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Neunzehntes Kapitel.

Gähnende Felder. Durchsetzt mit ausgetrockneten Wassertümpeln, wie riesige Sandmäuler anmutend. Ihrem Rachen entströmt glühender Brodem; Sonnenhitze, die sie tagsüber gierig hinuntergeschluckt haben.

Weiter rechts, den Hängen der Berge zu, schlafen Opium tragende, streng dünstende Mohnfelder.

Gegen die verschwimmende Horizontlinie gelehnt, stehen gigantische Felsblöcke – vorgeschobene Kundschafter eines urhaften Geschlechts –, die massigen Schultern in pittoresker Anordnung von wild wucherndem Buschwerk drapiert.

Westwärts flackert der rote Widerschein Bombays über den nächtlichen Himmel. Tief hangen die Sterne zur Erde. Ab und zu irrt ein verlorenes Schäferwölkchen über die himmlische Halde.

Von irgendwoher, wie aus dem dunkeln Schoß der Erde selbst, schallt Gesang rauher Männerkehlen. Hirten wachen dort am Feuer, den Tiger, den gefürchteten Reißer der Herden, abzuwehren. Unruhevoll floppen die zorngeröteten Loderhäupter der Wachtfeuer himmelan. Die Hirten aber singen sich Mut und Wachsamkeit zu. Bukolische Weisen mit philosophischem Einschlag singen sie. Denn es sind indische Hirten. Sie singen:

Nächtens, wenn die Dschungelkatze –
Schütz uns, Wischnu, vor der Fratze! –
Schleicht zum Raub und Töten aus,
Wacht der Hirte Karam Shing;
Lauscht hinaus in Nacht und Graus:
»Brüder schließt des Feuers Ring!«

Drinnen aber in der Hütte,
Auf der dürft'gen Rohrschilfschütte,
Liegt ein wachend Weib allein.
Leben wächst in ihrem Schoß,
Wenn sie lauscht in sich hinein,
Hört sie stets dies eine bloß:

Zwischen Herztakt und dem Magen
Hört den Puls der Welt sie schlagen.

So singen die Hirten. – Und durch die Luft wirbeln riesenhafte, fuchsköpfige Fledermäuse. Stürmen gegen das Licht der Hirtenfeuer an und taumeln geblendet in die Finsternis zurück. Längst schon hat sich das gesättigte Vieh zur Nachtruhe niedergelegt. Ab und zu schnaubt ein Büffel. Eifrig üben Nachtschwalben ihr verbrieftes Jagdrecht auf gefiederte Motten aus. Von welchem Recht der Mensch, wie jede andere Kreatur auch, nicht minder ausgiebigen Gebrauch macht. Bei Tag und bei Nacht und unter allen Breitegraden jagt er seinesgleichen. Und das unterscheidet ihn von der unvernünftigen Kreatur.

Siehe –! von den verschiedensten Richtungen der Windrose kommen dunkle Schatten dahergefahren gleich nachtgezeugten Gespensterwesen, und sie verschwinden plötzlich, als habe die Erde sie verschlungen.

Da löst sich eine Gestalt von einem der beiden den Höhleneingang flankierenden Felsblöcke los, schnappt noch einmal unter der schutzfarbenen Mantelkapuze nach Luft und taucht hinter einer der zuletzt verschwundenen, gleich ihr selbst vermummten spukhaften Gestalten in den Eingang unter. Sich dicht an seinen Vordermann haltend, gelangte Mr. Harry Webster in seiner merkwürdigen Verkleidung zunächst in eine Art Vorhöhle, von der aus nach den verschiedensten Seiten in allmählicher Senkung Laufgänge nach unbekannten Zielen verliefen. Hüpfenden Derwischen vergleichbar, irrlichtern aus der Tiefe leuchtende Punkte. Stießen aus Seitengängen vermummte auf die Voranziehenden, so machten sie sich durch gewisse Zeichen erkenntlich. Hierauf achtete der Detektiv besonders genau.

