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Sechzehntes Kapitel.

»Kommt denn der Babu noch nicht bald?«

Bereits zum drittenmale wiederholte Basakuta, der Kerkermeister, diese ungeduldige Frage.

»Er muß jeden Augenblick eintreffen. Ich habe ihn dringend hierher bestellt,« beruhigte zum ebensovielten Male Fred Pearson, Mr. Websters Sekretär, und nötigte den Inder zu einem neuen Glas Tagory, einem berauschenden Getränk aus Palmensaft, um ihn desto gewisser festzuhalten.

Gemäß des Auftrags seines Chefs hatte Fred um die Zeit des abendlichen Dienstwechsels den Ausgang des Polizeigewahrsams überwacht, wobei ihm unter den abgelösten Beamten besonders das scheue Benehmen des Schlüsselmeisters aufgefallen war. Er folgte ihm unauffällig nach. Basakuta hatte seine Schritte nach dem vornehmen Europäerviertel mit seinen breiten, gepflegten Straßen, den prunkenden Vergnügungsstätten, hell erleuchteten Restaurants und reichen Basaren gelenkt, vor einem in modern-europäischem Stile geschmackvoll ausgemachten Friseurgeschäft angelangt, hatte der Inder seine Schritte verlangsamt, machte wieder kehrt und ging so, anscheinend mit einem inneren Entschluß ringend, mehrmals vor dem Geschäft auf und ab. Fred hatte diesen Augenblick zu einer Annäherung ausgenutzt und schließlich aus dem Munde des über Gebühr mißtrauischen Inders erfahren, daß er recht gern einen wunderschönen Zopf verkaufen wolle, aber befürchte, von den schlauen Geschäftsleuten übervorteilt zu werden.

»Da kann ich euch einen besseren Käufer nennen,« hatte Fred schlagfertig erwidert. »Mein Herr, ein reicher Kaufmann aus Kalkutta, der Geschäfte halber hier weilt, hat eine ausgesprochene Sammlerleidenschaft, unter anderem auch für schönes Frauenhaar. Kommt nur mit, ich weiß hier in der Nähe eine verschwiegene Teestube, Wir wollen uns dort bei einem Glas Tagory die Zeit bis zur Ankunft meines Herrn schon vertreiben.«

Auf dem Wege dahin nahm Fred die Gelegenheit wahr, durch eine letzte Drahtnachricht seinen Chef von der geglückten »Deponierung der C.A.C-Shares« zu unterrichten. Als dann Mr. Webster eintraf, erklärte Fred mit einer vorstellenden Handbewegung auf den Inder, daß dies der Mann sei, der das schöne Frauenhaar zu verkaufen habe. Man müsse schon gestehen, es sei ein schönes Schmuckstück und wert, der besten Sammlung eingereiht zu werden.

Mr. Webster, den einführenden Sinn der Worte Freds sofort begreifend, spielte sich von Stunde an mit viel Natürlichkeit als leidenschaftlicher Sammler von Frauenhaar auf.

»Eines nur ist mir verhaßt,« sagte der Detektiv, nachdem er neben seinem Opfer mit einer vertraulichen Handauflegung auf dessen Arm Platz genommen hatte, »das widerwärtige Feilschen nämlich. Nennt mir also einen annehmbaren Preis, und wenn mir das Stück zusagt, dann soll es mir auf eine Extra-Rupie gewiß nicht ankommen. Laßt hören –!«

Der pfiffige Schlüsselmeister legte wie zum Ausdruck seiner tiefsten Ergebenheit seinen raubvogelartigen Spitzkopf auf die rechte Schulter, nannte mit einer fast wimmernden Stimme und argloser Miene einen unverschämten Preis und ließ seinen Kopf vollends auf die Brust vornüber sinken, so, als wollte er damit, gleichsam ersterbend vor demütiger Hingebung, besagen: »Schlachte mich ab, wenn dir's gefällt; mache mit mir, was sonst immer du willst: – aber billiger kann ich's wirklich nicht lassen.« – Bei sich aber folgerte er in seiner habsüchtig berechnenden Denkart: »Warum soll dieser begüterte Mensch da nicht einen richtigen Liebhaberpreis zahlen?« – Und mit einer betonten Bewegung, gleich als brächte er einem unbekannten Gotte auf beiden Händen ein großes, großes Opfer dar, reichte er dem Detektiv den Zopf hin, den er unter seinem faltenreichen Überwurf hervorzog.

