Weise:

»Ich bin überzeugt, daß diese armen Schauspieler überglücklich sein würden, wenn sie ihr Lob aus Ihrer Majestät eigenem Munde vernehmen könnten; der Künstler bedarf ebensosehr der Ehre und Anerkennung wie der Soldat.«

»Ihr habt recht, Gregor Alexandrowitsch«, erwiderte Katharina; »diese guten Leute haben so viele Worte auswendig lernen und sprechen müssen, um uns zu unterhalten, daß es wohl billig ist, sie durch die wenigen Worte unseres Dankes zu erfreuen.«

Sogleich erhob sie sich und trat auf die Bühne. Die Schauspieler umringten sie in freudiger Bewegung, und während sie zunächst dem Regisseur einige schmeichelhafte Bemerkungen sagte, unterhielt sich Potemkin, den sein Adjutantendienst immer in der Nähe der Kaiserin hielt, freundlich mit den übrigen. Wie zufällig trat er auch an Fräulein Adeline heran und flüsterte ihr zu:

»Erinnern Sie die Kaiserin an ihr Versprechen, mein Fräulein, damit sie's nicht vergißt.«

Schnell wendete er sich wieder ab, als ob er der jungen Schauspielerin nur ein leichtes, flüchtiges Kompliment gesagt habe. Erschrocken und zitternd sah ihm Adeline nach; sie begriff die wohlwollende Teilnahme des ihr ganz unbekannten Generals nicht, es schien ihr, daß derselbe ihre geheimsten Gedanken auf ihrem Gesicht gelesen haben müsse, denn in der Tat war ihre unruhige Sorge täglich gestiegen, da sie so gar nichts von einer Erfüllung der Zusage bemerkte, welche ihr die Kaiserin mit so freundlicher Teilnahme gegeben hatte. Um so mehr beängstigten sie die wiederholten Mahnungen ihres Geliebten, und als die Kaiserin so unvermutet die Bühne betrat und ihr die Gelegenheit bot, eine Bitte an sie zu richten, als sie in bangem Zweifel darüber nachsann, wie sie dies wohl, ohne die Kaiserin zu erzürnen, wagen könne, klang plötzlich das ermutigende Wort des kaiserlichen Adjutanten in ihr Ohr. Trotz ihrer Verwirrung aber bestärkte dies Wort auch ihren Beschluß, um jeden Preis die Gelegenheit, welche vielleicht so bald nicht wiederkam, zu benützen, nur vermochte sie, trotz des eifrigsten, ängstlichsten Nachdenkens, immer kein passendes Wort der Anrede an die Kaiserin zu finden, denn jede Mahnung und Erinnerung drückte ja zugleich fast einen Zweifel aus und konnte die Kaiserin erzürnen. Je mehr sie ihren Geist zerarbeitete, um so weniger fand sie das ängstlich gesuchte Wort. Schon nahte sich ihr die Kaiserin auf ihrem Rundgang immer mehr und im nächsten Augenblick mußte sie vor ihr stehen; wenn sie schwieg oder ein falsches Wort sagte, so ging vielleicht das Glück ihres Lebens für immer verloren, denn trotz des Mißtrauens ihres Geliebten klammerte sich doch ihre ganze Hoffnung an die Kaiserin an, die ja allmächtig war und mit einem Wink ihres Auges auch das Unmögliche möglich machen konnte.

Jetzt trat Katharina vor sie hin. Potemkin hatte sich in ganz zufälliger, absichtsloser Wendung seiner Gebieterin wieder genähert und stand unmittelbar hinter derselben.

»Ich danke Ihnen, mein Fräulein,« sagte Katharina, freundlich den Kopf neigend, »Sie haben Ihre Rolle vortrefflich durchgeführt und mir viel Vergnügen gemacht.«

Verzweiflungsvoll rang Adeline nach Worten, ihr Geist war umnachtet. Wohl sah sie, wie Potemkin ihr ermutigend zuwinkte, aber sie vermochte nichts zu sagen als: »O Majestät – o mein Gott!«

Sie hatte die Hände über der Brust gefaltet, Tränen stürzten aus ihren Augen, schmerzlich zuckte ihr Gesicht.

»Was fehlt Ihnen, mein Fräulein, was bedeutet das?« fragte die Kaiserin betroffen.

Sie schien in ihren Erinnerungen zu suchen, während ein leises Schluchzen aus Adelines Brust hervordrang.

Schnell trat Potemkin vor.

