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Fünftes Kapitel.

In der Nacht, in der das offizielle Bombay zu Ehren des Nizam von Haidarabad, Osman Ali Khan Bahadur, ein so glänzendes Bankett veranstaltete, wollte natürlich auch das Volk sein bescheiden Teil an den rauschenden Festlichkeiten haben. Zumal die mohammedanische Bevölkerung, die in ihrer überwiegenden Mehrheit das ältere Viertel der Stadt, Blacktown oder Schwarzstadt genannt, bewohnt.

Labyrinthisch wirren hier Gassen und Gäßchen durcheinander, oft nur wenig mehr als 1 bis 2 Meter breit. Ähnlich wie in Konstantinopel und den meisten orientalischen Küstenplätzen, gewährt dieser Stadtteil, von der See aus gesehen, einen recht malerischen Anblick, streift jedoch beim Näherkommen sein buntes Schmetterlingsgefieder gänzlich ab und verwandelt sich in eine häßliche Raupe zurück. Bei der außerordentlichen Dichtigkeit der hier hausenden Bevölkerung – auf eine Person entfallen durchschnittlich nur 6,5 Quadratmeter – ist es nur erklärlich, daß von diesen Vierteln grauenhaftesten Schmutzes aus schon zu mehreren Malen Pest und Seuchen Arm in Arm mit dem Schreckgespenst der Hungersnot ihre massenmörderischen Triumphzüge durch ein Land antraten, dem an Fruchtbarkeit und Reichtum kaum ein zweites in der ganzen Welt gleichkommt.

An diesem Abend bemühten sich zahlreiche, an Seilen über die Gassen gespannte bunte Lampions im Verein mit der funkelnden Sternenpracht des südlichen Himmels nach besten Kräften, dieses Stadtteils Dürftigkeit zu vergolden. Von den schmalen, niedrigen Türmen und den weit vorspringenden Veranden der den altindischen Baustil unverfälscht bewahrenden Häuser hingen farbige Tuchstreifen und sanft im Nachtwind schaukelnde Blumengewinde in die Gassen hinein. Die Eingänge der Häuser waren von Jasminzweigen und Ringelblumenbüscheln gefällig umrankt. Die Luft blähte sich förmlich vor Jasmin- und Moschus- und Weihrauchdüften.

Ein strudelnder Menschenstrom flutete unaufhörlich die Gassen auf und nieder und floß vor den Plätzen der Moscheen zu breiten, gurgelnden Seen aus. Auf den platten Dächern und hölzernen Balkonen und hinter den Gitterfenstern, überall zeigten sich Menschen und Menschengesichter, strahlend vor harmloser Freude und kindischer Lust an des Lebens buntem Sein und Sinn. Die verschleierten Frauen auf den Dächern warfen Ringelblumen und buntgefärbten Reis unter die Menge. Ehrgeizige Privatbarden, einstweilen noch von den Backschischs des gemeinen Volkes lebend, im Herzen die kühne Hoffnung auf eine baldige Anstellung am Hofe irgendeines Radschas, ließen um die Wette schwülstige Ruhmeshymnen auf den Haidarabader steigen.

Im Schweiße ihres Angesichts bahnten sich schreiende Händler mit Süßigkeiten, Glasperlen, billigem Schmuck und vielerlei Nichtigkeiten ihren Weg durch die gestaute Menge. Die Leibwache des Nizam – der Fürst reiste mit großem Gefolge – trug, soweit beurlaubt, ihre mehr malerische, als kriegerische Uniform selbstbewußt zur Schau. Die Runde von der Ankunft des Fürsten hatte von weither Bettelmönche und wandernde Priester jeden Bekenntnisses in der sicheren Erwartung eines guten Geschäftes in die Stadt gelockt. Lachsfarbig leuchteten die Kleider der einen im buntbelebten Straßenbilde auf, indes die anderen ihre Nacktheit mit Asche bedeckten. Mit roten, rollenden Augen zogen sie gaßauf, gaßab, bald mit Drohungen, bald mit Gewimmer Almosen heischend. Im blutrot zum Nachthimmel leckenden Scheine reichlich abgebrannten Feuerwerks zeigten wandernde Musikanten, Bänkelsänger, geschmeidige Tänzerinnen, vierschrötige Ringer, verschmitzte Zauberer und Fakire ihre mancherlei Künste.