Mr. Webster's scharfes Auge ruhte eine Weile auf den ausgespreiteten Flechten. Mit den liebkosenden Bewegungen eures ausgemachten Sammlers, der soeben eine kostbare Entdeckung gemacht hat, ließ er seine schmeichelnden Finger darüber hingleiten. Mit dem geforderten Preise erklärte er sich ohne Säumen für einverstanden.

Er zog ein Scheckbuch aus seiner Brusttasche, füllte ein Blatt aus und behändigte es seinem Sekretär mit der Weisung: »Wechseln Sie diesen Scheck rasch um, ehe die Wechselstuben schließen. Ich benötige ohnedies etwas Kleingeld«. Fred Pearson fing den diese Worte begleitenden bedeutsamen Blick seines Chefs auf, nickte und ging.

»Untergebene brauchen nicht über jeden Schritt ihres Herrn unterrichtet zu sein,« meinte der Detektiv zu dem Inder, der verständnisinnig nickte. »Sie pochen sonst auf das Vertrautsein mit den Gewohnheiten ihres Herrn allzu sehr, erlauben sich infolgedessen Übergriffe, selbst Unverschämtheiten und deshalb –.« Er machte eine ergänzende Handbewegung nach der Tür, durch die Fred verschwunden war.

»Nun wollen wir zunächst einmal auf das gute Geschäft trinken. – So! – Ein vortrefflicher Stoff. Um nun wieder auf das Haar zurückzukommen: die Ware ist des Geldes wirklich wert. Nie zuvor sah ich schönere Flechten und ich habe – beim großen Gott Har! – gewiß schon Dutzende durch meine Hände gehen lassen. Und da ist mir denn der Gedanke gekommen: Eine Frau, die eines so herrlichen Haarschmuckes sich erfreuen durfte, muß sicherlich selbst eine große Schönheit sein. Habe ich recht?«

»Es könnte sein, daß Ihr recht habt,« versetzte der Inder vorsichtig.

»Wenn nun,« fuhr der Detektiv unbeirrt fort und faßte dabei sein Opfer scharf ins Auge, so daß ihm keine Veränderung in dessen Mienen entgehen konnte, »wenn nun der Zopf wirklich von deiner eigenen Frau herrührt, wie du vorhin versichertest, dann müßtest du so glücklich sein, eine noch sehr junge und sehr schöne Frau dein eigen zu nennen. – wie ist's, guter Freund, könnte ich nicht einmal einen Blick auf ihr Antlitz richten, das ich mir lieblicher vorstelle als selbst des Mondes zartes Profil?«

Zur Unterstützung seines Wunsches klimperte der reiche Babu verlockend mit den harten Scheidemünzen in seiner Tasche. Seltsamerweise sträubte sich jedoch der Schlüsselmeister, dessen Geldgier wahrlich klar genug zu Tage lag, gegen dieses Ansinnen mit Händen und Füßen.

