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Viertes Kapitel

Alles war anders in Berlin, als Cosima es sich vorgestellt hatte, zunächst so befremdend und verwirrend, daß sie nicht wußte, wo ihr der Kopf stand, und sie zu keinem abschließenden Urteil kam. Die junge Pariserin fühlte sich wie in eine weitausgedehnte und doch winklige Kleinstadt versetzt, aber in ein Krähwinkel von höchster Betriebsamkeit, die scharfe Kritik an anderen wie an sich selber übt. Auch die Lebensverhältnisse waren viel engere als in Paris, die Sitten strenger und bescheidener, der Zuschnitt der Geselligkeit anspruchsloser. Die einzelnen Kreise schlossen sich vorsichtig gegeneinander ab, drängten sich dafür aber untereinander um so traulicher zusammen, waren dabei nicht unempfänglich gegen Klatsch.

Man durfte ungeladen an eine gastliche Tür klopfen, ohne die Hausfrau in Verlegenheit zu bringen. Wenn eines Abends die unvorhergesehenen Gäste zu zahlreich wurden, so daß das Wohnzimmer wie ein gefüllter Bienenkorb schwärmte, reichte doch der häusliche Herd mit Tee, Butterbrot und kalter Küche immer noch aus; denn niemand kam um eines Mahles willen oder um nützliche Verbindungen anzuknüpfen, sondern um unter gemütlichen, meist bekannten Menschen ein paar Stunden lang es sich plaudernd und scherzend wohlsein zu lassen. Dabei zeigte sich auch Frau von Bülow von ihrer angenehmsten Seite, wohlwollend und rücksichtsvoll auf die Unterhaltung ihrer Gäste bedacht.

Die wenigen Salons, in denen sie die Lisztschen Töchter vorstellte, waren vom besten alten Stil: preußischer Beamten- und Soldatenadel, bedachtsam durchsetzt mit einigen künstlerischen Elementen, die sich sehen lassen konnten. Geistreich ging es darin nicht gerade zu, aber immerhin witzig genug, um keine Langeweile aufkommen zu lassen. Hans von Bülow schätzte sie wenig, er fand, daß sie jeden idealen Schwung dämpften und geneigt wären, das ungewohnt Schöne lächerlich zu machen.

In den meisten Häusern dieser Art gehörte es zum guten Ton, zu musizieren. Schumanns und Mendelssohns Lieder waren am beliebtesten, Liszts Stücke wurden zwar anerkannt und viel gespielt, doch häufig umstritten; man vermißte in ihnen die einschmeichelnde Melodie, fand sie zu schwierig und »übermodern«. Den Spielplan des Königlichen Opernhauses beherrschten mit bunter Prachtentfaltung die Werke von Meyerbeer, Auber, Boieldieu und Donizetti. Hans von Bülow konnte sie so wenig ertragen, daß er sich weigerte, die Damen in diese Aufführungen zu begleiten, und sie empfanden auch kein dringendes Bedürfnis, sie sich anzuhören.

Am meisten war Cosima über Bülows verändertes Wesen erstaunt. Der muntere, übermütige Spielkamerad aus Weimar machte hier einen ganz anderen Eindruck, stellte etwas Gewichtigeres vor. Es zeigte sich, daß er als Pianist und Kapellmeister schon ziemliches Ansehen genoß und seine scharfe Zunge unter den Kollegen gefürchtet war. Bitter ernst nahm er es mit der Kunst, lehnte alle Zugeständnisse an den Geschmack der Masse ab und sah seine Lebensaufgabe in der Werbung für die Idee der neuen Musik, also für Liszt und Wagner.

Mit dem Klavierunterricht an Cosima begann er unverzüglich, auch sie konnte es kaum erwarten, seine Methode kennenzulernen, und übte mit Feuereifer. Das war allerdings ein anderer Lehrer als die Pariser Macher. Sofort spürte sie den Geist und die Schule von Franz Liszt. Daß ihr wenigstens auf diese Weise ihr Vater immer gegenwärtig war, erhöhte noch den Reiz des Studiums. Aus Bülows genauen, unerbittlichen Anweisungen, aus seiner Technik und Auffassung sprach der Meister selbst, nur mit hellerer, jugendlicherer Stimme. Nicht die geringste Nachlässigkeit ließ er ihr durch; denn der Krebsschaden des gegenwärtigen Musikbetriebs schien ihm der Schlendrian, das »Gehudel« zu sein, wobei er sich am meisten über die italienischen und französischen Opernkomponisten entrüstete, die den Primadonnen und Bravourtenören alle Freiheiten gestatteten, so daß diese die Fesseln richtiger Deklamation und dramatischen Ausdrucks schließlich nicht mehr ertragen wollten.

