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Viertes Kapitel.

Als Sir George Bulwer sein vor dem Hauptportal des Präsidiums harrendes Auto bestieg, geschah es in der eingestandenen Absicht, sich auf der Heimfahrt von dem Fehlen der Polizisten selbst zu überzeugen. Diese löbliche Absicht machte jedoch das sanfte Vibrieren der federnden Karosserie im Bunde mit der weichen, schmeichelnden Nachtluft und den schläfernden Einwirkungen des Alkohols zuschanden. Kaum daß er in den bequemen Rücksitz sich hingelehnt hatte, fühlte er, wie eine wohltätige Entspannung durch seine Nerven ging. Unwillkürlich glitt sein Geist in die Welt der Träumerei.

Er mußte an seine Londoner Lebemannszeiten denken und wie so herrlich es damals noch gewesen, da der jugendliche Frohsinn von keinem Berufsärger beschwert war, und man nach Theaterschluß mit einer Schönen von Covent-Garden- oder Garrick-Theater zum Souper nach Kettners fuhr. Sei es nun, daß die schönen, alten Erinnerungen zu übermächtig in ihm wurden, sei es aus sonst einem dunklen Grunde – genug, er glaubte wieder eine Theaterschönheit neben sich sitzen zu haben und lehnte, mit dem altverbrieften Rechte unbekümmerter Weinseligkeit, wie damals schon, sein Haupt gegen ihre Schultern. Diese Schultern – schöngeformte Schultern, bei Gott! ja – verbargen ihren Liebreiz hinter einem kostbaren, diskret parfümierten Theaterschal. Wie um den Genuß des anregenden Parfüms besser auskosten zu können, beugte er sich herab und sog mit giergeblähten Nasenflügeln den berauschenden Duft ein.

Aber seltsam – dieser süßliche Duft, der ihn noch stets so entzückt hatte, erfüllte ihn plötzlich mit einem geheimen Widerwillen. Statt aber, einem instinktiven Willensantriebe folgend, von der Quelle des übelkeiterregenden Parfüms wegzustreben und seine übertäubten Sinne der erfrischenden Nachtluft auszusetzen, ließ er den Kopf nur um so tiefer fallen und vergrub seine Nase buchstäblich in dem leuchtenden Seidenschal–...

In dieser, der hohen Würde eines Polizeipräsidenten wenig zuträglichen Lage fanden ihn seine Diener, als das Auto vor seinem Hause hielt. Nach indischer Sitte stand dem Groom nicht das Recht zu, in die Dienstobliegenheiten des Kammerdieners, der seinen Herrn oben im Schlafzimmer erwartete, einzugreifen. Dieser mußte zunächst gerufen werden. Aber weder seinem unterwürfigen Weckrufe, noch seinem anfänglich zagen, dann immer beherzter werdenden Schütteln gelang es, den Sahib aus seinem tiefen Schlafe zu erwecken. Es blieb somit nichts anderes übrig, als mitten in der Nacht die Palankinträger zu alarmieren, die den Präsidenten in einer Sänfte nach oben trugen, wo der Kammerdiener seines intimen Amtes weiterwalten konnte. Er entkleidete seinen Herrn mit all der Sorgfalt, die er sonst dem wachenden zu erweisen pflegte, und brachte ihn mit ziemlicher Mühe zu Bett, ohne daß sein Schlaf während dieser Vorgänge die geringste Unterbrechung erlitten hätte. –

Indes sich so der Polizeipräsident die ganze Nacht hindurch eines Schlafes von geradezu beneidenswerter Tiefe und Dauer erfreuen durfte, war es dem vielgeplagten Mr. John Rocket nur für kurze Stunden vergönnt, an Ausspann zu denken, und selbst dann war sein Schlaf unruhig und von quälenden Berufssorgen gestört. Nach dem Weggange seines Chefs hatte ihn eine so große körperliche Müdigkeit überfallen, daß er sich unausgekleidet auf den Diwan im Nebengemach seines Dienstzimmers hinwarf. Der ihn heimsuchende Halbschlummer vertrieb zwar die bleierne Müdigkeit ein wenig aus seinen Gliedern, sein Geist jedoch ging keuchend unter der dumpfen Last ungeklärter Fragen. Der Gedanke an Mrs. Besant beschäftigte ihn unausgesetzt, mischte sich mit ganz entfernt liegenden Eindrücken zu einem grotesken Traumbild und trieb ihn in der siebenten Morgenstunde schon wieder auf die Beine.