Nach einer mühseligen Wanderung gebot der Rand eines Abgrundes allen Halt. Aus dem ehrfürchtigen Gebahren der Menschen um ihn her, wie aus allem, was seine verwundenen Augen zu sehen bekamen, schloß der Detektiv, der geheimen Opferstätte der Thugs nahe zu sein. Das gut zehn Fuß hohe, ungeheure Standbild aus massivem Silber gerade in Front vor ihm mußte nach allem, was Mr. Webster vor kurzem über die furchtbare Blutgöttin gelesen hatte, die Kali selbst darstellen. Das Götzenbild ruhte aus einem riesigen schwarzen Marmorwürfel, zu dem eine breite, drei Fuß hohe Stufe aus gleichem Gestein hinanleitete. In Gestalt und Aussehen erinnerte die Statue der Kali zum Teil an eine Furie nach griechischer Bildmanier. Spezifisch indisch wiederum war die Idee des Schöpfers, die Göttin in wilder Stellung auf einem Tiger reitend darzustellen. Das Antlitz war eine das Wesen der schrecklichen Göttin in grobsinnlicher Weise charakterisierende, nicht eben geschmackvolle künstlerische Verquickung von Wolf- und Menschengesicht. In drohender Pose schwang die Göttin in ihrer Rechten eine eiserne Spitzaxt.

Neben zwei richtigen Exemplaren der berüchtigten Schlinge des Seidentuches inmitten des von einer ehernen, in den Schwanz sich beißenden Schlange gebildeten Kreises auf dem Sockel der Bildsäule lag die eigentliche heilige Spitzaxt in natura. Von ihr erinnerte sich Mr. Webster gelesen zu haben, daß sie bei den Wanderzügen der Thugs von dem reinlichsten, mäßigsten und gewissenhaftesten Mann des Würgerbundes dem Zuge vorangetragen wird. Der Wahnglaube der Thugs schreibt dieser Axt eine wundertätige Kraft und die Bedeutung eines untrüglichen Orakels zu. Gewisse ihr zukommende Eigenschaften bestimmen alle Entscheidungen der Thugs und nicht zuletzt die Richtung des beabsichtigten Zuges.

Da nun die Eingeweihten vollzählig versammelt schienen, bestieg ein Mann, den seine weiße, mit blitzenden Goldbändern verzierte Stirnbinde als das Oberhaupt der Sekte kenntlich machte, die hohe Stufe des Altars und berührte mit Hand und Stirne dreimal die Füße Kalis.

Eine atembeklemmende lautlose Stille legte sich über die Versammlung religiöser Massenmörder. So gewaltig war die Lautlosigkeit, daß der Detektiv sein Herz gegen die Rippen pochen zu hören vermeinte. Dann erscholl, wie zerschmetterte Donnerkeile von der ungeheuren Deckenwölbung widerhallend, eine Stimme, die mit gewaltiger Kraft rief:

»O Kali! Kankali? Bhudkali! Deine Knechte haben sich vor deinem heiligen Angesicht versammelt, um den Blutschwur, den wir aus die heilige Spitzaxt abgelegt haben, feierlich zu erneuern und das unauslöschliche Gelübde dir zu Füßen zu legen, tausend Seelen dir zu opfern für die eine Seele eines deiner Priester, den heute Nacht eines Unbekannten Hand erschlug. – Auf, ihr Brüder, schwört mir zu, seinen Tod blutig zu rächen!«

Ein vielhundertstimmiges, zu einem einzigen Wetterschlage gebundenes Donnergeräusch rollte über die Höhle aus.

»Wir schwören es! – Wir schwören es!«

Und jäh wie eine plötzlich unterbundene Riesenkaskade, stürzte das orgiastisch aufbrausende Brüllen wieder in sich zusammen, und zum anderen Male brütete das dumpfe Schweigen des Grabes über allen. Dann erhob sich irgendwo in der Tiefe eines Ganges ein monotoner Gesang, der immer stärker anschwoll, um sich endlich, als seine Urheber aus der Finsternis in den Lichtkreis getreten waren, zu voller Klangstärke zu entwickeln.

Dein phantastischen Zuge vorauf schritten feierlich abgemessenen Ganges acht, vom Scheitel bis zur Zehe in lange, wallende, weiße Gewänder gehüllte Männer. Nach jedem dritten Schritte erhoben sie die Hände und schlugen schallende metallene Becken aneinander. Ihnen folgten vier in nachtschwarze Gewänder gleichen Zuschnitts gehüllte Männer, die eine dicht verhangene Bahre geschultert hatten. Den Beschluß machten wiederum acht weißgekleidete Gestalten. Dreimal umrundete der düstere Zug das Götzenbild. Nach dem dritten Male setzten die Träger die Bahre an der Stufe des Altares nieder.

