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Zehntes Kapitel.

Gleich nach dem Weggange des Herrn Polizeirates Rocket aus dem Gewahrsam – das war um die siebente Stunde dieses Tages, in der Frühe – hatte sich der indische Schlüsselmeister mit der allen diesen Leuten eigenen mürrischen Würde und Langsamkeit an seinem Schreibtische niedergelassen. Im allgemeinen war der Dienst dieses Mannes mit schriftlichen Arbeiten nicht sonderlich erschwert. Er hatte daher einen harten Strauß mit den nur widerwillig aus der Feder fließenden Buchstaben zu bestehen. Schließlich und nach wiederholtem, tiefen Verschnaufen brachte er das schwierige Werk doch zum Abschluß. Und hatte jetzt sogar seine Freude an den eckigen, ungelenken Schriftzügen.

Er hielt das Schriftstück auf Armeslänge von sich und las es sich selbst mit halblauter Stimme vor:

»Zelle Nummer 7«. Er machte eine kleine Pause gemäß des abgeteilten Kolonnenstriches. Und mit einem Blick auf den vorgedruckten Kopf, wo als nächstes »Name« stand: »Mary Besant.« – »Stimmt ganz genau«, lobte er sich selbst, wieder glitt sein Blick nach oben: »Konfession« – »Anglikanisch.« – »Kenn ich nicht«, meinte er, »aber da der Polizeirat Sahib es so angegeben hat, wird es wohl seine Richtigkeit haben.« Sodann: »Ort und Datum der Geburt« – »Cambridge, 3. April 1883.« Wozu er die Glosse machte: »Eine »Jugendliche« im Polizeisinne ist sie nicht mehr.« Und dann: »Staatsangehörigkeit« – »England.« Statt einer Nebenbemerkung schnitt er eine vielsagende Grimasse. Zum Schlusse: »Grund der Inhaftierung« – »wegen vollendeten Kriegsverrats.«

Da schüttelte er bedenklich das erfahrene Haupt und brummte ein- über das anderemal: »Schwere Sache – schwere Sache! Bei Indur! Wenn wir sie hier hätten, das würde ihr den Kopf kosten – aber glattweg!«

Ob der Name des Deliktes zutraf, darüber zerbrach sich der Inder keineswegs den Kopf. Mr. Rocket hatte ihm diese Eintragung befohlen, und das genügte für ihn. Auf dem alten Personalbogen, den der Schlüsselmeister vernichten mußte, hatten obige Feststellungen diese Fassung gehabt:

»Zelle Nr. 7 – Durlana Dschidschibhai – Parsin – Bombay, 1. März 1894 – Britisch-Indien –«

Ein Grund für die Inhaftierung war hier merkwürdiger Weise nicht angegeben gewesen.

Mr. John Rocket hatte es in der Frühe dieses Tages gar nicht für nötig befunden, sich zu erkundigen, weshalb die Parsin in Zelle Nummer 7 eigentlich eingesperrt sei. Die wird es schon am besten wissen, hatte er sich gesagt. Nach einem alten Polizeisatz ist ein Inhaftierter in jedem Falle schuldig. Wenn auch nicht in der gerade schwebenden Sache, so doch irgendwie. Weswegen wäre einer sonst inhaftiert? – »Es wäre möglich, daß –, es könnte sein, daß –«; summiert man den von außen hineingetragenen Inhalt dieser irrealen Annahmesätze zusammen, so ergibt sich als Endsumme in jedem Falle ein reales Schuldig. Natürlich nur für den Polizeiverstand. Der aber ist maßgebend.

Von dem kaiserlich indischen Polizeirat Mr. John Rocket wissen wir aber außerdem, daß er mitunter sehr romantische Einfälle haben kann. Und so hatte er der unschuldigen Parsi auf poetische Weise ihre »Erlösung« angekündigt. Mochte sie sich darunter ihre Haftentlassung vorstellen, – umso besser für sie. Was jeder Mensch wünscht, das glaubt er gerne. Jedem Glauben aber wohnt eine beseeligende Kraft inne. – So weit der altruistische Gedankengang John Rockets.

Das Werk der Erlösung ging ungemein rasch, lautlos und fast schmerzlos vonstatten.

Das kam also.

Nachdem der indische Schlüsselmeister seine schriftliche Aufgabe schlecht und recht beendet hatte, erhob er sich von seinem kleinen Bambusschreibtisch und begann, wie in tiefes Sinnen verloren, mit gemessenen Schritten auf dem Korridor auf und ab zu wandeln. Allmählich steigerte er sich in einen inneren Erregungszustand hinein, und seine Schritte wurden größer und hastiger. Sich unbeobachtet wissend, blieb er plötzlich mitten auf dem Gang stehen, faltete kreuzweise die Hände über der Brust, heftete den irrglastenden Blick unverwandt auf einen Punkt des Bodens und rief raunenden Tones die Göttin Kali an, die Dunkle, auch Bhawani genannt, die Göttin des Todes und der Zerstörung in der Dreieinigkeit der indischen Götterlehre.

