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Siebentes Kapitel

Ein Jahr nach diesen Pariser Triumphen erfüllte sich Cosimas Wunsch, daß ihr Bruder Daniel bei ihr Aufenthalt nahm. Er war nun erwachsen, hatte aber sein knabenhaftes Aussehen bewahrt, so daß niemand Ihn für einen Studenten hielt. Fieberanfälle, die er sich nicht zu deuten wußte, hatten in Wien an ihm gezehrt, seine Haut war noch durchsichtiger als zuvor, seine Augen lagen noch tiefer und glänzten matt wie dunkelblauer Samt.

Er kam zusammen mit Hans, noch ganz versonnen in Wagners Faust-Ouvertüre, die er Bülow in Prag hatte dirigieren sehen. Jetzt störte ihn nichts mehr an dem Berliner Schwager, dem er so wunderbare musikalische Eindrücke verdankte; er verstand aus sich selbst, daß Schärfe des Witzes und Ironie oft nur zur Abwehr unerwünschter Eingriffe in ein empfindliches Seelenleben dienen. Sein jugendlicher Drang, sich anzuschließen und zu verehren, hatte den letzten Rest brüderlicher Nebenbuhlerschaft erstickt, stolz durfte er sich Hans von Bülows Freund und Gefolgsmann nennen.

Die Welt menschlichen Wirkens hatte sich vor ihm aufgetan, die Welt der Antike in seinem Studium, die der Gegenwart in dem Kampfgetöse widerstreitender Interessen. Diese aber erschreckte und verwirrte ihn. Eben noch war Kriegstaumel und Wut über blutige Niederlagen um ihn gewesen; verwundete Soldaten aus den verlorenen Schlachten von Magenta und Solferino irrten durch die Straßen Wiens. Der Usurpator Napoleon hatte, mit Italien verbündet, den Kaiser Franz Joseph geschlagen. Daniel wußte nicht, sollte er sich dessen als Franzose freuen oder die Österreicher, unter deren gastfreundlichem Schutz er sich so wohl gefühlt, bedauern. Greulich dieser ewige Unfriede zwischen den Bewohnern der Erde aus Habsucht, Ehrgeiz, Ländergier, aus Brotneid, Eifersucht und Geltungstrieb, aus niederen Trieben aller Art, den Liebestrieb nicht ausgenommen, der die davon Befallenen so oft zerrüttete, ja in Verbrechen hetzte! Von der Leidenschaft des Blutes war er selbst bisher verschont geblieben, er kannte sie nur aus Büchern und vom Hörensagen. Nein, er ersehnte sie gewiß nicht, ihm graute vor der Stunde, wo er davon befallen würde, wie es nach dem Willen der Natur wohl unvermeidlich war.

Nun wollte Hans ihn mit sich nehmen »unter lustige junge Leute«, weil ihm das guttun würde, und Cosima ihm zu Beginn des Winters Einladungen verschaffen zu Thés dansants und »Lämmerhüpfen« in einige der besten Häuser. Er hatte tanzen gelernt, doch nie Vergnügen daran gefunden. Wozu? fragte er sich. Für Galanterien fühlte er sich nicht geschaffen. Gern unterhielt er sich mit Menschen aller Art, aber nur über schöne, hohe Dinge, über Kunst und die geheimnisvollen Fragen des menschlichen Daseins. Junge Mädchen mochten davon nichts wissen, sie kokettierten oder kälberten lieber, seine Gespräche – das hatte er schon in Paris bemerkt – langweilten sie. Musik hören, Bilder und Statuen betrachten, auf stillen Wegen durch die besonnte, besser noch durch die nächtliche Landschaft wandeln, sinnen und träumen – das allein lockte ihn. Sein Vater warnte ihn davor, gerade weil er ihn zu gut darin verstand. »Nur Genies und faule Genießer dürfen sich in dergleichen verlieren. Da ich keines von beiden in dir sehen mag, mußt du dich mit strenger, geregelter Arbeit vorbereiten auf einen bürgerlichen Beruf.« Schon recht, er sah das ein und war folgsam bereit, Jura und Staatswissenschaften zu studieren: die waren jeder Romantik abhold und erzogen zu unerbittlich praktischem Denken.

