Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.

Vor dem Polizeipräsidium hielt das Auto.

Ohne von dem Kriminalbeamten und der verhafteten Engländerin bemerkt zu werden, folgte der Mann in dem braunen Staubmantel vorsichtig und unauffällig den Voranschreitenden durch den langen Gang im Erdgeschoß des Präsidiums nach, wo auch das Aufnahmezimmer liegt. Mit einiger Befriedigung stellte der Herr mit dem glattrasierten, eckigen Kinn und den kalten, blauen Augen, der kein Geringerer war als der in allen Sätteln seines vielseitigen Berufes gerechte, bei Kriegsausbruch zur Politik abgeschwenkte und augenblicklich in einer besonderen Sendung in Indien weilende deutsch-amerikanische Detektiv Mr. Harry Webster, fest, daß der Beamte die Verhaftete nicht im Aufnahmezimmer ablieferte, was seinem Plane, den er in betreff der Dame gefaßt hatte, nur förderlich sein konnte.

Der Geheimpolizist schloß eine Tür auf und hieß Mrs. Besant eintreten. Als sich die Tür hinter beiden geschlossen hatte, wartete der Detektiv noch einige Sekunden, ehe er folgte. Im Vorbeischreiten stellte er fest, daß es das Zimmer Nr. 43 war. »John Rocket – Polizeirat« stand auf dem Schilde.

Mehr wünschte Mr. Webster im Augenblick nicht zu wissen.

Durch einen Seitenflügel verließ er wieder das Polizeigebäude und kehrte durch einen Nebeneingang in das Taj-Mahal-Hotel zurück, in dem er zwei Zimmer und einen Salon belegt hatte. Unter der Tür stieß er auf einen Mann, der hier offenbar seiner geharrt haben mußte. Es war Fred Pearson, der Sekretär des deutsch-amerikanischen Detektivs.

Mr. Webster entledigte sich des Staubmantels und seiner Mütze, gab seinem Sekretär Auftrag, beides nach oben zu tragen und ihn in seinem Zimmer zu erwarten, strich sich das Haar glatt und ging hinüber nach der anderen Seite des Hotels. Mit einem raschen Blick überzeugte er sich, daß die Gesellschaft sich bei Zigarren, Drinks und den Klängen der Bombayer Regimentskapelle vortrefflich zu unterhalten und noch lange nicht an Aufbruch zu denken schien.

Den Polizeipräsidenten entdeckte sein spähender Blick in einem der verschwiegenen Spielzimmer, wo er mit mehreren Herren eifrig seiner Partie Whist huldigte.

Der Detektiv näherte sich zwei älteren Gentlemen, die soeben durch den blauen Salon kamen und nicht gerade wie Spielratten aussahen und richtete an sie, verbindlich lächelnd, die Frage, ob sie wohl zu einem kleinen Spielchen Lust hätten.

»Ich glaube, wir lassen uns hier in diesem Spielzimmerchen nieder«, fuhr er so laut zu sprechen fort, daß man es drinnen unbedingt hören mußte und schlug, ohne eine Antwort der beiden Gentlemen abzuwarten, die Samtportieren weit zurück.

»Ah – Verzeihung, meine Herren«, entfuhr es seinen Lippen in höflich entschuldigendem Tone, indem er sich artig gegen die unterbrochenen Spieler verbeugte, »ich wußte es nicht, daß man hier spiele – nochmals: Verzeihung–...«

Sir George Bulwer hob seine scharfe Hakennase, die er tief in sein Spiel Karten gesteckt hatte, unwillig in die Luft, suchte mit seinen unruhigen, meergrünen Augen den Urheber der mißliebigen Störung, wechselte jedoch beim Anblick des Ordens des Sterns von Indien auf dem tadellos gearbeiteten Frack des Detektivs sofort den Ausdruck des Unwillens in Blick und Miene und meinte:

»Tut mir leid, mein Herr, – hier ist allerdings besetzt, und wir werden wohl so bald nicht aufhören. Vielleicht lassen sich die Herren in einem anderen Zimmer nieder.«

*

Mr. John Rocket, die rechte Hand des Bombayer Polizeipräsidenten, hatte sich's inzwischen Schweiß und Mühe, allerlei Polizeikniffe, versteckte Drohungen und Überredungskünste genug kosten lassen, um Mrs. Besant zu einem Geständnis zu bewegen.

»Sie wollen doch nicht sagen, Mrs. Besant, daß Ihnen diese Äußerung so wie von ungefähr entfahren sei?« meinte er nach einigen, das Duell einleitenden, minder wichtigen Vorfragen und lehnte sich in den Armsessel zurück.

»Habe ich das etwa behauptet?« versetzte Mrs. Besant mit einer Gegenfrage.

»Dann beschäftigen Sie sich also schon seit längerer Zeit mit Politik?«

»Welcher Brite täte das nicht?« fragte Mrs. Besant wiederum zurück.

»Ganz recht«, pflichtete der Polizeirat bei. »Und dieses eingehende Befassen mit Politik hat in Ihrem Kopfe den Gedanken reifen lassen, daß Indiens kommende Regierungsform die Selbstverwaltung sein müsse – und zwar Selbstverwaltung um jeden Preis. Sie mußten sich dabei als eine kluge und denkende Frau selbst sagen, daß es bei solchen tiefgreifenden Reformen ohne Überwindung gewisser innerer Widerstände nicht abgehen könne. Wollen Sie mir nicht sagen, Mrs. Besant, wie Sie sich die Überwindung dieser Widerstände vorstellen?«

»Von welchen Widerständen sprechen Sie eigentlich?« fragte Mrs. Besant, die eine gewisse, vorsichtige und wohlüberlegte Taktik mit ihren Gegenfragen zu verbinden schien, um desto sicherer verhängnisvollen Antworten auszuweichen, auf die man sie hätte festnageln können.

Der Polizeirat ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Nun, selbstverständlich von den Widerständen der britisch-indischen Regierung«, fuhr er belehrenden Tones fort, als gälte es tatsächlich, Mrs. Besant erst über Dinge aufzuklären, deren Bedeutung ihr, wie der Beamte wußte, längst klar waren. »Sie wissen es ja auch aus der Geschichte, daß sich solche Staatsumwälzungen noch selten anders als in gewaltsamer Weise vollzogen haben. Sie dachten also bei Ihrem Zwischenruf sicher an eine richtige, wohlorganisierte Revolution von unten – habe ich recht?«

»Habe ich denn auch über meine Gedanken Rechenschaft abzulegen oder nur über das, was ich gesagt habe?« höhnte Mrs. Besant, zur schlecht verhehlten Verzweiflung des Beamten an der eingeschlagenen Taktik der Gegenfragen festhaltend.