Alles harrte erwartungsvoll der enträtselnden Sekunde.

Dumpfdröhnender Gong –; die Decke, wie von Geisterhänden hinweggerissen, flattert zur Seite, und Mr. Webster erblickt, seinen Augen kaum trauend, den Leichnam des Erschlagenen aus der Opiumhöhle.

Beim Anblick ihres getöteten Genossen verfällt die Versammlung in einen Zustand sinnlosester Raserei. Mr. Webster hat das Gefühl, in ein Irrenhaus versetzt zu sein, wüste Schreie ausstoßend, hüpften, tanzten und sprangen die Menschen um ihn her, einzeln, paarweise und in ganzen Ketten.

Als der Verrücktesten einer gebärdete sich unstreitig Basakuta, der famose Schlüsselmeister, von dessen Anwesenheit hier Mr. Webster durch Freds Depesche unterrichtet worden war. Mit einem Satze sprang er mitten unter die Priester hinein, bekannte mit gellender Stimme, daß er zwar gestern erst der Göttin Kali die Seele einer jungen Parsi geopfert habe, es aber bisher versäumt habe, einen zweiten Menschen zu erdrosseln, um, mit den Füßen gegeneinandergekehrt, beide Opfer in einem gemeinsamen Grabe zu bestatten, wie dies die Satzung vorschreibt.

Mr. Webster hatte sicherlich nicht erwartet, so rasch und unter so eigenartigen Umständen ein umfassendes Geständnis des Mörders Durlânas entgegennehmen zu können. Eigentlich überrascht hatte ihn das Mordbekenntnis nicht. Früher oder später hätte sich das Glied der Kette seiner Folgerungen ohnedies einreihen müssen. Jetzt galt es, der weiteren Entwickelung der Dinge seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen.

Im Anschluß an sein Bekenntnis legte Basakuta den gräßlichen Schwur ab, nicht zu ruhen, noch zu rasten, bis er das Versäumte noch in dieser Woche nachgeholt hätte.

Wie ein Betrunkener wankte er über die Opferstätte und verschwand im nächstgelegenen Gang. Mr. Webster hatte alle Mühe, sich durch die drängenden, schiebenden, schwitzenden Gestalten hindurchzuwühlen. Denn jetzt galt es nicht mehr, einen Mord aufzuklären, sondern einen neuen zu verhindern, indem er sich ebenso rasch wie unbemerkt der Person des Kerkermeisters versicherte. An der Gewinnung des jenseitigen Ganges sah er sich plötzlich durch eine Reihe knieender Thugs, undurchdringlich wie eine steingetürmte Mauer, behindert. Ehe er sich's versah, fühlte er sich trotz Sträubens von nervigen Fäusten plötzlich zu Boden gerissen. Die Augenlöcher in der Kapuze gestatteten ihm, das Herannahen des Oberguru zu erkennen, dem zwei Unterpriester assistierten, deren einer die blinkende Spitzaxt in den Händen trug, der andere eine goldene Schale. Der große, dunkelrote Edelstein, der den Knopf des kurzen Griffes der Art bildete, mußte einen unermeßlichen Wert haben. Er sprühte Blitze im Lichte der Fackeln gleich einem Diamanten.

»Willkommen im Bunde des Todes!« begrüßte der Oberguru jeden der Anwesenden.

Endlich glückte es dem Detektiv, den Gang zu gewinnen, durch den Basakuta vorhin verschwunden war. Und er atmete erleichtert auf, als er sich am Ende des Ganges aus einem Gestrüpp von Kamelkraut, Karyl und Kodscha an die Oberwelt wieder zurückgefunden hatte. So emsig er seine suchenden Blicke in die Runde schickte, von Basakuta war nirgends eine Spur mehr zu entdecken. Der steinige Boden setzte seinem Spüren nach Fußeindrücken natürlichen Widerstand entgegen. Auch verblaßten die Sterne bereits am Himmel, ohne daß das Morgengrauen der Förderung seiner Absicht entgegengekommen wäre. Ausschließlich auf den Gebrauch des Gehörsinnes angewiesen, schritt Mr. Harry Webster in den neuen Tag hinein. Plötzlich bannte ein Geräusch seine Füße. Bellendes Husten schlug an sein Ohr. Zornvoll klangen die Laute, die wie langgezogenes Donnerrollen von den fernen, schon türkisblauen Höhen widerhallten und den ganzen weiten Raum zwischen Himmel und Erde mit tötlichem Schreck zu füllen bestrebt schienen.