Wie gütig war Vater zu ihm gewesen! Er hatte ihn auf der Durchreise nach Wien einige Tage auf der Altenburg bei sich behalten und sich eingehend, liebevoll mit ihm beschäftigt, beim Abschied ihm nicht verhehlt, daß er stolz auf ihn wäre – natürlich noch lange nicht so stolz wie auf Cosima, doch das würde noch kommen; ein junger Mann habe es ja viel leichter als eine Frau, sich auszuzeichnen und zu einer Persönlichkeit heranzubilden.

Noch waren Ferien. Die Vorlesungen, mit deren Besuch Daniel in diesem Semester Ernst machen wollte, begannen erst in einigen Monaten; er brauchte sich zum Glück noch nicht um sie zu kümmern. Die Universität gefiel ihm am besten von außen als architektonisches Gebilde. Auf vielerlei hatte er sich gefreut, was Berlin ihm bieten würde, seltsamerweise konnte er sich jetzt nicht mehr darauf besinnen. Ging er vormittags aus, so war er unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, er hatte keinen Plan, nicht einmal rechte Lust, Sehenswürdigkeiten in Angriff zu nehmen. Langsam, zögernd überschritt er den Potsdamer Platz, schlenderte die Leipziger Straße entlang, und wenn er in die Friedrichstraße einbog, so war er schon müde. Ohne etwas unternommen oder besichtigt zu haben, schlich er heim. Fand er Cosima nicht vor, so zog er sich enttäuscht in sein Zimmer zurück und blätterte gedankenlos im ersten besten Buch. Sonst hörte er ihr zu, wenn sie am Klavier übte, war zufrieden, ihr nahe zu sein, ob sie sich nun mit dem Haushalt beschäftigte oder Briefe schrieb.

»Brüderchen, was trödelst du denn hier herum?« schalt sie ihn freundlich. »Weißt du deine Ferien nicht besser zu nutzen?«

»Ich möchte schon, Cosette«, erwiderte er beschämt, »aber es will damit nicht vorwärtsgehen. Mir ist, als hätte ich nicht die Kraft dazu. Dulde mich, bitte, um dich, wenn es dich nicht stört!«

»Du dummer, großer Junge, was hast du von meinem Anblick?«

»Die ganze Fülle des Lebens leuchtet mir aus dir entgegen, das Leben, wie es sein soll und Wunder wirkt – mir unerreichbar!«

»Wenn Papa das hörte, er würde dir schön die Leviten lesen.«

»Und hätte leider recht damit. Ich bin ein unnützer Bursche, voll ernsthafter Vorsätze, aber in aussichtslosem Ringkampf mit jeder Wirklichkeit.«

Abends schienen seine Lebensgeister zu erwachen. Da ging er unruhig von einem Zimmer zum andern, begann Verse seiner Lieblingsdichter zu deklamieren, sprach viel von der Mutter, erzählte schwermütig oder mit überreizter Munterkeit von seinen Schulkameraden. Seine Wangen waren gerötet, seine Augen flackerten, und Cosima bemerkte bald, daß er Fieber hatte.

Sie drang darauf, daß ein Arzt gerufen wurde. Widerwillig ließ Daniel sich untersuchen.

Ihr Bruder sei in der Tat nicht wohl, sagte der Arzt. Er solle sich viel Ruhe gönnen, vor allem abends sich zeitig niederlegen. Man möge ihm kräftigende Speisen geben, Arznei zu verschreiben hätte wenig Zweck. Dann sprach er mit Hans unter vier Augen.

»Nun, seht ihr wohl«, sagte Daniel auf einmal sehr befriedigt, »ich bin krank, der Fachmann hat meine Kraftlosigkeit anerkannt. Jetzt darf ich mich mit gutem Gewissen aus dem öffentlichen Treiben zurückziehen.« Wie eine Entspannung kam es über ihn, seinen Ringkampf mit den Wirklichkeiten, den rohen Mächten, gab er auf, wurde still und wortkarg. Des Morgens erhob er sich immer später, ging immer früher zu Bett, verließ auch bald das Haus nicht mehr.