»Bei Kama, dem Gotte der herzenbindenden Liebe, ich versichere euch, Babu, daß die Tage ihrer Schönheit längst dahin geschwunden sind, wie die Wassertropfen unaufhaltsam den heiligen Gangesstrom hinabrinnen. Übrigens ist sie jetzt gerade bettlägerig. Das wollet bedenken, Herr. Aber eine andere nicht minder große Gefälligkeit könnte ich euch schon erweisen. Nämlich, Sahib,« fuhr der Erzschelm fort und kniff verschmitzt das linke Auge zusammen, – »da Ihr doch einmal ein so großer Liebhaber schönen Frauenhaares seid: ich will euch zu einer zweiten, nicht weniger prächtigen Flechte verhelfen. Allerdings sind diese Haare blond von Farbe, wenn euch das nichts weiter verschlägt.«

»Durchaus nicht, guter Freund,« versicherte der Detektiv, ohne Mißfallen über die Ablehnung seiner Bitte zu zeigen. Denn daß der Inder inbetreff der Herkunft der schwarzen Flechte gelogen hatte, lag nach dem ganzen unsicheren Benehmen des Mannes auf der Hand, wenn es noch einer Bestätigung bedurft hätte, so war sie mit dem Papiergeld des zurückgekehrten Fred erbracht. Auf einer der Banknoten hatte Fred die schriftliche Anfrage auf dem angeblichen Scheck seines Chefs kurz und erschöpfend dahin beantwortet, daß er den Schlüsselmeister seit Verlassen des Gewahrsams keine Minute aus den Augen verloren hatte, dieser unterwegs kein Haus betreten habe, folglich das Paket mit dem Zopfe aus dem Gewahrsam selbst mit herausgebracht haben mußte. – Wie sollte der Inder mit einemmale nun zu blonden Flechten gekommen sein? Die konnten entschieden nur einer Europäerin gehört haben.

Diese Erwägungen machten den Detektiv auf die Auskunft des Inders sehr begierig. »Was du nicht sagst!« wandte er sich diesem wieder zu. »Blonde Flechten könntest du mir verkaufen? Solche besitze ich noch nicht in meiner Sammlung, so heiß mein Verlangen auch danach stand. Unter den Weibern der Faringis finden sich viele mit solchem gelbsträhnigen Haarschmuck. Stammen die deinigen etwa von einer Faringi?«

»Nein. – Das heißt: ja, gewiß doch,« verbesserte sich der Inder rasch.

Aus stumm fragenden Augen schaute der Detektiv sein Opfer sekundenlang an. Der Inder wurde ersichtlich betreten und schwieg fürs erste. Offenbar suchte er nach einer passenden Ausrede.

»Entweder stammen deine blonden Flechten von einer Faringi oder nicht. Rede deutlicher Mann!«

Die Überrumpelung gelang zum Teil. Der in die Enge getriebene Inder bequemte sich zu einer Art von halbem Geständnis. Sichtbar stach das Bestreben daraus hervor, seine unbedachte Äußerung wieder gut zu machen.

»Sie müssen wissen, Babu,« Babu = Anrede des indischen Kaufmanns. begann er ziemlich weit ausholend, »daß ich Kerkermeister im englischen Solde bin, was will man machen? Da hat mir nun neulich mein Schwestermann, der bei der Zollbehörde ist, gesagt, daß der größte Teil der diesjährigen Reisernte nach Europa ausgeführt wird. Dort sollen ja die Faringi einen gewaltigen Krieg führen. Was bleibt da für uns hierzulande, die wir doch auch leben wollen!«

»Allerdings«, nickte Mr. Webster mit sorgenvoller Miene.

»Und da hab ich mir gedacht, Babu,« lenkte der Inder wieder zurück, »man soll auch die Distel nicht umkommen lassen, die am Wege steht. Womit ich eben den blonden Haarschopf meine, den ich heute früh in Zelle Nummer 7 gefunden habe. Ich bin nämlich Schlüsselmeister im Dienst der Bombayer Polizei«, schloß der Inder mit einer erklärenden Bekräftigung, »und heiße Basakuta.«

Mr. Harry Webster hatte beim Erwähnen der Zelle Nummer 7 unwillkürlich aufgehorcht. Seine Gedanken schlugen eine Verbindungsbrücke zwischen den Worten des Inders und der Dreizeilennotiz. Er witterte eine Fährte.