Der Polizeirat runzelte unwillig die Stirne. Aber nur flüchtig.

»Nun –«, meinte er und versuchte sogar zu lächeln, »man denkt doch zumeist etwas bei seinen Worten. Nur unverständige Menschen plaudern ohne Überlegung in die Welt hinein.«

»Wollen Sie mir, Herr Kommissar, damit etwa eine Ausrede in den Mund legen?« fragte Mrs. Besant, gleichfalls lächelnd. »Ich glaube nicht – denn das hieße von Ihrer Menschenfreundlichkeit mehr verlangen, als der Beamte in Ihnen billigerweise gewähren kann«, gab sie sich selbst zur Antwort–... »Oder denken Sie so hoch von meiner Eitelkeit, daß Sie annehmen, ich genierte mich des Bekenntnisses, eine gedankenlose Schwätzerin zu sein?« fragte sie, noch immer lächelnd, im selben Atemzuge den Polizeirat, der über eine solche, ihm noch nie vorgekommene Art des Verhörs vor Ärger schier aus der Haut fahren wollte.

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte er, mit einem Versuch, liebenswürdig zu scheinen. »Ich halte Sie sogar für eine sehr kluge Frau, die genau weiß, was sie sagt und was sie bezweckt.«

Aber auch diese in das täuschende Gewand eines Komplimentes gekleidete Finte verfing nicht bei der wachsamen Frau.

»Ah –«, meinte sie belustigt, »erwarten Sie jetzt wohl, Herr Polizeirat, daß ich Ihr Kompliment dankend einstecke oder Ihnen gar mit gleicher Münze diene, indem ich sage: Was sind Sie doch für ein scharfsinniger Herr?«

»Das hieße allzu unbescheiden sein, hätte ich Ihnen unter dieser Voraussetzung ein Kompliment, als welches Sie meine Worte ausdeuten, machen wollen«, fuhr der Polizeirat nachlässigen, fast einschläfernden Tones fort, als säße er im Salon einer Dame gegenüber, deren Geist man nicht mit tiefen Problemen, wissenschaftlichen oder sonstwie anstrengenden Gesprächen belasten dürfe.

Plötzlich hob er mit einem kurzen Ruck seinen langen, schmalen Affenschädel hoch, schaute der Frau gegenüber scharf ins Gesicht und richtete mit einer jetzt streng und dienstlich klingenden Stimme die ganz unerwartete Frage an sie:

»Wie lange stehen Sie schon in so naher Beziehung zum Hofe von Haidarabad?«

Um den Mund von Mrs. Besant legte sich ein kühles, geradezu impertinentes Lächeln, das ihre dünnen Lippen zusammenpreßte und in der Mitte spitz vortrieb, als wollte sie jemand küssen.

»Eine Demokratin, eine ›Revolutionärin‹, die zu Hofe geht–... mit Fürsten ›nahe Beziehungen‹ unterhält – so etwas kann wirklich nur in einem indischen Märchen vorkommen! – Verzeihen Sie, Herr Polizeirat, wenn mich Ihr Einfall lachen macht.«

Und sie lachte wiederum das kühle, überlegene Lächeln der Ironie. Lachte es laut und verletzend.

Der Polizeirat biß sich vor Wut in die Unterlippe. Nichts hatte ihm seine schöne Falle genutzt, keinerlei positives Ergebnis gezeitigt – man müßte denn seine Niederlage in Betracht ziehen.

Ein Geheimpolizist, den der Polizeirat vorhin mit einem Zettel, worauf er einige Worte gekritzelt, weggeschickt hatte, kehrte jetzt in das Zimmer zurück und breitete ein Aktenstück vor seinem Vorgesetzten aus. Es waren dies die Akten, die man in dem Erkundigungszimmer mit dem genauen Nationale der Verhafteten in Sachen Mary Besant rasch angelegt hatte. Das Schreibermäßige, das Schematische also, wäre so weit glatt und glücklich erledigt gewesen – die erste kommissarische Vernehmung der Verhafteten selbst aber hatte zum hellen Ärger Mr. John Rockets noch keinen Umstand zutage gefördert.

Der Polizeirat trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte. Er war in dieser Sache mit seinem Rufe als findigster Kriminalist Bombays engagiert – es mußte etwas geschehen!

»Sie wohnen in der Viktoriastraße, Mrs. Besant?« begann er aufs neue das Verhör.

»Ja, – Viktoriastraße 14.«

»Führen Sie die Frau dort hinein«, gebot Mr. Rocket dem Geheimpolizisten. »Wenn ich klingle, treten Sie mit ihr wieder ein.«

Als die Beiden das Zimmer verlassen hatten, nahm der Polizeirat das Hörrohr des Tischtelephons von der Gabel und ließ sich mit dem Polizeirevier des Viktoriaviertels verbinden.

»Hier Polizeirat Rocket. – Ist dort in polizeitechnischem Sinne etwas Nachteiliges über eine gewisse Mary Besant, Viktoriastraße 14, bekannt?«

Pause–...

»So? Also doch –! – Ich danke Ihnen.«

John Rocket legte mit befriedigtem Schmunzeln das Höhrrohr auf die Gabel zurück, machte einen kurzen Vermerk in die Akten und ließ sich nochmals verbinden – diesmal mit der politischen Abteilung.

»Hier Polizeirat Rocket – ja – Hören Sie, Herr Kollege: Zu Ihren Observanten gehört doch eine gewisse Mary Besant, Viktoriastraße 14 – ja Besant.«

Der Polizeirat lehnte sich, den Hörer am Ohre haltend, behaglich in seinen Stuhl zurück und ließ seine Blicke über die Decke des Zimmers spazieren gehen. Dann beugte er sich plötzlich wieder vornüber und horchte gespannt in den Hörer hinein.

»Ja –? So so!« rief er aus. »Auf der Liste der politisch Verdächtigen steht sie auch schon? Das scheint ja eine ganz abgefeimte, höchst gefährliche Person zu sein. – Gewiß – ich bitte Sie sogar darum. Suchen Sie mich mit dem Aktenmaterial sofort hier auf – Zimmer 43. Ich bin gerade dabei sie zu vernehmen. – Danke.«

Auf das Klingelzeichen führte der Polizist die Verhaftete seinem Chef wieder vor.