Besonders taten sich die Märchenerzähler hervor. Jeder hundertste Mann aus der vieltausendköpfigen Menge hatte in dieser Nacht der Freude den Beruf eines Märchenerzählers in sich entdeckt. Bald hier, bald da ballten sich Menschenleiber zu wimmelnden, wuselnden Schwärmen zusammen und hielten die Märchenerzähler dicht umlagert. Die Augen der Zuhörer leuchteten vor Begeisterung, und ihre Mienen strahlten vor wonnigem Entzücken wie des Mondes silberglänzendes Angesicht beim Zuhören der wunderbaren Märchen und herrlichen Worte, wie sie süßer und berauschender selbst von Scheherazades begnadeten Lippen nicht hätten perlen können. Und das wunderbarste von allem war, daß das gar keine richtigen Märchen waren, was der beredte, vor Begeisterung überfließende Mund der Erzähler zu berichten wußte, sondern bare Geschichtswahrheiten.

Da sollte der große und mächtige Kaiser der Franken, der vor Zeiten einmal ins heilige Morgenland gepilgert kam und von sich gesagt hatte, er sei der Freund aller Mohammedaner, mit dem großmächtigen Nachkommen des Propheten, dem erhabenen und ehrwürdigen Kalifen zu Stambul, sich verbündet haben, um die verhaßten Faringi –

Eine Bewegung entstand unter den Umstehenden. Köpfe fuhren herum. Ein warnendes Gemurmel sprang von Mund zu Mund:

»Bedecke, o weiser Mann, den kühlen Bronnen deiner erquickenden Rede, damit nicht schleichende Schakale das Labsal der rechtgläubigen Anhänger des Propheten verunreinigen!«

Und es erhob der weise Mann seine Stimme zu voller Stärke, pries die Güte und Größe Allahs, des Ewigen und Einzigen, des Allmächtigen und Allerbarmers, der die bezaubernde Gabe der Rede in seine unwürdige Brust gesenkt habe, damit sie herrlich erblühe gleich dem Dattelbaume und reiche, köstliche Früchte trage zum erfrischenden Genusse und Ergötzen all derer, die des Weges dahergezogen kommen. Und so hub er an zu erzählen und sprach:

»Im Namen Allahs, des Einzigen, des Allerbarmers und Barmherzigen! Es lebte einmal ein reicher Kaufmann, der war so reich, daß seine Schatzkammern und Gewölbe und Speicher nicht mehr ausreichten, die Fülle seines Goldes an glutroten Barren, geschlagenen Münzen und kunstvoll geschmiedeten Reifen und Ringen, an Schmuck und Wehrgehängen und allerlei Edelgestein: Diamanten und Brillanten, Amethyste und Opale, Saphire und Rubinen, Onyx und Smaragde zu fassen. Sein Waffensaal wies die blitzendsten Klingen, Schwerter, Speere und juwelenbesetzte Dolche auf. Gefüllt bis zum Rande waren seine Truhen – ihre Zahl aber belief sich auf zweimalhundertundzwei – mit dem feinsten Linnen, mit knisternder Seide, wonneweichem Samt, mit köstlichem Spitzenzeuge und blendendem Damaste. Seine Scheunen quollen über vom Segen der reifenden Felder, und in den Vorratskammern häuften sich Früchte und Süßigkeiten und Leckerbissen sonder Zahl. Seine Tafel zierten die erlesensten Speisen, und der Ruf von der Köstlichkeit und Süße und Schwere der Weine ging aus über das ganze Land.

Und gleichwohl ließ Allah, der sehr Hohe, sehr Weise und Unerforschliche, es zu, daß das Herz dieses Mannes arm sich dünkte inmitten seines unermeßlichen Reichtums und sein Sinn sich nach einem Besitze zu sehnen begann, nach einem Schatze, den er, trotz der Menge und Schönheit seiner Sklavinnen, bisher nicht sein eigen nennen durfte. Ihm fehlte die Liebe eines Weibes –«

Und alle Zuhörer nickten an dieser Stelle Beifall, und als sich der störende Polizist im weißen Korkhelm wieder verzogen hatte, sank die Stimme des Erzählers erneut zu geheimnisvollem Wispern herab, womit er seinen seltsamen Bericht von Kaiser und Kalifen begonnen hatte. –