Er gehörte dem Lehrkörper von Sterns Konservatorium an und stand mit den Kollegen, die er faul, flau und gleichgültig fand, auf unerfreulichem Kriegsfuß: keiner von ihnen erhob sich über den Durchschnitt, der überall den Ton angibt. Den Direktor selbst verstimmte er dadurch, daß er ihm seine altmodischen Konzertprogramme zum Vorwurf machte. Den Einwand, daß die Mehrheit des Publikums nun einmal auf das Alte eingeschworen war, wollte Bülow nicht gelten lassen: denn gerade gegen die Mehrheit galt es auf allen Gebieten Sturm zu laufen.

Er scheute sich nicht, den Kollegen, dem Direktor Stern und selbst dem Publikum vom Podium aus unangenehme Wahrheiten ins Gesicht zu sagen. Das Wappen derer von Bülow trug den Spruch: »Alle Bülow'n ehrlich.« Daran hielt er sich mit rücksichtsloser Aufrichtigkeit. Natürlich führte das zu manch aufregendem Zwist und öffentlichen Angriffen in der Presse. Seine musterhafte Mutter war entsetzt darüber. Sie grämte sich, daß Hans die juristische Laufbahn aufgegeben und die »unglückselige« eines Pianisten eingeschlagen hatte, die ihn überdies noch dazu verführte, mit unterirdischen Jünglingen, deren ungepflegtes Äußere und langes Mähnenhaar sie allein schon abstießen, in Künstlerkneipen herumzuzigeunern.

Ende Oktober fand sein erstes Konzert in diesem Winter statt, mit Stücken von Schubert, Chopin und Liszt. Cosima, die zu ihrem Leidwesen ihren Vater niemals hatte öffentlich vortragen hören, war aufs äußerste gespannt, nun wenigstens in seinem besten Schüler Ersatz dafür zu finden. Doch sagte man ihr, daß beider Spiel durchaus verschieden wäre, so verschieden wie ihre Charaktere. Auf die ungarisch weiche, bestrickende Liebenswürdigkeit Liszts konnte Bülow von vornherein keinen Anspruch erheben. Als ein ausgesprochen norddeutscher Mensch und Musiker erschien er sofort bei seinem Auftreten, das auch den Aristokraten erkennen ließ.

Die beiden Schwestern saßen, Frau von Bülow zwischen sich, in der vordersten Reihe. Mit ruhigem, vornehmem Anstand betrat Hans das Podium, streifte die Zuhörer mit gleichgültigem, etwas hochmütigem Blick und zog es doch widerstandslos in seinen Bann. Kühl verbeugte er sich, seine schlanke, leicht vorgebeugte Gestalt nahm langsam vor dem Flügel Platz, nachlässig legte er erst die eine, dann die andere Hand auf die Tasten, und dann begann er mit gewaltigem Anschlag.

Er spielte vollendet. Unirdisch schwebten die Töne im Raum. Der leiseste, sterbende Hauch im Chopinschen Nocturno war bis in die entferntesten Winkel des überfüllten Saals vernehmbar, und alles gab seine so reizbare, ungebändigte Natur mit der gleichen, unerschütterlichen Ruhe und souveränen Herrschaft des Gedankens wieder. Die Hörer verharrten in atemloser Stille, brachen dann in jubelnden Beifall aus.

»Es ist wahrhaftig sein Beruf!« sagte die Mutter tiefbewegt zu Cosima.

Cosima schwieg, wie immer, wenn ein aufwühlender, zu Herzen gehender Eindruck sie überwältigte.

*

In Gesellschaft ging Hans sehr ungern. Wenn er dabei nicht gerade Gelegenheit hatte, am Flügel für Liszt und Wagner einzutreten und zuvor mit ein paar begeisterten Sätzen auf deren noch immer nicht genug erkannte Bedeutung hinzuweisen, sagte er lieber ab.