»Hören Sie, Mrs. Besant«, begann der Polizeirat, nachdem diese vor ihm wieder Platz genommen hatte, »ich erwarte jetzt von Ihnen, daß Sie wahrheitsgemäß meine Fragen beantworten. Vorausschicken möchte ich, daß Sie höchstwahrscheinlich wegen hochverräterischer Umtriebe unter Anklage gestellt werden. Nichts könnte Ihre Lage mehr verschlimmern, als wenn Sie bei der Beantwortung meiner Fragen nicht streng bei der Wahrheit bleiben. Dadurch könnten Sie sich leicht etwa vorhandene mildernde Umstände verscherzen. Also –: Wohnten Sie in der Nacht vom 1. auf den 2. Januar dieses Jahres der ›vertraulichen Beratung‹ mehrerer jungindischer Mitglieder des Nationalkongresses im Landhause des Präsidenten des Morlenbundes Bhaskara bei?«

»Sie scheinen es ja zu wissen, Herr Polizeirat, – wozu fragen Sie noch?« erwiderte Mrs. Besant.

»Nun ich wollte das aus Ihrem eigenen Munde hören«, versetzte der Polizeirat, während er gleichzeitig auf ein vor ihm liegendes Blatt stenographische Notizen machte. »Wollen Sie mir nun weiter sagen, Mrs. Besant«, fuhr der Beamte fort, mit einer Stimme, die ruhig und sachlich klingen sollte und doch nicht den triumphierenden Häscherton ganz zu verschleiern wußte, »welches der Gegenstand dieser ›vertraulichen Beratungen‹ war, im Landhause Bhaskaras, draußen bei den ›Türmen des Schweigens‹?«

»Wenn Sie so bestimmt wissen, Herr Kommissar«, entgegnete Mrs. Besant, hoch und steif den Kopf hebend, »daß die Beratungen im Landhause Bhaskaras ›vertrauliche‹ waren, dann wundert mich einigermaßen, wie Sie von mir verlangen können, Ihnen über deren Gegenstand Mitteilungen zu machen.«

»Als Beamter kann ich so fragen«, sagte Mr. Rocket scharf und bedeutsam, wie im Bestreben, darzutun, daß er in erster Linie Beamter und dann erst Gentleman sei. Eigentlich wollte er sich im stillen darüber ärgern, daß er, der bekannte und gefürchtete Kriminalist, sich einer »Verbrecherin« gegenüber überhaupt zu so etwas wie zu einer Erklärung und Begründung seiner Methode, ein Verhör zu führen, verstehen konnte. Dann aber hatte schon wieder die aufregende, nervenkitzelnde Freude des gewerbsmäßigen Menschenjägers, der sein Wild schon so gut wie in der Falle zu haben glaubt, die Oberhand in ihm gewonnen.

Langsam richtete er sich im Sessel auf – langsam und ohne Überstürzung, wie ein Mensch, der jetzt einen Hauptstreich zu führen gedenkt und jetzt jede unnütze physische Kraftausgabe zu vermeiden sucht, um mit einem überraschenden, wuchtigen Ausfall seinem unvorbereiteten Gegner desto sicherer das blitzende Florett des Geistes ins Herz zu rennen.

»Wie kommt es, Mrs. Besant«, fragte er mit klingender Schadenfreude in seinem wandlungsfähigen Organ, »daß Sie, die Sie doch eine Engländerin sind, an dem bewußten Abend die extremsten Mitglieder der jungindischen Partei zur Gründung eines indischen Homerulebundes aufhetzten? Wollen Sie mir sagen, ein wie großes – die Höhe in Rupien ausgedrückt! – Interesse Sie an der Verwirklichung dieser überspannten Staatsideale haben?!«

Wie zum Proteste rückte Mrs. Besant mit ihrem Stuhle ein Stück von dem Beamten ab.

»Sie haben es sich selbst zuzuschreiben«, versetzte sie mit schneidender Schärfe, »wenn Sie auf solche Fragen überhaupt keine Antwort von mir bekommen. Und wenn selbst die Wände des Landhauses bei den ›Türmen des Schweigens‹ sollten geredet haben – das, was Sie mir zu unterstellen wagen, den unbewiesenen Vorwurf besoldeter Wühlarbeit – das können Sie nimmermehr gesagt haben! Aus dem kleinen Finger haben Sie sich diese ganze Wissenschaft gesogen – das ist's.«

Die unerschrockene Vorkämpferin für die indische Selbstregierung war von ihrem Stuhle aufgesprungen, schlug mit den weißen Knöcheln ihrer geballten Rechten auf die Schreibtischplatte und: »Indien den Indern!« rief sie aus, »das ist eine Bewegung, die sich offen und ungescheut vor dem Angesichte der Weltgeschichte vollzieht und wenn Sie es denn durchaus wissen wollen, so erfahren Sie jetzt schon, was in einigen Tagen alle Welt wissen wird: die jung-indische Partei wird bei der nächsten Sitzung des indischen Nationalkongresses faktisch einen Antrag auf Gründung eines indischen Homerulebundes einbringen – that's all!«

Mr. John Rocket machte bei dieser Enthüllung nicht gerade ein sehr geistreiches oder zufriedenes Gesicht. Damit war ihm wenig gedient. Das war nicht das richtige Material für ein Protokoll nach seinem Sinne. Er mußte entschieden noch etwas raffinierter und brutaler, henkerknechtsmäßiger zu Werke gehen, wollte er überhaupt zu einem – nach seinem Sinne – günstigen Ergebnis gelangen. Auch mußte er sich beeilen – ein Blick auf seine Uhr am linken Handgelenk machte ihm klar, daß es bereits stark auf Mitternacht ging. Bei der Unerhörtheit des »Verbrechens« aber, das sozusagen unter den Augen des Herrn Polizeipräsidenten verübt worden war, mußte er bestimmt damit rechnen, daß sein Chef noch im Laufe der Nacht anrufen, wenn nicht gar persönlich vorsprechen würde, um sich über das Ergebnis des ersten Verhörs Bericht erstatten zu lassen.