»Alle Welt,« so fuhr er fort, »wisse es, daß der Frankenkaiser mit dem Kalifen in Konstantinopel sich verbündet hatte, um die verhaßten Faringi zu züchtigen für all die Ungerechtigkeiten und Missetaten, womit sie seit alters die Völker des Erdkreises heimsuchten. Im Bunde mit den Russen und Franzosen hätten die Faringi zwar versucht, den Sultan aus seiner Hauptstadt Konstantinopel zu vertreiben, doch hätten die unvergleichlich tapferen Glaubensbrüder und ihre starken Freunde, die Franken, die frechen Feinde von der Halbinsel Gallipoli verjagt und ins Meer geworfen.«

» Allah akbar!« konnte sich ein weißbärtiger Alter nicht enthalten auszurufen, und alles Volk stimmte in den Ruf ein und sprach: »Gott ist groß!«

Dann seien unter den Franken zwei gewaltige Kriegshelden erstanden, berichtete der Märchenerzähler weiter: Hindenburg und von der Goltz-Pascha. Der Hindenburg habe des Sultans Erb- und Erzfeind, die Moskowiter, bis tief nach Rußland hineingejagt. Das Werk des von der Goltz-Pascha sei es gewesen, daß jetzt die türkischen Brüder das stark befestigte Kut el Amara eingenommen und dabei 30 000 Faringi zu Gefangenen gemacht hätten.

Von den Lippen der Umstehenden fielen Ausrufe des Erstaunens und der Verwunderung. – Was? Kut el Amara, eine starke Festung, hätten die türkischen Glaubensbrüder genommen? Dann stünde den Türken ja der Weg nach Bagdad, der vielgepriesenen Kalifenstadt, offen, meinte der Alte, der als Kaufmann früher viele und weite Reisen gemacht hatte. Und gleich 30 000 Faringi seien zu Gefangenen gemacht worden? Und da habe man immer gemeint, die Faringi seien unbesiegbar! Inshallah!

»… Eines Tages nun«, so erhob der Erzähler beim abermaligen Auftauchen eines weißen Korkhelmes aufs neue seine Stimme, erzählte den Schluß seines Märchens und sprach: »Eines schönen Tages nun hörte der Kaufmann von einer unbeschreiblich schönen Frau, deren Liebreiz mit der blendenden Schönheit einer Huri des Paradieses erfolgreich wetteifern konnte. Flammend vor Begier rüstete er zu einem Zuge nach dem ostwärts liegenden Lande der schönen Frau und machte sie mit Gewalt zu seinem Weibe.

»Die Zeit ging dahin«, fuhr der Erzähler fort, »und mit den entschwindenden Jahren merkte der Kaufmann, daß die Lieblichkeit seines Weibes zu verblassen begann wie des Mondes Silberschein vor der nüchternen Helle des Tages. Da vergaß der Unersättliche der vielen köstlichen Genüsse, die sein Weib ihm dargebracht, begann in der Bosheit seines Herzens Gutes mit Bösem zu vergelten, behandelte sie schlecht und erniedrigte sie zu seiner Magd. Inzwischen waren aber seine Söhne, die ihm die schöne Frau geschenkt, zu stattlichen Jünglingen herangewachsen. Und sie ergrimmten über die ungerechte Behandlung der Mutter, standen wider den herzlosen Vater auf und erschlugen ihn. Hierauf teilten sie sein reiches Erbe zu gleichen Teilen unter sich. Einig unter sich, waren sie auch nach außen hin stark und von allen Nachbarn geachtet und gefürchtet und lebten zufrieden und glücklich bis an ihr Lebensende. Denn, meine Brüder«, so endete der Erzähler und hob bedeutungsvoll den rechten Zeigefinger in die Höhe, »Habsucht ruhet nimmer, bis sie sich ihr eigenes Grab gegraben. Eintracht aber ist das Fundament der Stärke und erste Voraussetzung allen Erfolges. – La illah illallah!«

Und alle Umstehenden legten ergriffen den Finger des Beifalls auf die Lippen des Schweigens, und auch der Polizist, der eine Weile zugehört hatte, legte die Hände auf den Rücken, nickte mehrere Male anerkennend und würdevoll wie ein wackelnder Pagode mit dem Kopfe und patrouillierte dann weiter. Nachdem er gegangen, schaute sich der bronzefarbene, alte Inder mit dem weißen, wallenden Prophetenbarte vorsichtig nach allen Seiten um, ob auch die Luft rein sei, stieß seinen Nachbar vertraulich in die Seite und meinte:

»Dieses Märchen mutet mich wie ein sinnvolles Gleichnis an. Will es mir doch scheinen, als sei mit dem Kaufmann der habsüchtige Faringi gemeint, mit der unglücklichen, schönen Frau aber Indien, unser Mutterland.«

Die Meinung des Alten sprach sich herum und kam auch dem Märchenerzähler zu Ohren.