Nachdenklich betrat er das Dienstzimmer, wo er sich ein kleines Frühstück servieren ließ. Er mußte mit der Möglichkeit rechnen, daß sein Chef im Laufe des Tages auf die Vorführung der verhafteten zurückkommen würde. Welche Maßregeln hätte er in diesem Falle zu ergreifen? Er entwarf mehrere Pläne, die manches für sich hatten, aber gleichwohl keine unbedingte Gewähr boten, ihn vor einer Blöße zu bewahren. Das Vertrauen seines Chefs würde einen schweren Stoß erleiden. Mit dessen Gunst wäre es gründlich aus. Und wo in aller Beamtenwelt läßt es sich rasch und sicher die Stufenleiter der Beförderung hinansteigen ohne das bequeme Treppengeländer der Protektion!

In schweren Wolken blies er den bläulichen Rauch einer Henry Clay gegen die Decke des Zimmers. Fast genau in dem Maße, wie die steigende Rauchsäule sich nach oben verflüchtigte, verdichteten sich seine Gedanken, nahmen ein schärfer umrissenes Gepräge und festere Gestalt an. Sein Gesichtsausdruck machte diese Wandlung in gleichem Schritte mit. Zuletzt lag der Abglanz eines inneren Triumphes darüber ausgegossen.

Beim heiligen Georg! Ja, – das ist eine Idee! Damit machte er den Fall ein für allemal aus. Je mehr er über seinen neuesten Einfall nachdachte, desto genialer dünkte er ihm. Schließlich verliebte er sich nach Weise eitler Väter so sehr in seines Geistes Kind, daß er ordentlich stolz und zufrieden mit sich selbst wurde und den Fall Besant gar nicht mehr so widerlich fand wie zuerst.

Als er nach dem Polizeigewahrsam hinüberging, konnte er sogar wieder lächeln, so stark ihm auch der Schädel brummte. Es war ein sehr listiges, verschlagenes, ein bösartiges Lächeln. Oder vielmehr die Grimasse eines solchen.

Hätte er, wie er zuerst im Sinne gehabt, einen Ausbruch fingieren lassen, was wäre das schon groß gewesen? Eine Stümperei, eine Halbheit. Und die Verantwortung wäre letzten Endes doch auf ihn zurückgefallen, weil er es unterlassen hatte, die schärfste Wachsamkeit den Schließern anbefehlen zu lassen in betreff einer Person, deren Gefährlichkeit schon allein daraus erhellte, daß ein tollkühner Mensch in des Präsidenten Maske sie zu befreien versucht hatte.

Nein, das wäre ein Schnitt ins eigene Fleisch gewesen. Für den Präsidenten durfte Mrs. Besant weder befreit, noch ausgebrochen sein. Und eine andere Gefangene als die angebliche Besant dem Chef vorführen lassen, hieße den Fall für unnötig entwickeln, die Düpierung auf die Spitze treiben. Gewiß, die zur Pseudo-Besant gepreßte würde alles, was ihr die Akten zur Last legten, glatt in Abrede stellen und ihre Identität mit der Besant hartnäckig leugnen. Dem ließ sich zur Not ja leicht mit dem psychiatrischen Auskunftsmittel begegnen, die Vorgeführte habe über Nacht durch die Haft den Verstand verloren. Nun aber hatte die richtige Besant eine sehr charakteristische Physiognomie, die man, wenn auch nur flüchtig gesehen, nicht so leicht vergessen oder verwechseln konnte. Für Frauenphysiognomien hatte der Präsident ein besonders scharfes Gedächtnis, – das wußte Mr. Rocket sehr wohl. Daran würde auch die Tatsache nur wenig ändern, daß der Präsident die Verhaftete durch den linienverwischenden Flor des Weindampfes hindurch erblickt hatte.