Die Anhänger dieser furchtbarsten Sekte, den die blutgeschriebene Geschichte religiösen Wahnsinns kennt, nennen sich selbst Phansigars oder Thugs, d. i. Würger. In der Regel würgen sie ihre Opfer mit einer Schnur aus Aloefasern ab. Trotz der Verfolgungen durch die englische Regierung – ein wenig aussichtsreiches Beginnen, da die Sekte ganz im Verborgenen wirkt – hat sich dieser abscheuliche Kultus bis auf den heutigen Tag erhalten. Nach der indischen Überlieferung reicht die Entstehung dieser Sekte bis ins graue Altertum hinauf. Bereits Herodot erwähnt im Heere des Xerxes eine Rotte dieser Sektierer. Zu seinen Bekennern zählt dieser Blutbund nicht nur Hindus, sondern auch Mohammedaner, ja selbst Christen. Die Thugs haben ihre eigene Geheimsprache und -zeichen, woran sie sich unter einander kennen. An der Spitze des Bundes steht ein Oberpriester, Ober-Guru genannt; er wird auf Lebenszeit von den Gurus gewählt, die aus den Reihen der Chams oder Priester hervorgehen, vom Ober-Guru bis herab zum letzten Thug sind alle Würger verpflichtet, möglichst viele Menschen zu erdrosseln. Das erst macht sie der Göttin angenehm.

Über den Ursprung ihres Bundes berichtet die mündliche Überlieferung der Thugs folgendes:

Im Anbeginn der Zeiten herrschte Rakkat-Byj, der Blutsamen, als mächtiger Dämon im Reiche der Geister. Er war so groß, daß der tiefste Ozean seine Brust nicht erreichte, beunruhigte alle Welt und verschlang jede Neugeburt, bis daß Bhawani, die Dunkle, die Feueräugige, ihn tötete. Da sie ihn erschlagen, sah sie, daß das Übel nur um so größer wurde. Denn aus jedem seiner Blutstropfen entstand ein neuer Dämon. Da schuf die Göttin zwei Männer aus dem Schweiße ihrer Arme. Das waren die Urväter aller Thugs. Und sie gab einem jeden eine Schnur aus Aloefasern, damit sie die Dämonen erdrosselten, ohne daß aufs neue Blut flösse. Und bis auf den heutigen Tag pflegen die Thugs ihre Opfer auf diese Weise zu erwürgen zu Ehren der blutigen Göttin Kali. –

Indes Schauer religiöser Verzückung seinen Leib durchrieselten, rief Basakuta, der indische Kerkermeister, die Göttin des Todes an.

»O Kali«, so betete er, »Dich, erhabene Göttin, rufe ich an in der Stunde der Tat. Dein geheiligtes Zeichen trage ich auf meiner Stirn, das Zeichen der Thugs, wie es steht eingebrannt auf der Stirn des Knaben Srinath: »Den Tod von Tausenden!« Und so bitte ich Dich, Allgewaltige, wappne meine Rechte mit der unwiderstehlichen Stärke der reißenden Tigerpranke und umgürte meinen Willen mit unerschütterlicher Festigkeit, damit ich in allem als Dein würdiger Verehrer befunden werde, Du blutige Göttin des Todes, o Kali!«

Und als er den Blick wieder erhob, da brannte darinnen das unheimliche Feuer einer fanatisierten Seele. Auf lautlosen Sohlen glitt er zur Zelle Nummer 7 hin, schloß auf und schlüpfte hinein, den Namen der todbringenden Göttin auf der Zunge und im Herzen.

Bei seinem plötzlichen Eintritt war die Parsi von der ärmlichen, zerschlissenen Bastmatte in der äußersten Ecke der Zelle, worauf sie, die Brust von harrender Freude und bangender Furcht zwiespältig bewegt und zerrissen, die ganze Zeit über in sich zusammengekauert dagesessen hatte, mit einem halb unterdrückten Aufschrei hochgefahren.

Sollte das die Erlösung sein – das? – Aber ja doch. Der weiße Sahib würde doch sein Wort nicht brechen! – Frei sein und wieder heimgehen dürfen zu ihrem alternden Vater, der sich um sein einzigstes, um sein gestorben wähnendes Kind sicherlich halb zu Tode grämte, – o unfaßbares Glück!–...

Endlich – endlich–...!