Die Schwestern jedoch schlossen sich gern vertrauensvoll Frau von Bülows Führung an, zunächst aus allgemeiner mädchenhafter Neugier, weil dort ja die Partien herumliefen, denen sie sich zur Schau stellen sollten. Sie lachten darüber; aber da Vater es nun einmal so wollte ...! Daß sich unter den Offizieren, Beamten und Landjunkern etwas für sie finden würde, glaubten sie selber nicht. Die erstarben vor ihnen in Bewunderung, bemühten sich galant zu sein, trafen aber nicht den rechten Ton der Unterhaltung mit den gerade darin anspruchsvollen jungen Damen.

Wenn Cosima Hans von Bülows Begleitung zu solch einer Soiree oder einem Tanzkränzchen ernstlich verlangte, gab er nach; nur mußte sie ihm versprechen, ihn den ganzen Abend über an ihrer Seite zu dulden, sonst wäre es für ihn unerträglich. Sie schlug es ihm niemals ab. Blandine fand das selbstverständlich.

Obwohl sie die ältere Schwester war, ordnete sie sich Cosima in allen Fragen des praktischen Lebens willig unter. Diese bestimmte auch, oft gegen den Wunsch der Frau von Bülow, was man zu unternehmen, welche Einladungen man anzunehmen oder abzulehnen, überhaupt welchen Verkehr man zu pflegen habe. Ihr gefiel es ganz gut in Berlin, und dies allein schon gewann ihr die Zuneigung und Nachsicht der würdigen Dame. Blandine jedoch konnte sich gar nicht eingewöhnen.

»Du bist eine winterharte Staude, Cosette«, scherzte Blandine – noch immer auf französisch, während die Schwester stets in deutscher Sprache antwortete – »du erträgst dieses gräßliche Klima augenscheinlich aufs beste, würdest wohl auch sonst überall Wurzel schlagen. Ich aber fröstele hier beständig trotz der riesigen Öfen, und immer fühle ich mich müde.«

»Armes Blümchen, was fangen wir da mit dir an?« bedachte sich Cosima voll Mitleid. »Wirklich siehst du noch angegriffener aus als sonst. Vielleicht solltest du weniger ausgehen, lieber auf der Couchette ruhen und den Frühling abwarten.«

Besonders das Tanzen bekam Blandine jedesmal schlecht; sie wurde kurzatmig davon und konnte die Nacht danach nicht schlafen. Tagsüber saß sie meist still am Fenster, blickte auf die stattlich steife Wilhelmstraße hinab, wo viel straffes Militär hindurchmarschierte und die Karossen der Minister und Hofbeamten vorüberrollten. Dabei zog sie wehmütige Vergleiche mit dem munteren Straßenleben in Paris und konnte sich eines bitteren Heimwehs nicht erwehren. Am meisten vermißte sie den ihr äußerlich wie innerlich sehr ähnlichen Bruder Daniel. Die drei Geschwister hatten sich immer aufs engste verbunden gefühlt, hier nun schien er für Cosima in den Hintergrund zu treten. Sein Zartgefühl, sein gedämpfter Frohsinn hätten auf Blandine in der fremden Stadt beruhigend und zugleich belebend gewirkt. Ob er sich aber mit Hans vertragen würde? Dessen stürmisches Künstlertemperament mochte ihn am Ende einschüchtern; Cosima hingegen war es nicht zu verdenken, daß sie sich davon fesseln ließ.

Manchmal dachte sie an Bronsart und wünschte auch ihn herbei. Er hatte ihr gut gefallen in seiner zuvorkommenden Artigkeit und Delikatesse. Aber am schönsten wäre es doch, wieder bei Großmutter Liszt zu leben und Mama recht oft im Rosenhause zu besuchen. Diese beiden konnte Frau von Bülow doch nicht ersetzen, obgleich sie viel von einer mütterlichen Freundin hatte und sie mit vollendeter Sorglichkeit betreute. Sie hatte gebeten, von ihnen »Tante Franziska« angeredet zu werden – gewiß ein freundlicher Zug, für den sie sich durch doppeltes Vertrauen dankbar zu erweisen hatten!

Es gab zwei Salons, in denen Cosima und selbst Blandine sich wie zu Hause fühlten, den der in die Goethelegende verwobenen Bettina von Arnim und den der Frau Hedwig von Olfers. Jener stand im Zeichen der großen klassischen und romantischen Dichtung, dieser pflegte hauptsächlich die bildenden Künste. Bettina, Witwe des Dichters Achim von Arnim und Schwester des Dichters Clemens Brentano, eine kleine, untersetzte alte Dame von quecksilbriger Lebendigkeit und erheiterndem Mienenspiel, hatte Cosima sofort ins Herz geschlossen. Mitten unter ihren Gästen nahm sie die ihr geistesverwandte Liszt-Tochter gern bei der Hand, spazierte mit ihr von einer Ecke des Zimmers zur anderen und redete, bald übermütig neckend, bald romantisch schwärmend, im Tone der guten alten Zeit auf sie ein.