»So so –? Basakuta heißest du und stehst in englischen Polizeidiensten«, meinte er, obenhin auf Nebendinge eingehend, um in der Hauptsache den Verdacht seines Opfers nicht zu wecken.

Der Inder las aus diesen Worten einen stillen Vorwurf heraus und führte zu seiner Rechtfertigung an: »Was will ein armer Schlucker anders machen, Babu? Unsereins kann nicht lange danach fragen, wer die Krippe aufschüttet, aus der man sein karges Beamtenfutter frißt. Ich bin nur ein einfacher Beamter, Babu, und tue als solcher meine Pflicht. Wenn aber die Zeiten so schlecht sind wie gerade jetzt, und man vielleicht mit einer Hungersnot zu rechnen hat, da lernt man auch nach dem geringsten Gegenstand sich achtsam bücken. Das waren meine Gedanken als ich den Haarschopf an mich nahm, statt ihn, was nur den gefräßigen Würmern zustatten gekommen wäre, mit in den Sarg zu legen.«

»In welchen Sarg?« fragte der Detektiv rasch.

»Ach so –!« meinte der Inder gleichgültig, als handle es sich um einen recht nebensächlichen Hergang, davon habe ich noch gar nicht gesprochen!« Er mußte sich in der Zwischenzeit eine glaubhafte Erklärung über den Besitz des blonden Haares schon zurecht gelegt haben und fuhr mit der typischen Freude und Behaglichkeit des Orientalen an grausigen Erzählungen zu berichten fort:

»Also –: wie ich da heute früh – es mochte wohl gegen 8 Uhr herum sein – die Zelle Nummer 7 aufschließe –«

»Du selbst?« warf der Detektiv ein.

»Natürlich, wer denn sonst?«

»O, ich dachte nur –, weil du doch Oberster der Schließer bist.«

»Eben deshalb. Ich muß doch von Zeit zu Zeit meine Beamten kontrollieren und auch sonst nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Schließ ich da, wie gesagt, nichts Schlimmes ahnend auf, und das erste, was mir in die Augen fällt, ist – Ihr gestattet doch wohl, Babu, daß ich einen erfrischenden Trunk tue; es ist schwül hier, zum Ersticken! – nun ja, das erste ist eben das blonde Zopfhaar, womit sich die Insassin von Nummer 7 an dem Fensterkreuz ihrer Zelle aufgehängt hatte, und das gewiß eine Zierde Eurer Sammlung werden soll, sobald wir nur erst über den Preis uns einig sind?'

»An mir soll es gewiß nicht gelegen sein«, beteuerte Mr. Webster. »Dein Blondhaar hat übrigens eine sehr merkwürdige Geschichte, die es mir um so begehrenswerter macht.«

Der Inder hielt seinen reichen Landsmann für einen wenig klugen Kaufmann und beschloß, diesen Umstand weidlich auszunutzen. Zum Scheine fand der Liebhaber den geforderten Preis zwar etwas reichlich hoch, willigte aber schließlich darin ein.

»Bedingung dabei ist, daß der Zopf hinter deiner begeisterten Schilderung nicht zurückbleibt und wirklich so lang und schön blond ist, wie angegeben. – Kann ich den Zopf jetzt gleich in Empfang nehmen?«

Der Inder kraute sich verlegen den Kopf und meinte, das ginge leider nicht. Aber in spätestens einer halben Stunde wolle er ihn dem Babu ins Haus bringen. Ob er ihn um die Adresse bitten dürfe?