Er verlor zusehends seine Ruhe. Mußte dieser verwünschte Fall auch gerade heute dazwischen kommen und ihn hier an den Schreibtisch bannen, hier in dieser dumpfen Stube, wo er sich doch im Taj Mahal Palace so wohl befunden hatte. Die wievielte Flasche Schaumwein – die einleitenden Soda-Whisky und eisgekühlten American Drinks (Lippennetzer, weiter nichts) zählten überhaupt nicht mit; – ja, die wievielte Flasche Champagner war es doch gewesen, die er so jäh und schnöde hatte im Stich lassen müssen? Lassen Sie sehen: eins, zwei, drei–... nein, das kann nicht stimmen, Never mind! Aber das andere Zeug, das wie flüssige Lava durch die Kehle rollte! Wie hatte der Kuli das Höllengetränk doch gleich benannt? – Ah! – zur Hölle mit den blöden indischen Namen. Daß es so etwas in einer englischen Kolonie überhaupt gibt – indische Bezeichnungen! Ein Polizeiverbot müßte mit diesem Unfug gründlich aufräumen. Englische Sprache, englische Bezeichnungen überall in der ganzen Welt – so muß es kommen.

Und diese da – diese Person mit dem unverschämten, selbstüberhebenden Lächeln, die will eine Engländerin sein und macht mit dem verächtlichen Hindupack gemeinsame Sache. Unerhört! – Na, der wollte er es schon eintränken. Sie allein ist schuld daran, daß er sich jetzt mit ihrer verteufelten Sache den Kopf zerbrechen muß – seinen Kopf, der nach so einem Gelage wahrlich aller Ruhe und Schonung bedurft hätte.

Müde stützte der Herr Polizeirat das verärgerte Denkerhaupt in die rechte Hand. Eine große Mattigkeit wollte ihn befallen. Ob es heute Nacht tatsächlich so schwül ist, fragte er sich unwillkürlich und schnaufte hart dabei auf, oder ist nur ihm so heiß? Uff –! zum Ersticken. Er sprang auf und riß weit die Fensterflügel auf.

Und dabei soll einer ein Protokoll aufnehmen!

Richtig – das Protokoll! Das mußte ja in spätestens einer Stunde fertig sein – so ein Protoköllchen, mit allem, was von Rechts und Ordnungs wegen dazu gehört. Gar so schwer konnte das trotz seines brummenden Schädels ja nicht sein. Darin war er Spezialist.

Vorerst wollte er mal eine bequeme Stellung einnehmen. Sich recht eigentlich auf die Lauer legen. Und dann wollte er dieser da zeigen, wie man im Zeitalter der Humanität Menschen foltert–... hahaha! Wiederholte sie, was er ihr in den Mund zu legen für gut fand, dann gut. Wenn nicht – dann: erster Grad und so weiter mit der graziösesten Brutalität.

Ehe jedoch Mr. John Rocket der »verstockten Sünderin« mit den fein säuberlich geschliffenen Werkzeugen moderner Geistestortur, wozu ihn, besonders in seiner jetzigen Verfassung, sein aus Bosheit und Rücksichtslosigkeit gemischter Charakter sehr wohl befähigt haben würde, zu Leibe gehen konnte, öffnete sich die Tür des Zimmers Nr. 43, und herein trat der Herr Polizeipräsident.

Mr. John Rocket, der aufgestanden war und seinen hohen Chef unterwürfig begrüßte – oder war es die fatale Weinschwere, die seinen Oberkörper vornüberzog und den tüchtigen Beamten zwang, an der Schreibtischplatte einen Halt zu suchen? – wollte es fast bedünken, als habe der Präsident, dessen Spielleidenschaft unter der Beamtenschaft hinreichend bekannt war, heute besonders Glück gehabt. Wenigstens glaubte Rocket's gewohnheitsmäßig observierendes Auge und sein geschulter, alle Erscheinungen in einen ursächlichen Zusammenhang bringender Kriminalverstand das feine, um die nicht so ganz tief und spitz wie sonst herabgezogenen Mundwinkel spielende Lächeln seines Vorgesetzten so ausdeuten zu müssen. Auch glaubte er zu bemerken, daß Sir Bulwers stechender Blick jetzt weniger scharf über Dinge und Menschen hinfuhr als am Abend in der Vorhalle von Taj Mahal Palace, da er ihm Mrs. Besant übergeben hatte. Selbst der meergrüne, katzenartige Pupillenschimmer schien von seiner phosphorischen Leuchtkraft eine Idee eingebüßt zu haben.

Oder sollte sich Mr. Rocket darin getäuscht haben? – Das wäre vielleicht möglich–... vielleicht –

Verstärkt wurde dieses verstimmende Gefühl der Unsicherheit durch die Wahrnehmung, daß mit seinen sonst sehr scharfen Augen heute nicht mehr alles in Ordnung sei. Erst jetzt, da er stand, kam das dem Polizeirat so recht zum Bewußtsein, was ihn nicht wenig beunruhigte. In der Tat – es hat etwas Beängstigendes an sich, wenn man plötzlich wahrnimmt, wie der Kopf eines Menschen anfängt, sich zu bewegen. Immer hin und her, rüber und nüber – wie ein Perpendikel. Gleich als schwinge dieser Kopf, der doch sonst so fest zwischen den beiden Schultern verankert sitzt, an einer von der Decke hängenden Schnur. Und zu denken, daß dieser närrisch gewordene Kopf dem gestrengen Herrn Polizeipräsidenten gehört!–... Haarsträubend!

Der Präsident gab mit einer Handbewegung seinem Beamten zu verstehen, er möge die Birnen an der Decke ausdrehen. Nur die Stehlampe des Schreibtisches blieb brennen. Und selbst über diese zog der Präsident, als er sich niederließ, den Schutzschirm tiefer herab.

Mr. Rocket nutzte die Zwischenzeit redlich dazu aus, um seine Gedanken in geordnete Bahnen zurückzuzwingen. In betreff der etwas belegten Stimme seines Chefs sagte er sich sehr richtig, daß die mancherlei, bei einem offiziellen Festschmaus auszubringenden Toaste, Lebehochrufe und das wechselseitige Absingen der Nationalhymnen eines Menschen Stimmbänder immerhin angreifen. Und dann: die Bewältigung eines gängereichen Festessens ist in jedem Falle als eine ansehnliche Arbeitsleistung zu bewerten. Der stundenlangen Aufregung und hochgradigen Nervenanspannung beim Spiel folgt naturnotwendigerweise ein Rückschlag, ein Zustand der Ermattung. Der reichliche Genuß schwerer Weine bedingt zu seiner Zeit das unabwendbare Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf.