Einmal sagte sie zu ihr: »Sie sind, wie ich, nicht zur Amoureuse, sondern zur Kameradin erlesener Männer geschaffen; das sah ich auf den ersten Blick Ihnen an. Ich wünschte Gisela« – das war ihre mit dem Kunsthistoriker Hermann Grimm verheiratete Tochter – »Ihre Kraft zur Einfühlung, zur Begeisterung und zum selbstlosen Dienst am Altar des Schönen. Das verbürgt ein langes Leben voll Schwung und Harmonie. – Nehmen Sie sich nur des jungen Bülow an! Der braucht Sie, wenn er sich auch noch vor Ihnen fürchtet.«

»Wieso fürchtet er mich denn?« fragte Cosima erstaunt. »Er ist doch so mutig und angriffslustig wie keiner, und mein gestrenger Lehrer!«

»Ei was! Seine Kämpfe setzen ihm gehörig zu und überreizen sein Nervensystem. Beständig um sich schlagend, wandelt er seine Bahn durch einen bösartigen Mückenschwarm. Merken Sie denn nicht, wie Ihre Lebensklugheit und umfassende Bildung ihm bedrückend imponieren? Darin, wenn auch nicht als Musiker, fühlt und scheut er Ihre Überlegenheit.«

»Das ist mir wirklich neu und sollte mir leid tun. Ich kann es aber nicht glauben.«

»Weil Sie sich der feinen Nadeln Ihres Witzes gar nicht bewußt sind. Werden Sie nur aus dem Mädchen erst zu einer Frau! Lehren Sie mich die Hilflosigkeit der jungen Genies kennen! Je mehr sie den Teufel im Leibe haben, desto mehr empfinden sie, was ihnen an engelhaftem Balsam fehlt.« –

Bei Frau von Olfers, die ähnlich wie Bettina einen Ausgleich zwischen der romantischen und der neuen Zeit darstellte, war der Stil der Unterhaltung etwas ernster und gemessener: denn bei ihr meldeten sich manchmal auch höchste Herrschaften zu Gaste an. Frau Hedwig von Olfers war durchdrungen von dem Glauben an die geistige Macht des deutschen Volkes. Sie hätte niemanden begriffen, der anders dächte, und suchte Cosima, die aus einer Pariserin zur Deutschen werden sollte, dafür zu gewinnen.

Auf Wunsch des Königs Friedrich Wilhelm hatte ihr Gatte als Generaldirektor der Kunstsammlungen die Pflicht übernommen, die Geselligkeit zwischen Künstlern, Gelehrten und Fremden zu fördern. In seinem Hause auf der Museumsinsel wurde diese Pflicht mit Liebe erfüllt.

Da war ein Raum mit Gipsabgüssen antiker Werke geschmückt, die sich scharf von einer roten Damasttapete abhoben: auf einem Mappentisch in der Mitte dieses Raumes wurden bei den Empfangsabenden Kunstblätter gezeigt, oft Reiseerinnerungen zurückgekehrter Freunde. Der große Gelbe Salon bot, mit behaglichen Winkeln und dem Kaminplatz, Gelegenheit, Gruppen zu bilden. Auch hier stand ein großer Tisch in der Mitte, an dem eine Tochter des Hauses den Tee für die ganze Gesellschaft bereitete.

Frau von Olfers sah schon seit Jahrzehnten das ganze geistige Berliner Leben an sich vorüberziehen. Gern lenkte sie das Gespräch auf Kunst und Literatur, von einzelnen Persönlichkeiten oder gar von Klatsch wollte sie nichts wissen. Dem Königshause hing sie an, weil das bei der Stellung ihres Mannes selbstverständlich war: alles Große aber erwartete sie für die Zukunft von der seelischen Kraft der Volksgemeinschaft und war überzeugt, daß künstlerische Taten nur auf völkischem Boden keimen könnten, daher sie denn zu dem noch kleinen Kreise der Wagnerverehrer gehörte und so mit Hans von Bülow und Cosima in enge Fühlung kam. –

Zum Besten armer, von einer Überschwemmung betroffener Familien wurden Gemälde lebender Maler zum Verkauf ausgestellt und verlost. Prinz Wilhelm eröffnete das Wohltätigkeitswerk, der Hof und die Spitzen der Gesellschaft waren dazu erschienen, auch Bülows hatten eine Einladung erhalten. Geheimrat von Olfers führte die hohen Herrschaften herum, erklärte die Bilder und wies auf besondere Feinheiten hin.