Auf den Knien wollte sie dem Manne, der ihr den Weg zur Freiheit erschloß, danken. Und auf den Knien rutschte sie, sinnlos vor Freude und Dankbarkeit, dem Thug, der, wie um die Entfernung abzuschätzen, an der Tür stehen geblieben war, entgegen. Ihm wenigstens wollte sie ihr dankbares Herz zu Füßen legen, nachdem der gute, weiße Sahib vorhin allen Dank von sich gewiesen hatte. Ganz verwirrt und kaum mehr wissend, was sie tat, haschte sie nach der Hand des Inders, sie wollte Basakuta die Hand küssen, der ein Thug war!

Vor der Entweihung ihrer Lippen durch die Berührung mit einer massenmörderischen Hand schützte sie im letzten Moment ein scheuer Blick, den sie aus ihren tränenumflorten Augen zu dem Inder emporsandte. Da schauerte sie jäh zusammen und erschrak zuinnerst ob des infernalischen Feuers dieser stechenden Augäpfel. Im letzten Augenblick fühlte sie einen grenzenlosen Schmerz in der Kehle.

Ohne daß ein Laut die unheimliche Stille zwischen den vier Zellenwänden unterbrochen hätte – und das ist das Merkwürdige an der Sache –, vernahm die Parsi erlöschenden Blicks eine Stimme, die rief: »Ich ersticke –! Ich ersticke –!« –

Das war ihre letzte Sinneswahrnehmung.

Der Thug spürte, wie unter seinen Händen das Leben aus dem Körper seines Opfers entfloh, und ließ von ihm ab. In dem Augenblick, da Durlana sich über seine Hand beugte, hatte er mit einem auf viel Übung deutenden, ungemein flinken Griff das lose herabhängende Haar des Mädchens zu zwei Strängen zusammengewirbelt. Im nächsten Moment legten sie sich schon um ihren schlanken Hals; – ein zerrhafter Ruck noch, und dann ein minutenlanges Nachschnüren an beiden Enden. Das war der ganze Opferdienst, eine Handlung von kaum fünf Minuten.

Ihren Kopf zwischen die Hände nehmend, hielt der Thug den entseelten Körper des Mädchens auf Armeslänge von sich, wie er es zuvor mit dem Schriftstück getan hatte, und studierte Linie um Linie die Totenmaske. Dann ließ er sie los. Dumpf schlug der zarte Leichnam auf die schmutzigen Kerkerfliesen auf. Und es frohlockte der Thug:

»Ehre und Preis sei Dir, erhabene Göttin Bhawani,
Die über Leben und Tod du herrschest am heiligen Ganges!«

Hatte so lange der fanatische Sektierer in ihm geherrscht, so wurde er jetzt wieder von dem Kerkermeister abgelöst. Als solcher – nach wie vor aber in Befolgung der Befehle des Polizeirats – schnitt er mit einem einzigen, bewundernswert geschickt geführten Rundschnitt seines scharfen Dolches der Toten das schwarze Haupthaar ab. Mit der prüfenden Ruhe eines Sachverständigen ließ er den herrlichen Naturschmuck durch die Finger gleiten, wobei er fand, daß das schöne, seidige, von einem feinen, metallischen Blauschimmer überhauchte Schwarzhaar denn doch zu kostbar sei, um damit genau nach dem Wortlaut des polizeirätlichen Befehls zu verfahren.

Basakuta war eine habsüchtige Natur. Die Geldgier regte sich beim Anblick des teuren Haarschmuckes gar sehr in ihm. Kurzerhand verbarg er das Haar unter seinem Gewande, schlich hinüber nach den Ställen der Polizeipferde und eignete sich mit einem zweiten, geschickten Schnitt einen schwarzen Pferdeschweif an. Der würde nach seinem Dafürhalten entschieden die gleichen Dienste tun. Zwar müßte er ihn erst blond färben lassen, aber nichts leichter als das. Für eine Viertel-Rupie besorgt ihm das Umfärben ein in der Nähe wohnender Haarkünstler in kürzester Zeit. »Wie Faringihaar muß es aussehen«, hatte er dem Haarkünstler auf die Seele gebunden. »Genau so schön weich und blond.« Ganz so weich wie Menschenhaar wurde der Pferdeschweif zwar nicht, dafür geriet die Farbe umso täuschender; echtes englisches Semmelblond.

Fünf Minuten später hing das falsche Blondhaar der Engländerin Mary Besant festgeknotet an der kurzen, dicken Eisenstange in dem schmalen Fensterloch der Zelle Nummer 7.

Und unmittelbar darunter, mit dem Oberkörper gegen die Mauer gelehnt, lag auf ihren erstarrten Knien der entseelte Körper der Parsi Durlana Dschidschibbai–...


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