Nur ein Weg konnte hier zum erwünschten Ziele führen. Ganze Arbeit mußte getan werden.

Und erhobenen Hauptes schritt Mr. John Rocket durch die schwere, eisenbeschlagene Verbindungstür in den Polizeigewahrsam hinein. Auf den Lippen lag das bewußte Lächeln, auf dem Grunde seiner Seele der unbeugsame Entschluß, den Fall Besant mit einem Schlage aus der Welt zu schaffen.

Der Schlüsselmeister, ein Hindu mit ernsten, schwarzumbarteten Gesichtszügen, den Kopf von einem kunstvoll geschlungenen, weißen Turban umbuscht, eilte bei dem unerwarteten Eintritt des Herrn Polizeirates diensteifrig herbei, grüßte und erstattete Rapport:

»Der Gewahrsam ist belegt mit insgesamt 37 Häftlingen; davon 30 männlich und 7 Frauen.«

Mr. Rocket nickte kurz und ließ sich die Frauenabteilung aufschließen. Eine jede der sieben Unglücklichen mußte auf seinen Wunsch unter die Zellentür treten und es sich gefallen lassen, daß der Polizeirat beim Vorbeigehen sie mit prüfenden Blicken betrachtete. So war er bis zur sechsten Tür gekommen, ohne daß eine der Insassinnen dem geheimen Zwecke seiner Prüfung entsprochen hätte.

Bei der siebenten stutzte er unwillkürlich. Der Anblick der noch jugendlichen Frauensperson ließ einen Strahl der Freude in seinen Augen aufglimmen. Mr. Rocket hatte nicht erst nötig, sich beim Schlüsselmeister, der unterwürfig zur Seite stand, nach der Stammeszugehörigkeit der Inhaftierten zu erkundigen. Ein Blick auf das Mädchen belehrte ihn, daß er es mit einer Parsin zu tun habe, einem Mitgliede der Sekte der sogenannten Feueranbeter.

Die Anzahl der Parsi oder Gebern in ganz Indien beläuft sich auf etwa siebzigtausend, wovon in Bombay allein gegen neunundvierzigtausend leben. Sie bilden die heute allein noch übrigen Anhänger der einst von Zoroaster um das Jahr 1000 v. Chr. gestifteten iranischen Naturreligion, an deren Sitten und rituellen Vorschriften sie mit großer Zähigkeit festhalten. Einer der merkwürdigsten ihrer uralten Gebräuche ist die Bestattungsweise ihrer Toten. Diese werden in den sogenannten »Dakhmas«, den »Türmen des Schweigens«, wovon es in und um Bombay sieben gibt, den Geiern und Raben zum Fraß ausgesetzt. Ihre heiligen Schriften, die Zendavesta, bezeichnen das Verbrennen oder Begraben als ein unsühnbares Verbrechen, weil dadurch die heiligen Elemente, das Feuer und das Wasser, verunreinigt würden. Besonders die Verehrung des Feuers, die unter anderem auch dadurch zum Ausdruck kommt, daß sie in ihren Tempeln das heilige Feuer – ein Seitenstück zu dem altrömischen Vestakult – nie ausgehen lassen oder Lichter ausblasen dürfen, die durch Wedeln mit dem Ärmel allmählich ausgelöscht werden müssen, hat ihnen denn auch den Namen der »Feueranbeter« eingetragen.

Durch ihre europäisierende Art sich zu kleiden, mit alleiniger Ausnahme des eigentümlich hohen, mit schwarzem Glanzstoff überzogenen Hutes der männlichen Parsen; durch die helle nur hie und da leicht gebräunte Gesichtsfarbe, ihre durchweg intelligenten Züge und geistige Begabung nähern sich die Parsen sehr den Europäern.

Dieser Umstand wurde der jungen Parsi zum Verhängnis.