Liszt kam wiederholt von Weimar herüber. Ratlos saß er am Lager seines Sohnes, wie versteinert und bedrückt vor allem dadurch, daß dieser seinen Zustand mit heiterer Miene für wohltuend und angemessen erklärte. Großmutter schrieb einen Brief nach dem anderen und riet herum, was das wohl für eine Krankheit sein könnte. »Sie hat keinen Namen«, gab Cosima zur Antwort, »die Arzte kennen sie nicht und glauben, daß diese eigenartige Schwäche einer eigenartigen Natur entspräche.«

Ein Leiden war es nicht zu nennen, denn Daniel litt keineswegs. Frei von Schmerzen, ohne jedes Unbehagen, spürte er nur, wie seine Lebenskraft stetig dahinschwand, und war weit entfernt, ihr nachzutrauern. Lag er allein, so langweilte er sich nicht einmal. Lesen und Schreiben, wozu Hans ihn zuweilen überreden wollte, strengten ihn zu sehr an. Doch ließ er sich gern von ihm, am liebsten aber von Cosima, unterhalten.

»Du hast die letzten starken Säfte, das edle, schöpferische Blut der Familien Liszt und Flavigny an dich gerafft«, sagte er ihr in neidloser Bewunderung, »was soll ich da noch anfangen mit dem kümmerlichen Rest? Du wirst leben und lieben, leiden und glücklich sein an meiner Statt. Du sollst erstrahlen als zwiefache Leuchte. Nimm meine zwanzig Jahre für dich und laß sie gedeihen zu einem hohen, gesegneten Alter!«

Der Gedanke an die bevorstehende Trennung zerriß Cosima das Herz vor Kummer und Abschiedsweh. Den Lebensmut des Bruders anzufachen, erschien ihr aussichtslos. Sie mußte sich darauf beschränken, ihn mit aller Liebe und Fürsorge zu umgeben, fernzuhalten, was sein friedliches Erlöschen stören konnte. Als Spätherbststürme um das Haus pfiffen und der erste körnige Schnee an die Scheiben prasselte, wollte sie die Fensterläden schließen, Daniel aber sagte: »Laß es doch! Das ist Musik, die aus dem Weltall kommt. Nur gegen den Lärm, den die Menschen machen, sollte man sich absperren.«

Gern und oftmals wie verzückt sprach er vom Tode als von einem festlichen Besuch, den er sehnsüchtig willkommen hieß. Cosima sträubte sich anfangs, darauf einzugehen. Das Grauen vor der gespenstischen Erscheinung überwand sie erst dadurch, daß Daniel ihn ganz menschlich sah und seine Schönheit pries.

»Sei nicht kindisch, Cosette! Er ist doch kein Gerippe, sondern der Knabe mit der gesenkten Fackel. Erinnerst du dich an das Marmorrelief unter Lorbeerbüschen auf dem Père Lachaise, das uns Mama eines Sommerabends zeigte? Schon damals hat mich der sanfte Ausdruck seines träumerisch geneigten Hauptes, die gelöste Haltung seiner schlanken Glieder bezaubert. Nichts Gewaltsames, nichts Drohendes ist an ihm. Geduldig wartend hält er sich immer in unserer Nähe, folgt uns vom ersten Lebenstage an auf leisen Sohlen. Ich kenne ihn längst als meinen liebsten Freund und habe mich oft verlangend nach ihm umgeschaut. Liege ich allein in der Dunkelheit, so erblicke ich ihn deutlich vor mir, von Nacht zu Nacht näher und beruhigender. Die schmalen Hände über dem Stiel der Fackel gefaltet, steht er sinnend mir zugewandt.«

»Oh, Daniel«, klagte Cosima, »wenn dem so wäre, so würde ich dich ja verlieren! Wo wirst du dann sein?«