Das wieder paßte dem Kaufmann nicht. »Wozu der Umstände?« meinte er unwirsch. »Das Einfachste ist, ich komme mit und sehe mir bei dieser Gelegenheit gleich einmal den Ort an, wo sich so Entsetzliches zugetragen. Auf ein Trinkgeld soll es mir nicht ankommen.«

»Das geht mit dem besten Willen und bei allem Entgegenkommen nicht,« wehrte der Inder bestimmt ab. »Übrigens ist Zelle Nummer 7 schon belegt. Erst mit einem Schlangenbeschwörer; der ist aber heute gleich nach der Zitadelle übergeführt worden. Jetzt sitzen gleich sechs Gefangene drin. Denn seit wir John Rocket Sahib als stellvertreten den Polizeipräsidenten haben, geht es bei uns aus und ein wie in einem Taubenschlag. Kaum daß der Gewahrsam die eingelieferten Demonstranten von gestern abend noch zu fassen vermag. Die Polizeirichter haben alle Hände voll zu tun. Leicht genug machen die sich ja die Sache. Wer der Teilnahme am Umzug beschuldigt ist, hat sich damit auch schon selbst das Urteil gesprochen. Immer fünf und fünf an die Mauer. Ach, Babu,« seufzte der Inder und verdrehte heuchlerisch die Augen, »sind das Tage der Arbeit, wenn so ein indischer Fürst uns mit seinem Besuche beehrt.«

Mr. Webster wünschte zu wissen, ob alle Inhaftierten kurzerhand an die Mauer gestellt würden.

»Nein, nicht alle. Manche wurden nach einem kurzen Verhör sogar entlassen.«

»Was sind das für welche? Und warum macht man mit diesen eine Ausnahme?«

Der Schlüsselmeister blinzelte den Fragesteller pfiffig an und brachte nach anfänglichem Schwanken, ob es geraten sei, solche »Staatsgeheimnisse« auszuplaudern, schließlich seinen Mund nahe an dessen Ohr: »John Rocket Sahib, wie die meisten seiner Rasse, ist ein geborener Kaufmann. Ich darf sagen: der besten, das heißt gerissensten einer, die je meinen Weg kreuzten. Hört von dem Blacktown-Putsch, und was tut er? Läßt reiche Inder, die mit dem Umzuge nicht das Geringste zu tun haben, einfach in den Gewahrsam setzen. Hier wird ihnen die Hölle tüchtig eingeheizt, und was tun unsere armen Reichen? Sie beteuern bei allen Göttern Indiens, daß sie es sich zur unverdienten – hört Ihr, Babu? – zur unverdienten Ehre anrechnen, von Seiner Majestät indischer Regierung für würdig befunden zu werden, die »Englische Staatsanleihe der Dominios,« oder wie sonst das Ding heißen mag, zeichnen zu dürfen. Ich weiß nicht, was ich darunter verstehen soll, habe es aber sozusagen im Gefühl, daß sie dabei ein tüchtiges Stück Geld loswerden. Jedenfalls ist damit ihre treue Ergebenheit amtlich beglaubigt und abgestempelt, denn wenn sie vom Verhör zurückkommen, steht ihrer Entlassung nur noch ein Stückchen Eisen im Wege, das ich dann aus Barmherzigkeit zurückschiebe. Daß die Erfreuten mir dabei eine lumpige Annah oder zwei in die Hände drücken, was will das schon groß besagen? Aber so ist nun einmal der Lauf der Dinge: Unsereins bleibt von Geburt aus dazu verdammt, sich ewig mit Kleinigkeiten rumzuplacken.«

Und gleich als verachte er das Kleinliche seiner Bettelei selbst, spuckte Basakuta ingrimmig ein Stück ausgekauten Betels unter den Tisch.

»Das bringt der Krieg so mit sich,« entschuldigte der nachsichtige Babu den Inder vor sich selbst.