Mrs. Mary Besant ihrerseits empfing nicht gerade den Eindruck, als ob der allmächtige Polizeipräsident vor so einem unscheinbaren Wicht wie dem Sandmännchen im nächsten Augenblick die Waffen strecken würde. Denn als der Präsident mit einer flüchtigen Wendung des Kopfes sie ins Auge faßte und für Sekunden durchdringend musterte, stand in diesem Blick ein so kalter, harter und doch lebendiger Glanz, daß sie nicht umhin konnte, sich über dieses merkwürdige Augenpaar ihre eigenen Gedanken zu machen. Dafür war sie eben eine Laiin.

Der Chef der Polizei wandte sich wieder seinem Beamten zu. »Hat sich die Verhaftete zu einem Geständnis bequemt?« war seine erste Frage, deren Tonfall deutlich genug erraten ließ, daß der Fragesteller keine bejahende Antwort erwarte. Der Polizeirat beeilte sich, statt aller Antwort seinem Vorgesetzten die Akten vorzulegen. Daraus würde alles zu ersehen sein, was seine Tüchtigkeit in kurzer Zeit aus dem Fall herauszuholen verstanden hatte.

Dem Nationale widmete Sir George Bulwer nur einen oberflächlichen Blick und wendete das Blatt. Er tat dies in der charakteristischen Weise, wie Juristen und verwandte Berufsgenossen Aktenblätter umzuschlagen pflegen, solange die Akten neu und noch widerspenstig sind, wenig oder gar keinen Archivstaub geschluckt und die mehr oder minder geschäftigen Finger ihrer jeweiligen Bearbeiter ihnen noch keine Kniffwunden beigebracht haben. Demgemäß fuhr Sir George Bulwer mit den Fingerknöcheln der gekrümmten rechten Hand hastig über die Blattmitte auf und nieder. Die trockenen Daten des protokollierten Tatbestandes verschlang er anscheinend mit einer Gier und Behaglichkeit, wie andersgeartete, zarter besaitete Menschen etwa Lyrik zu genießen pflegen. Nickte wohl auch zwischendurch bei der Lektüre einer besonders interessanten Stelle auf eine zustimmende, anerkennende Weise, oder er gab unzufriedene Knurrlaute von sich, wenn eine zweite Stelle sein Mißfallen erregt hatte.

Anscheinend überwogen die letzten Stellen. Rasch genug und ziemlich unwirsch schob denn auch der Präsident die Akten wieder von sich, verharrte für Sekunden, während welcher nur das leise Knacken seiner ineinandergeschobenen Finger zu hören war, in nachdenklichem Schweigen, ehe er sich mit einer halben Drehung des Oberkörpers Mrs. Besant wieder zuwandte.

»Sie sind entlassen, Mrs. Besant,« sagte er nachlässigen Tones. Die begleitende Handbewegung erinnerte an die eines Mannes, der ein Almosen gibt, um einen lästigen Bettler los zu werden. »Seiner Kaiserlichen Majestät Regierung fühlt sich stark genug, um hysterische Äußerungen, wenn sie sich auch noch so kühn und revolutionär gebärden, weiter nicht für ernst zu nehmen. Gleichwohl möchte ich Ihnen persönlich den wohlgemeinten Rat mit auf den Weg geben, in Zukunft in Ihren Worten zurückhaltender zu sein.« Und mit einem feinen Lächeln: »Sie dürften mich nicht immer in so nachsichtiger Stimmung antreffen.«

Mrs. Mary Besant verabschiedete sich, ohne daß ihre zusammengekniffenen Lippen ein Wort des Dankes hindurchgelassen hätten. Sie nahm ihre Freiheit wie etwas Selbstverständliches entgegen.

Polizeirat Rocket konnte in dieser überraschenden Wendung der Dinge um so weniger eine Selbstverständlichkeit erblicken, als sein Beamtenfleiß schon allerlei belastende Momente und gravierende Komplikationen in den an sich sehr einfachen Fall hineingeschmuggelt hatte. In Gedanken zieh er seinen Chef einer geradezu strafwürdigen Nachsicht. Seinen Unmut auch äußerlich zum Ausdruck zu bringen, durfte er freilich nicht wagen. Man ist immerhin Beamter und Untergebener. Der Hand, und sei es die rechte Hand des Bombayer Polizeipräsidenten, steht immer nur die Ausführung der vom Haupte ausgehenden Befehle zu.

Ging es auch bei seinem auffallend länglichen Affenschädel nicht gut an, ein noch längeres Gesicht zu machen, so konnte ihm doch niemand verwehren, die Handlung seines Chefs einer abfälligen Gedankenkritik zu unterziehen. An die behauptete Stärke Seiner Kaiserlichen Majestät Regierung glaubte er jedenfalls nicht. Dazu kannte er das Indien von heute denn doch zu gut. Was also mochte den Chef zu seiner Handlung bewogen haben?

Als habe er die Gedanken seines Untergebenen erraten, erklärte der Präsident in einem Tone, der die Mitte hielt zwischen Herablassung, Vertraulichkeit und wohlwollender Belehrung, sein Vorgehen und sagte:

»Es ist Ihnen vom Gesichte abzulesen, mein lieber Rocket, daß Sie sich im Geiste mit den Beweggründen meiner Handlungsweise befassen. Der Grund liegt nahe genug und leuchtet jedem Fachmann ohne weiteres ein. Als tüchtiger Kriminalist müssen Sie sich selbst sagen, daß niemals Sentiments, sondern ausschließlich Zweckmäßigkeitsgründe alle unsere Handlungen bestimmen dürfen. Ein Kriminalist muß Nerven haben, Mr. Rocket; Nerven, und zum dritten Male Nerven. Aber solche von Stahl, die auch eine starke Belastungsprobe aushalten können. Was nützte es dem Jäger, ein verirrtes Elefantenjunges eingefangen zu haben, wenn er sich dadurch der Möglichkeit beraubt, mit Hilfe von dessen Fährte die Herde selbst aufzuspüren? So auch hier. Was ist im Grunde genommen diese Mrs. Besant anders als ein linkisches Elefantenbaby, eine vorlaute, gefallsüchtige Schwätzerin, die in ihrer echt weiblichen Sucht, von sich reden zu machen, Äußerungen tat, die bei sich zu behalten für sie zu schwer gewesen war. Hätte hingegen ein ernst zu nehmender Mann – sagen wir mal: ein Inder, der gleichzeitig Mohammedaner ist – diesen Zwischenruf, der, wie ich zugebe, keineswegs so leicht zu nehmen ist, ausgestoßen, so hätte das unter Umständen das Signal zu einem kleinen Putsch oder selbst gefährlichen Aufstand geben können. Diesen großen Unbekannten aufzuspüren, beziehentlich die Vereinigung solcher gleichgesinnter Männer, das muß unsere nächste und wichtigste Aufgabe sein. Dazu muß uns Mrs. Besant die Fährte weisen, verstehen Sie jetzt, Mr. Rocket?«