»Dort, wohin er mich führt – vielleicht in einem Elysium, vielleicht im ruhevollen Nichts. Keinem Menschen könnte ich so rückhaltlos vertrauen wie ihm. Er ist ja der Halbgott Eros Thanatos, der ewig Liebende, der zärtlich glühende Verbrenner unsrer Leiblichkeit.« –

Gegen Weihnachten, als es sichtlich zu Ende ging, rief Cosima den Vater herbei. Liszt trat, während draußen unter einem klaren Frosthimmel die Menschen, Geschenkpakete unter dem Arm, geschäftig durch die Straßen eilten, in Daniels verdunkeltes Zimmer. Sehr abgemagert fand er ihn auf dem Rücken liegend, wachsbleich und kaum mehr fähig, sich zu bewegen, doch bei klarer Besinnung und freudig überrascht, den Vater noch einmal wiederzusehen. Auf dessen Frage, ob er ihm irgendeinen Wunsch erfüllen könne, bat Daniel, als hätte er gerade darauf schon lange gewartet:

»Ach ja, laß mich doch deinen ›Orpheus‹ hören!« Liszt, dem unter den gegenwärtigen Umständen ein religiöses Thema passender erschien, war etwas erstaunt, widersprach aber nicht. Er ging hinüber an den Flügel, die Türen blieben geöffnet. Er spielte mit seiner großen, unerreichbaren Kunst, und Daniel, die Hand der Schwester haltend, lauschte mit geschlossenen Augen über einem beglückten Lächeln. Dann, als der Vater wieder vor ihm stand, sagte er: »Das Schicksal des Orpheus hätte leicht auch das meine werden können ... Sohn des Apoll, des Göttlichen, und seiner Muse, wäre ich bestimmt gewesen, mit der Macht des Saitenspiels die wilden Tiere zu zähmen, selbst Steine und Bäume zu bewegen. Rechtzeitig blieb ich davor bewahrt, von wütenden Mänaden zerrissen zu werden.« Liszt verstand nur halb und flüsterte Cosima zu: »Er phantasiert.« Sie erwiderte: »Bei vollem Bewußtsein! So eben stellte er sich sein künftiges Leben unter den Menschen vor.«

Liszt, um des Sohnes kirchliche Pflichten besorgt, legte Cosima nahe, einen Priester mit den Sterbesakramenten zu rufen. Doch Daniel, der diese Absicht merkte, bat, das zu unterlassen: bis vor kurzem wäre er noch ein gläubiger Christ gewesen, jetzt aber bete er zu den Göttern Griechenlands und sei heimisch im Kreise des Alkibiades. Auch Rufe von Michelangelo und Lionardo wären zu ihm gedrungen, die ihn stolz und zuversichtlich machten. Einem Kaplan möchte er solche Gesellschaft ersparen. Liszt zog sich erschrocken zurück, indem er sich bekreuzigte. Cosima bestand darauf, daß der Wille des Sterbenden geachtet würde.

Als mitten in der Nacht Liszt, von einer ahnungsvollen Unruhe getrieben, nach Daniel sehen wollte, fand er ihn in ruhigem Schlummer vor. Cosima kniete am Bett, erhob sich sofort und legte den Finger auf die Lippen.

So standen sie eine Weile, beide in dem Gefühl, daß mit dem Schlafenden eins bedeutungsvolle Veränderung vor sich ging.

Plötzlich streckte Daniel die Arme aus und rief in einem Ton der Verzückung, den sie noch nie von ihm vernommen: »Komm! Ach komm!« warf die Arme über der Brust zusammen und schmiegte die Wange selig lächelnd in die Kissen ...

Wieder vergingen Minuten. Der Vater sagte leise: »Man hört seinen Atem nicht mehr.« Cosima legte sacht die Hand auf das Herz des Bruders – es hatte aufgehört zu schlagen.

Der Knabe mit der gesenkten Fackel hatte des Freundes Seele entführt. Das Licht der Kerzen, die Cosima zu Häupten des Toten entzündete, fiel auf ein verklärtes Antlitz von überirdischer Schönheit.


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