»O, bei uns war das schon immer so,« gestand der Schlüsselmeister mit naiver Offenherzigkeit. »Das färbt von oben her ab. Nur braucht die britische Regierung nicht ängstlich nach Entschuldigungen und Bemäntelungen zu suchen wie unsereins. Das bricht auf wie eine reife Eiterbeule, unbekümmert darum, ob's stinkt oder nicht. – O Babu, Babu! was muß so ein Krieg doch für ein schreckliches Ungeheuer sein. Als seinen Kopf denke ich mir England. Seine Faust aber liegt auf Indien –, hart, schwer, drückend. Der Krieg, wenn ich so sagen soll, ist der Vater aller Dinge. Er macht die Regierung zu einer Hochschule des Verbrechertums und aus einem armen Schlucker einen ehrlichen Schelm.«

Nach dieser Selbsterkenntnis drohte der philosophische Inder in einen Abgrund innerer Betrachtung zu versinken. Er kreuzte in fatalistischer Prinzipientreue die Arme über der hageren Brust und schloß die Augen. Zufrieden mit dem bisherigen Resultat seiner Ausforschung, ließ ihn der Detektiv eine Weile gewähren. Dann erkundigte er sich nach der Weise eines Mannes, der gerne Neuigkeiten hört, nach dem Schlangenbeschwörer. Als höflicher Mensch gab er dem Auskunftgeber gleich einen kleinen Dankesvorschuß in Form eines Komplimentes.

»Es ist doch merkwürdig, Basakuta«, hub er an, »mit was für Leuten so ein Kerkermeister nicht alles in Berührung kommt. Was mag dein Schlangenbeschwörer wohl verbrochen haben, daß man ihn auf die Zitadelle brachte? Was hat es damit auf sich?«

Basakuta hob bedächtig Kopf und Augenlider und selbst die buschigen Brauen hoch und ließ sich äußerst wichtig und amtlich also aus:

»Um diesen Mann steht es schlimm. Sehr schlimm, sage ich. Er ist mittelbar der Mörder des Gouverneurs von Bombay.«

»Des Gouverneurs? – Er ist tot! Und gar ermordet?–... Davon habe ich bis jetzt weder etwas gehört, noch in den Zeitungen gelesen.«

»Die Welt wird es noch zeitig genug erfahren, ich brauche die Zeitungen nicht; stecke nie meine Nase in das krause Zeug und weiß doch mehr über den Fall, als alle Zeitungsleser zusammengenommen je darüber erfahren werden.« Es stak ein gut Stück Selbstüberhebung in der Art, wie der einfache Mann aus dem Volke sein Ich mit der Welt in eine Gegenüberstellung brachte. Gleichwohl glaubte der Detektiv diese Äußerung nicht einfach als Großsprecherei abtun zu dürfen. Dem Schlüsselmeister war eine solche Geheimwissenschaft durchaus zuzutrauen. Im übrigen sagte dem berühmten Detektiv seine reiche kriminalistische Erfahrung, daß sonst sehr vorsichtige Verbrecher in einer Aufwallung von Eitelkeit sich häufig zu unbedachten Äußerungen hinreißen lassen, die ihnen dann zum Fallstrick werden.

Der Schlüsselmeister ließ sich gerne herbei, seinen Wissensschatz vor seinem aufmerksamen Zuhörer auszubreiten. Äußerst anschaulich und mit unverkennbarer Freude an seinem schönen Erzählertalent schilderte er die bewußten Vorgänge in Zelle Nummer 7. In Erinnerung an das Geschaute bebte seine für starke Nervenreize offenbar sehr empfängliche Seele wie eine zitternde Gallertmasse. Seine Hände arbeiteten unausgesetzt mit, wie im Bestreben, aus einem unsichtbaren Stoff plastisch etwas herauszuformen.