Der Polizeirat mußte sich dieser zwingenden Logik wohl oder übel beugen. Gleichzeitig fühlte er, wie an die Bordschwelle seines Oberbewußtseins die aufdämmernde Ahnung pochte, im nächsten Augenblick von seinem Chef auf die frische Fährte des »linkischen Elefantenbaby Besant« gesetzt zu werden. Statt dessen beugte sich der Präsident mit aufgestütztem Kopfe über ein Schriftstück, an dem ihm irgendetwas aufgefallen sein mußte. Mr. Rocket hatte es vorhin beim Verhör aus dem Schließfache seines Schreibtisches entnommen, aber unterlassen, es wieder zurückzuschließen. Vielleicht aus Ärger, den gesuchten Anhaltspunkt nicht gefunden zu haben, vielleicht aus überhastetem Eifer, mit dem Verhör endlich einmal zu Ende zu kommen und die nutzlos vergeudeten Minuten wieder einzuholen. Gerade so gut konnte Vergeßlichkeit die Schuld an dem Versäumnis tragen.

Adressiert war das Schreiben an den Vorstand der Politischen Polizei, Abteilung V, Bombay. Oben in der linken Ecke trug es den Vermerk: »Geheim!« Die Unterschrift war durchaus unleserlich, wenn anders man einen auffälligen Schnörkel an sich für einen Namenszug gelten läßt. Der Inhalt selbst war chiffriert und nur für den, der im Besitze des Schlüssels zu diesem System war, lesbar.

Dem Präsidenten mangelte es offenbar an der nötigen Ruhe, Zeit und Lust zur Entzifferung; er mochte wohl auch kurz vor dem Schlafengehen seinem Geiste keine großen Anstrengungen mehr zumuten. Darauf deutete wenigstens die müde Bewegung seiner linken, bisher die Augen beschattenden Hand hin, die er jetzt lässig zum Munde herabgleiten ließ, um ein leises Gähnen zu verbergen.

»Ich wollte Sie gestern schon zu einem zusammenfassenden Vortrag über eine gewisse politische Angelegenheit zu mir bitten lassen, Mr. Rocket,« sagte er, das Schriftstück, auf dessen Rande eine feinstrichige Bleistifteintragung – »I. N. C.« und »A. I. M. L.« – seine Aufmerksamkeit im letzten Augenblick noch erregt hatte, wieder zurückschiebend, wobei er nicht unterließ, durch einen strengen Seitenblick und ein warnendes Wedeln mit dem Papier seinem Beamten wegen der sorglosen Behandlung des Schriftstückes einen stummen Verweis zu erteilen. »Ich gedenke, Sie morgen ausführlicher über die beregte Angelegenheit zu hören. – Oder hat sich etwas Besonderes zugetragen?–... Ich meine in betreff der sogenannten – Hum! – indischen Homerule-Frage, auf die der Zwischenfall mit dieser Besant mein Interesse erneut hingelenkt hat.«

Im Vollgefühle seiner beratenden Wichtigkeit ergriff der Polizeirat die günstige Gelegenheit, seine Tüchtigkeit in das beste Licht zu rücken.

»Die indische Homerule-Frage,« so führte er ungefähr aus, auf zweierlei Bedacht nehmend: auf eine geschickte Auswahl diplomatischer Wendungen und auf die tückischen Weingeister, die ihm das polizeirätliche Gleichgewicht zu erschüttern drohten, »könnte unter Umständen gefährlich werden; schwerlich aber in einem Lande das von Seiner Großbritannischen Majestät kraftvoller Regierung weise verwaltet wird.«

Zustimmendes Nicken des Herrn Polizeipräsidenten. Aufstoßen der Weingeister beim Herrn Polizeirat.

»Gleichwohl, Sir, habe ich es mir als verantwortlicher Leiter und Abteilungsvorstand der hiesigen politischen Polizei und um in jeder Beziehung voll und ganz meine Pflicht zu erfüllen, peinlichst angelegen sein lassen, den Ursachen und treibenden Kräften dieser unleugbar bestehenden Bewegung auf den Grund zu gehen –«

Erneutes Nicken des Herrn Präsidenten und wiederholtes, von der kräftigen Polizeifaust des Herrn Rat siegreich unterdrücktes Aufstoßen der Weingeister.

»– Grund zu gehen und bin dabei zu der Auffassung gekommen, daß man unter allen indischen Völkern gerade den Mohammedanern scharf auf die Finger passen muß. Auch der einfache Mann unter diesen hat einen gewissen Stolz und ein stark ausgeprägtes Selbstgefühl, wozu noch kommt, daß sie gegenüber den nach religiösen Sekten, sozialen Kasten und Sprachen unendlich zersplitterten Hindus nicht nur durch gemeinsamen Glauben, sondern auch durch die Einheit ihrer Sprache, des Hindustani, der wichtigsten und leichtest erlernbaren Verkehrssprache Indiens, miteinander verbunden sind.«

Der Polizeipräsident beginnt sehr interessiert aufzuhorchen. Mr. John Rocket wird mit Mühe der ihn hart bedrängenden Weingeister Herr und fährt auf das geheime Schriftstück deutend, also fort:

»Es könnte nun – mit allem Vorbehalt spreche ich das aus – unter bestimmten Umständen und in gewissem Sinne beunruhigend wirken, wenn man die täglich eingehenden anscheinend sehr gut unterrichteten Geheimberichte unserer Agenten miteinander vergleicht und daraus ersieht, wie gewisse Körperschaften –«

»Sie sprechen von dem »I. N. C.« und der »A. I. M. L.«?« unterbrach der Präsident.