»Es ist die Dankbarkeit«, sagte er, »und die Erinnerung an die Gnade ihrer Kaiserin, welche dies junge Mädchen so heftig bewegen; Eure Majestät hatten die Gnade, ihr zu versprechen, sich für eine Angelegenheit ihres Herzens zu interessieren; es betraf einen Offizier, der sie liebt und der –«

»Ah, ich erinnere mich,« rief die Kaiserin lebhaft, »es betraf den Leutnant Wassili Mirowitsch vom Regiment Smolensk, dem man die Güter seiner Familie wegen des Hochverrates seines Ahnherrn entzogen hat – ich danke Euch, Gregor Alexandrowitsch, daß Ihr mich daran erinnert, es macht mir immer Freude, irgend jemand glücklich machen zu können, gibt es doch immer noch so viele Unglückliche in meinem Reiche, denen der Trost aller kaiserlichen Herrschermacht nicht zu helfen vermag.«

»Nun, mein Fräulein,« sagte sie, ihre Hand freundlich auf Adelines Schulter legend, »fassen Sie sich; erzählen Sie mir, wie Ihre Sache steht, und ob ich bald die Freude haben kann, Ihnen zu Ihrer Vermählung Glück zu wünschen.«

»O Majestät,« sagte Adeline schluchzend, »Sie sind gnädig und huldvoll wie der Himmel selbst; aber –« fügte sie zögernd hinzu.

»Nun,« fragte Katharina aufhorchend, »aber? – gibt es ein Aber, wenn die Kaiserin zwei liebende Herzen glücklich machen will?«

»Nein, Majestät,« sagte Adeline, ihre tränenfeuchten Augen aufschlagend, »nein, das gibt es nicht, das darf es nicht geben, aber die Hoffnung schwankt, der Mut sinkt, wenn Tage auf Tage vergehen und noch immer nichts geschehen ist, um den Willen der gnädigen Kaiserin zu erfüllen.«

»Nichts geschehen?« fragte Katharina streng; »was heißt das, wie ist das möglich? Fürst Gregor Gregorjewitsch!« rief sie laut, sich nach dem Zuschauerraum hinwendend.

Orloff war von einer Gruppe von Höflingen umringt; er hörte den Ruf der Kaiserin und eilte schnell zu ihr hin.

»Ich habe Euch aufgetragen,« sagte die Kaiserin, »die Angelegenheit des Leutnant Wassili Mirowitsch noch einmal zu untersuchen und zu prüfen, ob es möglich ist, meine Gnade an die Stelle des strengen Rechtes treten zu lassen, wie ich es wünsche; wie steht es damit? Fräulein Adeline hier sagt mir, daß sie bis jetzt noch nichts von der Sache gehört habe, ich aber wünsche ihr, die so viel dazu beiträgt, mich nach den Sorgen der Regierung zu zerstreuen und zu erheitern, bald wieder die Freude und das Glück ihres Herzens zurückzugeben.«

»Ich bin mit der Prüfung der Sache beschäftigt,« erwiderte Orloff, »aber um Eurer Majestät einen ausführlichen und genügenden Bericht zu erstatten, bedarf es der Durchsicht alter Aktenstücke, die nicht leicht in den Archiven aufzufinden sind.«

Er warf einen düsteren, drohenden Blick auf Adeline, das junge Mädchen aber war mit ihren tränenden Augen, mit ihrem angstvoll bewegten Gesicht, in welchem ein Schimmer der wiedererwachten Hoffnung aufleuchtete, so wunderbar schön, daß der finstere Blick des Fürsten sich wieder erhellte und eine Sekunde lang bewundernd und erglühend auf der lieblichen Erscheinung ruhte.

»Es war vielleicht ungalant,« fügte er hinzu, »daß ich das Fräulein hier in Ungewißheit über meine Untersuchung ließ, welche, wie ich hoffe, sich zugunsten ihrer Wünsche wenden wird. Ich werde mein Unrecht gutmachen und die Sache noch eifriger betreiben, um dem liebenswürdigen Schützling meiner gnädigen Kaiserin bald gute Botschaft bringen zu können.«

Potemkins Blicke ruhten durchdringend auf dem Fürsten, als ob er in die Tiefe seiner Gedanken eindringen wollte.

Die Kaiserin nickte ganz zufrieden und sagte freundlich lächelnd:

»Sie hören es, mein Fräulein, mein Versprechen ist nicht vergessen; halten Sie sich an den Fürsten hier, und wenn die Sache reif ist, so seien sie gewiß, daß meine Gnade groß genug ist, um das strenge Recht zu ergänzen.«

Sie reichte Adeline ihre Hand zum Kuß.

Das junge Mädchen stammelte, in die Knie sinkend, unverständliche Dankesworte, dann schritt die Kaiserin, von Potemkin gefolgt, weiter an dem Halbkreis der Schauspieler hin, welche teils teilnehmend, teils neidisch die Szene beobachtet hatten.

Orloff blieb noch einige Augenblicke vor Fräulein Adeline stehen, er sagte ihr einige Artigkeiten und betrachtete sie dabei mit immer flammenderen Blicken.

Die Kaiserin stieg wieder von der Bühne herab, Orloff folgte ihr; ehe der Vorhang fiel, blickte er noch einmal zurück und flüsterte vor sich hin: »Ich habe nie vorher bemerkt, wie schön sie ist, zu schön, bei Gott, für diesen albernen Firulkin!«


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