»Stellt Euch das nur vor, Babu,« rief er zum Schlusse aus. Ein unsichtbarer Dämon aber schien seine gepreßte Stimme auf den Höhepunkt der Erzählung förmlich hinaufzupeitschen. »Die Kobra – entwachsen menschlicher Dressur –; Ihr müßt es nun doch auch sehen können, Baku, wie sie jetzt in graziösem Muskelspiel die lange zurückgedämmten Kräfte hemmungslos schießen läßt! Ihr merkt es kaum daß sie Kraft aufsetzt, und doch – Da! – ein leises Krachen, und noch eins–... und dem mächtigen Gouverneur, dem Herrscher über Millionen von Menschen, bricht es die Wirbelsäule mitten entzwei, als war es ein dürrer Stecken. Und stürzt haltlos plump wie ein Sack – er, der Lord – zu Boden und ist nicht mehr–... O Babu, Babu –, welch ein gewaltiges Schauspiel. Glücklich zu preisen, wer es mit eigenen Augen gesehen wie ich.«

Minuten noch, nachdem er längst geendet, saß der Inder da mit brennenden Augen, widerspiegelnd das höllische Feuer seiner in Schauern erdampfenden Seele.

Die Beweggründe, die den Gouverneur nach dem Gewahrsam geführt hatten, erriet der Detektiv, dem ja die alten Beziehungen zwischen diesem und Mrs. Besant bekannt waren, mit annähernder Richtigkeit. Daß der Schlangenbeschwörer, von dem der Schlüsselmeister berichtete, und Bhaskara, der Morlenbundpräsident, identisch seien, nahm Mr. Webster als Tatsache hin. Zur größeren Sicherheit lohnte sich indes immerhin die kleine Mühe, den Schlüsselmeister unauffällig darüber auszuholen, worauf der Inder bestimmten Tones versicherte, des Menschen Namen nicht zu kennen.

»Das verstehe ein anderer,« zweifelte der Kaufmann. »Als Schlüsselmeister mußt du doch ein ordentliches Namensverzeichnis all deiner Gefangenen führen, oder nicht?«

»Von Ordnungs wegen müßte vieles anders sein, als es ist,« versetzte der Inder mit unverkennbarem Hohn und Spott in der Stimme. Und nach einer kleinen Pause mit einer wegwerfenden Geste: »Was will übrigens ein Name groß besagen? – Manchmal vielleicht sehr viel, im vorliegenden Falle aber gar nichts.«

Und er versank erneut in ein Meer philosophischer Daseinsbetrachtungen. Als er zu einem greifbaren Resultat gekommen war, faßte er seine ganze Weisheit in die schlichten Worte: »Der Name ist dem Menschen gegeben zur Unterscheidung von seinesgleichen. Ich kenne den deinen nicht einmal, noch auch verlangt es mich, ihn zu erfahren. Denn wie sollte ich ergründen, ob Ihr wirklich der Träger des Namens seid, den Ihr mir nanntet? Solange lebendiger Atem in eines Menschen Brust wohnt, mag er sich immerhin hinstellen und sagen: Ich bin Basakuta, oder: Ich heiße Mary Besant, oder: Mich nennt man Durlana Dschidschibhai –«

Da unterbrach sich der Inder mit einem Male, als habe er eine große Dummheit begangen. Im selben Augenblick fühlte er einen schmerzhaften Druck am linken Handgelenk. In seitwärts vorgebeugter Haltung sah er – und er empfand die beengende Nähe zugleich mit seinem ganzen Sein – aus einem kräftig geschnittenen Profil zwei funkelnde Augäpfel auf sich gerichtet und hörte gleichzeitig, wie eine gebieterische Stimme ihm befahl:

»Jetzt – gleichauf der Stelle wirst du mir sagen: Wer starb in Zelle Nummer 7 den Eigentod – Besant oder Dschidschibhai? Schnell gib Antwort!«

Und es trat ein, was Mr. Harry Webster erwartet hatte. Der Inder, ganz unter dem Willenszwange des überlegeneren Geistesmenschen stehend, antwortete fast mit genau denselben Worten der Frage ganz mechanisch, automatenhaft, wie ein Schüler, der ohne eigene Kopfanstrengung einen vorgesprochenen Satz nachkaut:

»Dem Namen nach starb Besant, in Wirklichkeit Dschidschibhai.«

Dieses wichtige Geständnis genügte Mr. Webster fürs erste. Seinem scharfen Blick entging es keineswegs, wie der überrumpelte Inder sich langsam wieder erholte. Er war jetzt gewarnt und sicherlich für die nächsten Minuten sorgfältig auf der Hut. Eine einstweilige Ablenkung konnte daher nichts schaden. Um so besser würde der zweite Überfall gelingen.