»Ganz recht, Sir, – ersieht, sagte ich, wie diese Verbände eifrig am Werk sind, die alten Gegensätze zwischen Hindus und Mohammedanern zu überbrücken. Konnte doch dank der unifizierenden Bestrebungen dieser Körperschaften das schier Unmögliche Tatsache werden, daß der letzte Hindukongreß einen Mohammedaner zum Präsidenten wählte –«

»Nun das liegt schon Jahre zurück«, warf der Präsident ein. »Meines Erinnerns fand dieses Ereignis 1913 statt.«

»Gewiß, Sir, ganz gewiß. Und es ist ja inzwischen dank der Geschicklichkeit unserer Regierungskünste zwischen Hindus und Moslim eine leichte Entfremdung wieder eingetreten. Ihr großes, gemeinsames Ziel jedoch, die auseinanderstrebenden Völkerschaften auf eine gemeinsame, dirigierbare Staatsidee zu einigen, haben die Bünde keineswegs aus dem Auge gelassen. Und da ist es gerade wieder die Mohammedanerliga, die »All India Moslem League«, die sich noch indischer gebärdet als selbst der »Indian National Congreß« und an die Spitze ihres Programms die Verwirklichung des indischen Nationalinteresses gesetzt hat, seit damals schon, als England im ersten Balkankrieg seine schützende Hand von der Türkei zurückzog, seine Interessensphäre in Persien ausdehnte und Tripolis an Italien fallen ließ. Mit einem Wort, Sir, und mit Respekt zu vermelden: auf diese braunen Hunde ist kein rechter Verlaß mehr. Und vollends nicht, feit jetzt in diesem Weltkriege so ein Querkopf von einem Kalifen den ›Heiligen Krieg‹ erklärt hat.«

»Was weiß man darüber bis jetzt in der politischen Abteilung?« fragte der Präsident. »Glauben Sie, Mister Rocket, oder bestimmter gefragt, haben Sie greifbare Unterlagen dafür, daß diese fatale Kunde trotz schärfster Absperrungs- und Zensurvorkehrungen schon tief ins Volk gedrungen ist?«

Der Gefragte konnte nicht umhin, diese im britischen Interesse höchst bedauerliche Tatsache zu bejahen.

»Welches sind Ihre Beweise hierfür?« forschte Sir Bulwer weiter. Anscheinend maß er diesen Beweisen große Wichtigkeit bei, so wenig er seine Ungeduld nach außen hin verriet. Sie zitterte weder in seiner Stimme, noch auch ließ sie irgendeinen Nerv in dieses Mannes Gesicht erzucken. Lauernd nur lag sie und lautlos auf dem Grunde seiner Seele.

Mr. John Rocket tat ungemein wichtig. Er sagte: »Vor allem, Sir, ist der Ruf des Kalifen zum ›Heiligen Krieg‹ durch die Mekkapilger nach Indien gekommen.«

Sir Bulwer machte eine Bewegung der Ungeduld. Ziemlich ungnädig hauchte er seinen vertrauten an: »Diese Auskunft hätte mir ebenso gut der erste beste Melonenhändler geben können. Von einem Beamten der Geheimpolizei erwarte ich genauere, mehr sachkundige Angaben.«

Der sehr ehrenwerte John Rocket biß sich ingrimmig auf die Unterlippe. Seit wann kam es seinem Chef in den Sinn, ihn, seinen erprobtesten Beamten, also zu rüffeln? Sir George Bulwer – als Gentleman – verstand zwar sehr viel von Weibern, Pferden und Karten, aber als Polizeichef–... nein, als solcher war er denn doch zu sehr auf seine, John Rockets, Informationen angewiesen.

»Durch die Mekkapilger, Sir, ist der Ruf in das Volk gedrungen; durch das geschickt angelegte, weitverzweigte Kanalnetz meiner Agenten erfuhr ich von der Sache.«

In der betonten Gegenüberstellung der Worte »Mekkapilger und Volk« und »Agenten und ich« lag nicht nur eine Abschwächung des erhobenen Vorwurfs enthalten, sondern auch, so fein, wie fühlbar, eine Spitze gegen den Präsidenten. Dieser spürte gleichwohl nichts davon oder wollte es wenigstens nicht. Sein Gesicht verriet weder Unwillen noch sonst eine Gemütsbewegung. Der in seiner Berufsehre schwer gekränkte Polizeirat – oder ist etwa ein Vergleich zwischen einem Geheimpolizisten und einem Melonenhändler nicht eine schmerzende Beleidigung? – hatte sich jedoch allen Ernstes vorgenommen, seinen sich heute so merkwürdig kühl und überlegen aufspielenden Vorgesetzten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Gewaltig holte er in seinem Berichte aus.

»Aus Kum«, so begann er, »der ›Stadt der Nachtigallen‹, das die Sommerresidenz des Schahs von Persien ist und wo zur Zeit die aus Teheran verbannten Gesandten der Mittelmächte leben, brach vor genau drei Wochen eine Karawane auf, in deren Mitte eine für die Sicherheit des indischen Reiches äußerst staatsgefährliche Persönlichkeit reiste. Meine Agenten hatten von durchaus zuverlässigen und gut unterrichteten Armeniern in Erfahrung gebracht, die wichtigste Mission dieses in höherem Auftrage reisenden Individuums sei es gewesen, zunächst einmal den Emir von Afghanistan durch bedeutende Geld- und Kompensationsversprechungen zu bewegen, ein Bündnis mit der Türkei einzugehen und über Belutschistan nach Indien zu marschieren.«

Sir George Bulwer winkte auf eine Art, die, von Bewunderung sehr weit entfernt, zu besagen schien, daß dem in der Tat so sei und man ihm damit nichts Neues hinterbringe. »Das sind Dinge«, sagte er sehr kühl und sachlich, »die, wie die Putsche in Kalkutta und die Vorgänge im Pendschab und Delhi, wo man mohammedanische Soldaten bei der Zerstörung von Geschützverschlüssen ertappte und erschoß, in erster Linie die dortigen Behörden angehen. Uns interessieren zunächst die Ereignisse im Gouvernement Bombay und –«, der Präsident erhob bedeutungsvoll die Stimme, »und–...«

Seine Stimmbänder litten anscheinend unter einer momentanen Reizung. Er räusperte sich mehrere Male und nickte dabei mit dem Kopfe, was der sehr spürsinnige John Rocket für eine Aufforderung zum Weitersprechen hielt. Er beendete daher den Satz mit den Worten:

»– und im angrenzenden Fürstentum des Nizam von Haiderabad.«

»Sehr wohl«, lobte der Präsident, » very well.«

In diesem Augenblick ertönte von der Straße, auf die das Zimmer Nr. 43 mündet, dreimal hintereinander – kurz – kurz – lang! – die Hupe eines Autos. Sir George Bulwer stand vom Schreibtisch auf, maß seinen Untergebenen mit einem raschen, prüfenden Seitenblick und fragte kurz, jedoch mit interessierter Geschäftigkeit, deren der Gegenstand wohl wert war:

»Nun – was Neues aus Haiderabad?«

Mr. Rocket, der als alter Kriminalist sehr wohl wußte, daß eine kurze Spannungspause zwischen Frage und Antwort die Seele des Fragestellers für die Neuigkeit nur um so empfänglicher mache, sann für kurze Minuten nach, ehe er antwortete:

»Der Emir von Afghanistan, Sir, ist nur das Bindeglied in der großen panislamitischen Bewegung mit dem ausgesprochenen Zwecke der Revolutionierung Indiens, deren Drähte von der Hohen Pforte ausgehen und am Hofe des Nizam von Haiderabad enden.«

Mr. Rocket durfte mit dem Eindruck seiner Worte im allgemeinen zufrieden sein. Des Präsidenten Mienen verrieten jetzt tatsächlich ein leichtes Erstaunen. Und nicht ohne gewisse Hast fragte er zum zweiten Male:

»Und haben Sie auch in Erfahrung gebracht, mein lieber Rocket, wer diese Drähte gespannt hat?«

» Yes, sir –, eben die beregte staatsgefährliche Person.«

Wieder drang von der Straße das Hupen des Autos herauf.

Sir George Bulwer ließ sich von seinem Beamten den Abendmantel um die Schultern legen und fragte über die rechte Schulter hinweg:

»Bitte –, der Name dieses Subjektes?«

»Harry Webster –«

»Harry Webster?« machte der Präsident nachdenklich und schloß langsam seinen Mantel. »Harry Webster –? Den Namen sollte ich doch schon gehört haben.«

Mr. Rocket glühte vor Mitteilungsdrang. »Sehr leicht möglich, Sir. Das ist jener Harry Webster – ein Deutsch-Amerikaner –, dessen feindselige Agitation gegen die ententefreundliche Spionagetätigkeit des Pinkertonschen Detektivinstituts in New-York seinerzeit so unliebsames Aufsehen erregte, bis ein Meisterstreich des gerissenen Pinkerton Websters Namen mit der großen Explosion in den Werken der Bethlehem Steel-Compagnie, der mächtigsten und leistungsfähigsten Munitionslieferanten der Verbandsmächte, zu verwickeln wußte. Der Verdächtige soll es damals vorgezogen haben, aus den Staaten zu verschwinden, und Pinkerton hatte wieder freie Hand.«

»Und wohin wandte sich in der Folge dieser – Harry Webster?« forschte der Präsident wißbegierig weiter, den Namen ironisch akzentuierend.

»Sicherem Vernehmen nach berichtete man über ihn wohl nach dem Londoner Auswärtigen Amte, verlor ihn aber gleichwohl aus dem Gesichte. Vielleicht deshalb, weil er damals noch nicht in dem Maße im Geruche einer internationalen, politisch verdächtigen Persönlichkeit stand wie heute.«

Ein feines, boshaftes Lächeln rieselte von den Lippen und Mundwinkeln des Polizeipräsidenten hernieder. »Das ist ohne Zweifel ein großer Fehler des Auswärtigen Amtes in London, das sich an den hohen und verantwortlichen Unterlassungssündern in Downingstreet eines Tages schwer rächen dürfte.« –

Das Auswärtige Amt ist für den gewaltigen, makrokosmischen Riesenkörper des britischen Weltreiches, was das Hirn im mikrokosmischen Menschenkörper: der Sitz des diplomatischen Zentralnervensystems, von wo aus sich die ungemein feinverästelten Nervenstränge als Diplomaten mit und ohne Beglaubigungsschreiben, Botschafter, Gesandte, Attachees, Konsuln, Emissäre, Geheimagenten und Kontraagenten, Spione und Überwachungsspione über den ganzen bewohnten Erdball spannen. Und darin liegt die enorme Wichtigkeit und Bedeutung der Foreign Office in der Downingstreet zu London, daß sie alles sieht, hört und weiß, was Neues sich in der Welt der Politik ereignet.

Dieser geheimnisvolle Harry Webster nun war in das Gesichtsfeld einer politisch bedeutenden Persönlichkeit aufgerückt. Seine Existenz bedeutete eine Gefahr für das Indien Englands.

»Und wo, Mr. Rocket –, wo hält sich dieser Harry Webster gegenwärtig auf?« fragte der Präsident sehr interessiert.

Der Polizeirat besaß noch so viel Überlegung, über seine Unwissenheit bezüglich dieser Frage einen diplomatischen Phrasenschleier zu werfen, um von seinem höhnischen Chef nicht der gleichen Unterlassungssünde wie die Böcke von der Downingstreet geziehen zu werden.

»Dieser Mensch«, sagte er, »ist das reine Chamäleon. Mehr als das: er ist ein Nereus, der sich in die verschiedensten Gestalten hüllt und sehr schwer zu fassen ist. Doch lassen die letzten Berichte meiner Agenten den ziemlich sicheren Schluß zu, daß er nicht weit von hier sein kann.«

»Well –« sagte Sir Bulwer, seine Stimme etwas erhebend, da gerade in diesem Augenblick wieder ein durchdringendes Autohupen von der Straße herauftönte. »Ihr Bericht, wofür ich Ihnen danke, Mr. Rocket, hat in mir die feste Überzeugung ausgelöst, daß sich Harry Webster tatsächlich hier in Bombay aufhält. Denken Sie an meine Worte und halten Sie sich zu meiner Verfügung bereit. Die nächsten Minuten schon können die Entscheidung in dieser Sache herbeiführen.«

Der Polizeipräsident nickte seinem Beamten herablassend zu, ergriff seinen Hut, streifte die weißen Handschuhe lässig über seine Finger und verließ würdevollen Schrittes das Zimmer Nr. 43.


 << zurück weiter >>