Selbst ein so mutiger, unerschrockener Mann wie Mr. Webster, der, mit alleiniger Ausnahme seines ständigen Begleiters, des Taschenbrownings, völlig unbewaffnet ging, wurde von dem allgemeinen Naturschreck erfaßt, als sein spähendes Auge aus dem Dickicht von Schilf, Binsen und Buschwerk eines nahen Teiches den mächtigen Leib des majestätischen Königstigers auftauchen sah. Den Kopf tief zur Erde geduckt, strich die knurrende Bestie wenige Meter entfernt an dem regungslos verharrenden Detektiv vorüber. Erhabenheit und Grazie zugleich prägten sich in den wiegenden, biegenden Körperbewegungen des Tieres aus. plötzlich mußte sie die Witterung des Menschen bekommen haben. Seiner ansichtig werdend, warf die gefürchtete Katze den elastischen Körper herum. Auf kaum fünf Schritte Entfernung standen sich Mensch und Tier wie zwei entschlossene, die Chancen abwägende Duellgegner Auge in Auge gegenüber.

Jetzt duckte sich die Katze zum Reißsprung.

Mit all der Ruhe und Kaltblütigkeit, die höchste Gefahr mutigen Herzen verleiht, erträgt der Detektiv den Anblick des Raubtieres. Sein Blick verstrickt sich mit dem des Gegners. Keinem entgeht des anderen leiseste Bewegung. Langsam hebt der Detektiv die Rechte mit dem Browning. Wie das Auge des Mediums den vorgehaltenen Fingerspitzen des Hypnotiseurs, so folgen die Blicke des Tigers dem Zielkorn. In den Pupillen der Bestie steht wie ein nachthellender Blitz, groß und flammend, der fertige Entschluß zur Tat. Und ergießt sich im selben Augenblick wie ein elektrischer Strom durch den Körper des Tieres – ein Lichtfunken sprüht auf. Mit hartem hellem Hundebellen schlägt der Browning an. Eine Rauchfahne fließt um den Lauf her. Und zu Boden stürzt der König der Dschungeln, rollt sich um sich selbst, zerreißt mit den scharfen Pranken die Erde.

Und steht im nächsten Augenblick wieder auf den Beinen.

Die Kugel hatte sich am harten Schädel des Tieres plattgeschlagen. Es schüttelt die momentane Betäubung ab und macht sich, zur äußersten Wut gereizt, zum Austrag bereit.

In diesem Augenblick reckt die Sonne ihren feuergeschmiedeten Schild über das ferne Firmament, Als wollte sie beide Kreaturen mit gleich glühender Liebe umschirmen.

Jetzt ist es der Mensch, der mit der geistigen Überlegenheit seines Geschlechts zum Angriff übergebt. Er, Webster, hatte den Blick der Bestie in die Bahn seines eigenen hineingerissen und ließ ihn nicht mehr los. In sich zusammengekauert, die Spannkraft einer überangezogenen riesigen Spiralfeder ahnen lassend, die Nasenborsten wild gesträubt, mit funkelnden Blicken und schaumbedeckten Lefzen kriecht die Bestie, knurrend, widerwillig Schritt um Schritt zurück. Das Bewußtsein geistiger Überlegenheit, der Wille zum Sieg, der Wunsch nach Leben – schufen jene Machteinheit, die als das geheimnisvolle, tierbezwingende Moment voll dämonischer Leuchtkraft im Auge des Menschen Webster aufflammt.

Gleichfalls in sich zusammengeduckt, mit vorgerecktem Kopfe und leuchtenden Blickes verfolgt der tollkühne Deutsch-Amerikaner Zoll um Zoll die weichende Bestie. Alle Angriffslust war von der Katze gewichen. Und siehe –! jetzt zittert sogar der Dschungelkönig vor der Hoheit des Menschen. Heftig, ängstlich gieren seine Flanken nach Luft.

Ein Satz fördert den Detektiv in nächste Nähe seines Gegners. Und zwei Schüsse gleich sitzen dem Tier im linken Auge, der dritte mitten im Herzen.

Im berechtigten Siegerstolz blickt Mr. Harry Webster, dem jetzt erst, nach überstandener Gefahr der Schweiß aus allen Poren bricht, auf den gefällten Gegner. Langsam beugt er sich zu dem gestreckten Tierkadaver nieder und kann der Versuchung nicht wiederstehen, seine Finger über das wundervoll gestreifte Prachtgewand der toten Dschungelmajestät gleiten zu lassen.