Farbe und Züge ihres Gesichtes hatten etwas so ausgesprochen Kaukasisches an sich, daß man sie, wäre nur das schwarzseidene Glanzhaar nicht gewesen, ohne weiteres für eine englische Lady hätte halten können, die im Punkte des Teints einen leichten Anhauch indischer Sonnenbräune durchaus nicht als einen tragisch zu nehmenden Schönheitsfehler ansieht. Nur das schwarze Haar der Parsi zeichnete sich durch einen spezifisch orientalischen Schimmer und Weichheit aus.

In dem scheuen Rehblicke, womit sie für Sekunden dem forschend auf ihr ruhenden Auge des weißen Beamten zu begegnen wagte, stand groß und flehend die Reinheit eines unschuldigen Herzens. Mr. Rocket übersah diesen rührenden Ausdruck als etwas Nebensächliches. Nur eines sah er: der Parsi schönes Schwarzhaar.

Hätte die Parsi in diesem Augenblick seine Gedanken erraten können, so würde sie die furchtbare Entdeckung gemacht haben, daß ihr junges Leben nur noch an einem Haare hing.

Mr. Rocket ließ ein letztes Mal seine abschätzenden Blicke über die wohlgestalteten, jungfräulichen Formen der Parsi gleiten und nickte zufrieden vor sich hin. Das Mädchen faßte dies als ein Zeichen auf, sich in ihrer Bedrängnis ruhig und vertrauensvoll an sein zwar gerechtes, doch auch sehr mildes Herz zu wenden.

»Ich bin ohne alle Schuld hier, Sahib«, sagte sie mit einer weichen, wohllautenden Stimme, deren Klangfarbe durchaus verschieden war von dem metallischen »Suffragettenorgan«, wie Mr. Rocket es nannte, der Mrs. Besant – ein Grund mehr, mit der Person der Parsi so zu verfahren, wie er es beschlossen hatte.

Die Parsi hatte sich des Englischen bedient, das sie, wie die meisten ihrer Religionsgenossen, die sich der Sprache ihrer Unterdrücker zum Teil sogar im Familienkreise bedienen, ziemlich geläufig sprach.

»Ich bin wirklich ohne alle Schuld hier, Sahib«, wiederholte das Mädchen und rang flehentlich die Hände. »Wann, o Sahib, wird Ihre Gerechtigkeit und erbarmendes Mitleiden mich von diesem schrecklichen Leid erlösen?«

Und es erhob Mr. John Rocket, kaiserlich indischer Polizeirat, die Rechte wie zum Schwure und sprach in prophetischem Tone:

»In weniger denn einer Stunde! Bereite dich inzwischen auf deine Erlösung vor.«

Dann lag die Gefangene dem Polizeirat auch schon zu Füßen. In der Ahnungslosigkeit eines reinen Herzens und geraden Sinnes, überwältigt vor Freude und Dankbarkeit, umklammerte das naive Naturkind die Knie des weißen Mannes. Glitt tiefer nieder und berührte mit ihren blühenden Lippen das elegante, feine Schuhwerk ihres Henkers.

Für Sekunden stand Mr. Rocket unangenehm überrascht da.

Flüchtig streifte sein Blick das ergreifende Bild verkörperter Dankbarkeit zu seinen Füßen. Länger blieb er auf dem sichtbar gewordenen, infolge des demütig vornüber geneigten Hauptes schwanenlinig geschweiften Nacken. Am längsten auf dem wunderbar schönen, schimmernden Schwarzhaar.

Als das Mädchen die tränenfeuchten Rehaugen schüchtern zu ihrem vermeintlichen Wohltäter emporschlug und nach Art eines treuen, anhänglichen Hundes seine Hand suchte, um auch darauf einen Kuß zu drücken, da machte er sich rasch von ihr los. Stieß sie fast zurück. Rauh und heftig. Kein menschliches Rühren schlug in seiner Brust.

» It's allright!« war alles, was er unwillig hervorbrachte. »Schon alles gut!«

Es widerstrebte seiner Gentlemannatur, von einem indischen Mädchen Dank anzunehmen.

Wofür auch? – – –

Im nächsten Augenblick hatte sich die Zellentür polternd hinter der Gefangenen wieder geschlossen.

Fünf Minuten später war der Schlüsselmeister mit dem »Erlösungswerk« beauftragt–...


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