»Ja, meine Brüder«, gab er die Erklärung ab, »so ist es gemeint. Und wir, Indiens Söhne, können nicht eher zufrieden und glücklich leben, bis wir den habsüchtigen, undankbaren Krämer erschlagen und unser rechtmäßiges Erbe angetreten haben. Bisher tapptet ihr in Finsternis und wandeltet die Pfade der Unwissenheit, weil die Faringi, um ihren niedergehenden Ruhm und ihre Herrschaft besorgt, keinerlei nachteiligen Kriegsnachrichten ins Land hereinließen. Nun aber, da ich euer Auge dem Sonnenlichte der Wahrheit geöffnet habe, und ihr jetzt wisset, daß der Kalif feierlich die Fahne des Propheten entrollt und den › Dschihad akbar‹, den Heiligen Krieg, erklärt hat, ist es eure heilige Pflicht, mit Feuer und Schwert gegen die Feinde des Islams zu kämpfen und die verhaßten Faringi zum Lande hinauszutreiben, damit der indische Nationalstaat in seiner alten Größe und Herrlichkeit wiedererstehen kann wie vor Jahrhunderten, zur Zeit des ruhmreichen Babar, der ganz Indien zu einem blühenden Einheitsstaat verbunden und voll der Macht und Glorie darüber geherrscht hatte.«

Eine steigende Erregung bemächtigte sich der Zuhörer. Einer warf die Frage auf:

»Und in wessen Person sollen wir in unseren Tagen den neuen Reichseiniger und Großmogul erblicken?«

Worauf der Erzähler feierlichen Tones, als verlese er eine Sure des Korans, erwiderte und sprach:

»In keinem anderen, denn in jenem erhabenen Fürsten, der von altersher mongolischer Statthalter ist und heute noch den Titel ›Nisam ul-mulk‹, Ordner des Staates, führt: im Nizam von Haidarabad!«

Wie Schuppen fiel es da den Männern von den Augen. Wahrlich nur der Nizam, Indiens stärkster, mächtigster und einflußreichster mohammedanischer Fürst, konnte der gottgewollte Führer im großen Befreiungskampfe gegen die weißen Tyrannen und Bedrücker sein.

Sein Name war auf aller Lippen, flog von Mund zu Mund, von Gruppe zu Gruppe, wo immer man dieselbe große Kriegskunde vernommen hatte. Unerhörtes hatte sich begeben: die ehrwürdige und geheiligte Person des Kalifen hatten die Feinde des Islams aus der Stadt der hochragenden Minarette am Goldenen Horn verjagen wollen! Und jetzt war der Heilige Krieg erklärt. Sie alle wollten dem Rufe folgen. Und der Nizam von Haidarabad sollte sie anführen. Der Name Osman Ali Khan Bahadur wurde zur Losung, zum Kampfgeschrei. Und wie ein reißender, durch donnernde Lawinengänge und Schneeschmelzen angeschwollener Gießbach mit unwiderstehlicher Macht über die zu engen Ufer tritt und zu Tale braust, also wälzten sich jetzt die fanatisierten Massen aus Blacktown hinaus und überfluteten in breitem Strome die Neustadt, die Stadt der Faringi, den Hochsitz der Feinde Indiens und des Islams. –

Noch hatten die Demonstranten die Neustadt nicht ganz erreicht, als das Haustelephon in der Privatwohnung des Bombayer Polizeipräsidenten anfing zu rasseln, als wäre es von einem bösen Geiste besessen. Der herbeistürzende Hausmeister gab auf Befragen zur Auskunft, daß Sir George Bulwer von dem Bankett noch nicht zurückgekehrt sei, worauf der anläutende Oberste der Polizeitruppe ohne weiteren zeitraubenden Versuch, den Präsidenten telephonisch zu erreichen, den Befehl an die Hauptleute der einzelnen Polizeistationen ergehen ließ, alle verfügbaren Mannschaften ungesäumt gegen die rebellischen Demonstranten zu werfen.

So konnte es geschehen, daß » The Green« von Polizisten völlig entblößt war, als kurz nach 1 Uhr in der Bankettnacht der Doppelgänger des Bombayer Polizeipräsidenten den dortigen Fernsprecher zu dem bekannten Gespräche mit seinem anderen Ich benutzte, und als der Sprecher aus irgend einem Grunde urplötzlich abbrach.

Welches mochte dieser Grund gewesen sein? –


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