Diese Bewegung rettete ihm das Leben.

Mit dem pfeifenden Gezisch einer Windsbraut war der stählerne Tod dahergebraust.

Über dem heißen, alle Denk- und Muskeltätigkeit ausschließlich auf sich vereinigenden Kampfe um Sein oder Nichtsein hatte Mr. Harry Webster die Annäherung seines neuen, nicht weniger mordgierigen Gegners wie der Tiger begreiflicherweise überhört. Die treibende Kraft einer wahnwitzigen Idee nur konnte diesem neuen Feinde den Mut eingeflößt haben, sich dem Schauplatze eines Zweikampfes wie des vorbeschriebenen zu nähern. Mit dem Blutdurst des Tigers, dessen Nähe alle Lebewesen fliehen, vertraut, hätte er sich sagen müssen, daß der Tiger umgekehrten Falles sich ohne weiteres auf das nächsterreichbare Opfer gestürzt haben würde. Demungeachtet hatte sich der wahnbefangene Meuchler von der Ausführung seines verbrecherischen Anschlages nicht eine Minute abschrecken lassen.

In einer Entfernung von kaum zehn Schritten hatte er die Spitze eines kurzen Stockes in einen breiten Stahlring gesteckt, hierauf den erhobenen Stab mit kaum merkbarer Bewegung des Handgelenkes um seine eigene Achse gewirbelt. Im Verhältnis und nach dem Gesetze der Bewegungsübertragung setzte sich der Stahlring oben in eine so enorm rasche Kreiseldrehung, daß er sich im Sonnenlicht wie ein einziger Funkenblitz ausnahm. Blick und Gefühl kündeten dem Schleuderer den Moment an, wo er mit einer ruckartigen Handbewegung das Ende des Stabes in die Richtung des Detektivs zu schnellen hatte. Der Stahlring schlüpfte ab und durchschnitt wie ein leuchtender Blitz die Luft – und grub sich knirschend in den Stamm einer Tamarinde. Eine Sekunde zuvor war die Gestalt des Detektivs in die Kniebeuge gegangen.

Wie von einer Tarantel gestochen, fuhr Mr. Webster hoch und stand mit einigen Sprüngen an der Seite des Meuchelmörders, ehe dieser Zeit zur Flucht gefunden hatte. Riß ihm die Kapuze vom Kopfe und schaute in das wutverzerrte Antlitz – Basakutas.

Als dieser in seinem Opfer den Liebhaber schönen Frauenhaares wiedererkannte, wurden seine Mienen noch um einen Grad finsterer und trotziger. Den Detektiv störte das nicht im geringsten. Mit leisem Anflug von Ironie redete er den Mörder so seelenruhig an, als habe er einen schmerzlich vermißten Bekannten wiedergetroffen: Er sagte:

»Freund Basakuta, dir entbiete ich meinen unterwürfigsten Salaam. Wärest du Mohammedaner – was du aber nicht bist, wie ich bestimmt weiß – so würde ich jetzt sagen: Wenn der Berg nicht zu Mohammed kommt, dann geht Mohammed zum Berge. Salam aleikum also, Basakuta-Mohammed! Doch scheint ein Wiedersehen zwischen guten Geschäftsfreunden dich nicht sonderlich zu erfreuen, warum das?«

Als jener aber stumm blieb, fuhr Mr. Webster fort:

»Und doch hättest du doppelten Grund, dich über das unverhoffte Zusammentreffen mit mir zu freuen. Oder ist in deinem armseligen Hirnnetz eine Masche gerissen, daß du es vergessen hast, daß ich dir noch die »Kleinigkeit« von 6 Goldrupien schulde für den schönen, gefärbten – Roßschweif?«

Der Inder zuckte leicht zusammen, schwieg aber beharrlich weiter. Um so beredter sprach der fragende Blick seiner Augen, die groß und verwundert an der Stirn des Detektivs hafteten, wo ein runder Tropfen im Scheine der Tagesleuchte purpurn erglühte. Der Detektiv, den Grund der Fassungslosigkeit des Inders erratend, legte ihm beide Hände auf die Schultern, so daß jener gezwungen war, Mr. Webster anzublicken. Wenn jetzt auch die Lippen noch schweigen sollten, so mußten wenigstens seine Augen für den erfahrenen Menschenkenner und Kriminalpsychologen zum sprechenden Verräter werden. Und ein jedes Wort nachdrücklich betonend, daß sie wie schneidende Messer die Gehörsnerven des Inders zerfetzten, schleuderte ihm der Detektiv die furchtbare Anklage ins Gesicht:

»Basakuta – Mörder der Parsi Durlâna Dschidschibhai! –, der du das unschuldige Mädchen mit ihrem eigenen Haupthaar nach Weise der Thugs, deren einer du bist, in Zelle Nummer 7 des Polizeigewahrsams erdrosselt hast, – dich, Mensch, frage ich: Wer hat dich zu diesem feigen Morde angestiftet?«

Der also Angeklagte konnte den durchdringenden Blick seines Richters nicht länger ertragen. Und er senkte den Blick zur Erde. Über der Nasenwurzel grub sich eine tiefe Falte verbissenen Trotzes in die Stirne ein. Nach dem letzten Strohhalm des Leugnens greifend, versuchte er es mit einer ausweichenden Gegenfrage.

»Woher willst du wissen, daß ich der Mörder der Durlâna bin?«

»Von einem gewissen – Basakuta.«

Der Inder fuhr einen Schritt zurück, »Von mir?«

»Von keinem anderen sonst,« gab der Detektiv ruhig zurück.

»Wann und wo?« fragte der Inder, den patzigen Ton eines leugnenden Bösewichts automatisch annehmend.

»Vor knapp einer halben Stunde an jenem Orte, von wo du gerade herkommst.«

»Und wo liegt dieser Ort?«

»Das ist dort, wo ein Thug namens Basakuta den feierlichen Blutschwur allen Gurus zugeschworen hat, nicht eher zu ruhen, bis daß er nach überliefertem Religionsgebrauche die zweite Leiche der getöteten Parsi zu Füßen gebettet habe. Daß dieses zweite Opfer nicht ich geworden bin, ist gewiß nicht deine Schuld.«

»Aber wo ist denn das »dort«?« verharrte der Inder in seinem eigensinnigen, kindischen Trotze, wie ein ertappter Bösewicht zu tun pflegt, um das heranziehende Verhängnis hinauszuzögern, und sei es um Minuten.

Worauf der Detektiv zur Antwort gab:

»Das ist ein unterirdischer Opfertempel der Göttin Kali.«

Wie zuvor der Tiger, so begann jetzt auch der Thug unter den Worten und mehr noch den Blicken seines überlegenen Gegners zu zittern wie Espenlaub. Seine Gesichtsfarbe bekam einen Stich ins Fahlgelbe. Die Haut wurde schlaff, runzelig Wangen und Stirne. Die Energie des Widerstandes war gebrochen, und das Blut füllte die Zellgewebe nicht mehr mit dem nährenden Safte.

Mr. Webster aber richtete sich zu voller Größe auf und sprach mit gebieterischer Stimme: »Und jetzt frage ich dich ein letztes Mal: Wer ist der Anstifter des Mordes an Durlâna?« Und den Inder zur Antwort förmlich aufpeitschend. »Antworte schnell! Bei diesem Zeichen hier auf meiner Brust, antworte auf der Stelle!«

Kaum war der Inder des dreieckigen Steines auf der entblößten Brust seines geistigen Peinigers ansichtig geworden, da stürzte er auch schon mit der Wucht eines gefällten Stieres zu Boden und schlug, die Arme weit von sich gestreckt, dreimal die Erde mit seiner Stirne. Erhob sich dann auf Befehl in die Knie. Mr. Webster aber machte vor seinen Augen mit der flachen Rechten das geheime Zeichen des Bundes, wie er es den Thugs abgesehen hatte, und sprach die wenigen Worte:

»O Kali! Omra Nurheddin!«

Basakuta wiederholte Zeichen und Worte.

»Du erkennst mich also als deinen Gebieter an, dem du blinden Gehorsam schuldest?« fragte der Detektiv.

»Ja Sahib, ich erkenne dich an als meinen Gebieter,« bestätigte der Thug demütig gesenkten Hauptes.

»So sprich und beantworte meine Frage: Wer ist des Mordes Urheber?«

Und in einem Tone, als ob seine Auskunft die selbstverständlichste sei, antwortete Basakuta: »Wer anders als der Polizeirat John Rocket!«

Eine andere Antwort schien der Detektiv kaum erwartet zu haben. So selbstverständlich die Auskunft gegeben war, so selbstverständlich wurde sie entgegengenommen. Nur wenige Fragen hatte Webster noch zu stellen.