Cosima ging mit Hans durch die Säle und war in Erinnerung an die Mahnung der Frau Bettina besonders nett zu ihm. Von Malerei verstand er nicht viel, sie um so mehr. Er hatte keine Ahnung von dem größeren oder geringeren Wert der Werke und hielt sich meist nur an den Gegenstand, den sie darstellten, was seine Begleiterin sehr belustigte. Dadurch unterschied er sich allerdings wenig von den Hofherren und Generälen, die sich besonders vor den historischen Riesenschinken des Münchners Piloty und vor den schelmischen Genrebildern von Knaus sammelten, über die der alte Feldmarschall Graf Wrangel seine köstlichen Berliner Glossen steigen ließ.

»In der Malerei sind Sie ein wahrer Banause, lieber Hans«, meinte Cosima.

»Ich weiß«, gab er halb ärgerlich zu, »woher soll ich solche Wissenschaft auch haben?«

»Es ist keine Wissenschaft, sondern ein Gefühl, von dem man viel reine Freude haben kann. Sehen Sie, zum Beispiel, hier die Zeichnungen Adolf Menzels von den Soldaten Friedrichs des Großen! Die meisten gehen vorüber, weil sie so klein und nicht einmal im Kampfe aufgenommen sind. Der Meister selbst – dort hinten verschwindet er gerade hinter der hohen Gestalt des Prinzen Wilhelm – ist ein äußerlich unscheinbares Männchen, aber was für ein Riese im Können! Alles, was er malt, ist historisch echt bis auf den letzten Gamaschenknopf. Nun, das können vielleicht auch unsre Offiziere beurteilen. Aber darüber hinaus trifft er unübertrefflich getreu auch den Charakter dieser Mannschaft in Haltung, Bewegung und Gesichtsausdruck. Und dann beachten Sie seinen leichten, sicheren Strich, all die Sorgfalt, die er seinen Lieblingen gewidmet hat! Das gleiche wird auch Herr von Olfers nachher sagen – doch wer von den vielen, die sich um ihn drängen, hat das Gefühl dafür!«

»Sie, Fräulein Cosima, haben eben Gefühl für alles – nur nicht für mich«, bemerkte Hans zwischen Ironie und Gram.

»Wie können Sie das sagen! Bloß weil ich mir manchmal einen Scherz mit Ihnen erlaube? Lieber Hans, ich fühle mit Ihnen, wenn Sie Attacke reiten gegen Ihre Feinde, wenn Sie sich bloßstellen für unsern Richard Wagner, wenn Sie von Ihrer Mutter wegen irgendeiner tapferen Entgleisung ausgescholten werden. Auch mit Ihren Enttäuschungen und Nervenzusammenbrüchen, mit Ihrer ewigen Migräne habe ich aufrichtiges Mitgefühl. Nur ist es mir nicht gegeben, darüber in wehleidige Klagen auszubrechen. Was hülfen die auch! Sie müssen Ihren harten Weg gehen durch dick und dünn, und Sie sind doch der Mann dazu, sich durchzuhauen!«

Er drückte ihr getröstet die Hand und hatte nun vollends keinen Blick mehr für die Bilder, sondern nur noch für sie.

Was mochte seines Meisters liebstes Kind wohl ganz im Innern von ihm halten? Daß sie ihn als Lehrer schätzte und als Musiker, war kein Kunststück. Aber die Musik war schließlich nicht ihr ein und alles. Der Bereich ihres geistigen Lebens hatte viel weitere Grenzen; von Tag zu Tag ward ihm das klarer. Wagners Zielwort vom »Gesamtkunstwerk« fiel ihm ein. Auch der einzelne Mensch kann ein Gesamtkunstwerk darstellen, Vereinigung und Aufschwung zum Gipfel des Persönlichen. Solch ein Ausnahmemensch schien ihm diese Cosima Liszt zu sein. Auf welchem Wege wohl kam man ihnen näher? Gelangt man je zu ihnen hinauf?


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