»Du bist ja ordentlich in Schweiß geraten, Basakuta,« scherzte der Detektiv die Ängstlichkeit und das Mißtrauen des Gegners hinweg. »Trinke Freund; das kann nie schaden. Du bist gerade kein starker Trinker, dafür aber ein Mann, der entschieden viel weiß. Deshalb wirst du mir sicherlich auch sagen können, warum man deinen Schlangenbeschwörer auf die Zitadelle gebracht hat. Ich meine: warum gerade auf die Zitadelle?«

»Warum? Und immer wieder dieses widerliche Warum?« gab der Inder mit einem Anflug von Hohn zurück, wobei er gleichzeitig den Detektiv mit einem aus Mißtrauen und Feindseligkeit gemischten Blicke maß. »Frage die Gottheit, warum der Zug der Wolken heute von Nord nach Süd, morgen von Ost nach West geht? Frage du als staubschluckender Erdenwurm, aber erwarte keine Antwort von den Göttern, den wolkenthronenden. – Befraget Euch über das Geheimnis der Zitadelle doch einmal beim Kommandanten von Bombay persönlich und sehet zu, was Ihr für eine Antwort bekommt. Jede Frage, die über des Leibes Notdurft hinausgeht, ist in der heutigen Zeit vom Übel. Ich weiß nur soviel, daß über ganz Indien der Belagerungszustand verhängt ist, und daß man im Wallgraben der Zitadelle die Staatsverbrecher an die Mauer stellt. Das ist alles. Ich denke aber, es genügt.«

Mit diesen Worten traf der Inder Anstalten zu gehen.

»Wohin so eilig, guter Freund?« fragte Mr. Webster.

»Den Zopf holen. Ich habe noch andere wichtige Dinge vor in dieser Nacht. Erwartet mich hier, in zehn Minuten bin ich zurück.«

»Nicht doch, ich komme gleich mit.«

»Nein!« versetzte der Inder gereizt.

»Warum?«

Dieses leidige »Warum« brachte den Inder einem Anfall von Raserei nahe. Seine Augen blitzten tückisch. Die helle Wut stach daraus hervor, und um seine spitzen Mundwinkel ringelten sich zerrhafte Falten eines verbissenen Hohnes. Seine Lippen wollten scheinbar etwas sagen, bewegten sich aber nur lautlos auf und nieder. Im nächsten Augenblick leuchtete etwas Grelles, Flatterndes in dem rötlichen, von Rauchwölkchen bläulich durchäderten Dunstkreis des Lampions über dem Tische auf.

»Da, nimm hin!« schnaubte der Inder. So lange hatte er sich mehr über seine blöde Verlogenheit, denn über den Starrsinn des anderen geärgert. Alle Handelsleute schwindeln, redete er sich selbst Haltung ein. Und er konnte jetzt in der Tat wieder die höfliche Miene eines aalglatten Geschäftsmannes zeigen. Er lächelte süßlich, ohne so den Zynismus seiner Worte verwischen zu können. Er sagte:

»Macht die Kleinigkeit von sechs Goldrupien. Dafür könnte man sich manch schönes Weib kaufen – ist wahr. Aber am frühen Morgen läßt sie dich im Ekel über dich selbst zurück. Dieses Haar aber wird dein Auge ergötzen bis ans Ende deiner Tage, von dem ich wünsche, es möge in fernsten Siriusfernen liegen.«

Und er deutete mit einer großartigen Gebärde auf den Tisch, worauf der blondgefärbte Roßschweif lag–...

… der unheimlich leuchtete wie ein flammender Brandstreifen.


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