»Was geschah mit dem Leichnam der Ermordeten? war die erste.

»Er wurde auf des Polizeirats ausdrücklichen Befehl zur Erde bestattet.«

»Obwohl sie eine Parsi ist, deren Leiche nach den Satzungen ihrer Religion doch auf den »Türmen des Schweigens« hätte ausgesetzt werden müssen! Wußte der Polizeirat um ihr Religionsbekenntnis?«

»Ganz bestimmt, Sahib.«

»Wie willst du das wissen?«

»Er hat mir doch aufgetragen die Listen umzuschreiben. Ausweislich der gefälschten Liste aber war es die Leiche der Anglikanerin Mary Besant.«

»Weißt du, warum der Polizeirat dies anordnete?«

»Nein, Sahib das weiß ich nicht. Meine Pflicht als Beamter ist es, zu gehorchen und nicht nach Gründen zu fragen.«

»Und was für ein Bewandtnis hatte es mit dem gefärbten Schweif?«

Worauf der Gefragte nach kurzem Zögern erwiderte: »Der Polizeirat, Sahib, hat mir befohlen, das Naturhaar der Parsi zu färben und an der Eisenstange festzubinden.«

»Ich verstehe,« flocht der Detektiv ein. »Vermutlich deshalb, um unbequemen Leichenbeschauern worunter beispielsweise der Polizeipräsident hätte zählen können, wenn ihm nicht ein kleines Übel in der Nacht vor dem Mordtage zugestoßen wäre – durch das Blondhaar den Selbstmord der Engländerin desto überzeugender Vortäuschen zu können.« Und sich wieder direkt an den Inder wendend, meinte der Detektiv spöttisch: »Und du hast dir in deines Herzens Einfalt höchst wahrscheinlich gesagt, auf einen Betrug mehr oder weniger komme es nicht mehr an und betrogst frech den betrügerischen Polizeirat –, stimmt das?«

»Mich dauerte das schöne Haar,« erwiderte der feinfühlige Spitzbube mit einer halben Entschuldigung. »Ihr, der Ihr doch ein so großer Liebhaber schönen Frauenhaares seid –: sagt selbst, Sahib, sind es nicht wunderschöne Flechten, und handelte ich nicht klug, sie vor Grabesfäule zu bewahren?«

Mr. Webster lehnte es natürlich ab, über diesen Punkt sich mit dem Inder in Erörterungen einzulassen. Er fragte nur noch:

»Wo wurde die Ermordete beerdigt? Auf dem Friedhof der Europäer?«

»Du sagtest es, Sahib.«

»Wirf deinen Kapuzenmantel von dir gleich mir«, gebot der Detektiv nach kurzem Überlegen dem Inder »und gehe voran.«

»Wohin, Meister?« fragte der Inder gleichmütig.

»In den Tod,« gab der Detektiv ebenso zurück.

»Meister –« zögerte der Inder.

»Was soll es?« fragte Mr. Webster kurz angebunden, dem es mit seinen Worten nicht buchstäblich ernst war, da er fürs erste der Person dieses Kronzeugen noch benötigte. Dafür aber mußte sie der Inder nehmen. Man konnte also mit ziemlicher Sicherheit erwarten, daß er noch eine Art von letztem Wunsch zu äußern hätte. Noch aber wandelte er im Lichte; noch war er ein Kind dieser Welt. Und so sagte er zum zweitenmale:

»Meister –!«

»Was soll es?«

»Du scheinst des Tigers dort vergessen zu haben. Gestatte deinem Diener das Fell abzuziehen und sich damit zu beladen. Es wäre schade um das kostbare Fell, wenn es in fremde Hände fiele.«

Worauf der Detektiv ernsten Tones erwiderte:

»Der du Menschenantlitz trägst, bist du gleichwohl nicht würdig, mit dieses Tieres königlichem Fell deine Schultern zu behängen. Denn wisse und vernimm es, Elender: Die Dschungelkatze verschont wenigstens ihre Artgenossen, du aber wütest gegen deine Mitmenschen in weit bestialischerer Weise, als selbst die grimmigste Bestie.« –

Und sie schritten schweigend in die schwingende Ebene hinein.


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