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Zehntes Kapitel

In der verräucherten Weinstube am Münsterhof waren um einen ungedeckten runden Tisch die »Schöpplibrüder« versammelt; nicht nur Brüder, auch Schwestern, trinkfeste Ehefrauen, sprachen hier dem roten »Kompleter« zu. Schweizer Rachenlaute übertönten das spitze, leisere Hochdeutsch, denn die Begründer und Haupthähne des Kreises waren, wie billig, jüngere Eidgenossen, der Kunstgelehrte Professor Jakob Burckhardt, der Maler Arnold Böcklin, der verunglückte Maler und angehende Schriftsteller Gottfried Keller. Zum erstenmal weilte an diesem Abend das Ehepaar Bülow unter ihnen. Es gab niemand, der es nicht dem Namen nach kannte und nicht wußte, daß es unterwegs zu Richard Wagner war.

Die Herweghs, wie Wagner hier auch nur Verbannte noch vom deutschen Aufruhr des Jahres achtundvierzig her, hatten es eingeführt und saßen neben ihm. In einer herzhaft derben Weise, dem richtigen alemannischen Stammtischton, wurden Fragen der Kunst und Wissenschaft abgehandelt, dieselben, die auch die Berliner Gesellschaft bewegten und doch nicht wiederzuerkennen, weil sie hier nicht witzelnd, feinsinnig oder verstandesmäßig, sondern von einem volkhaften, seelisch durchwärmten Standpunkt aus betrachtet wurden. Cosima, die noch nie in einer Kneipe an solch einem Gespräch teilgenommen hatte, war anfangs verblüfft, bald aber angeheimelt. Ihr elfisches Wesen, ihre damenhafte Haltung und Erscheinung stachen von den breithüftigen, baumwollenen Nachbarinnen einigermaßen ab, in Geist und Gemüt aber fand sie sich ihnen sofort verbunden, und die eingefleischten Junggesellen, deren Zahl und Lebensform hier überwog, bereiteten ihr mit dem Knastergestank ihrer Pfeifen und ihren grundgescheiten Wortgefechten viel Vergnügen. Daß sie sich alle zur jungen Kunst, somit auch zur neuen Musik bekannten, erfreute sie und Hans mehr als das modische Geschwätz der Berliner Nachläufer und Salonlöwen. Feste, rassige Kerle waren es, der Burckhardt, der Böcklin und der Keller, jeder eine kauzige Welt für sich. Den deutschen Rebellen Herwegh zogen sie, so gern sie ihn auch hatten, mit seinen politischen Gedichten auf.

»Partei, Partei, wer sollte sie nicht nehmen!« zitierte Burckhardt lachend eines von Herweghs Lieblingsliedern. »Wisse Sie, lieber Poet, ich nehme sie nicht, und wenn Sie sie mir aufdränge wolle, werf' ich sie Ihne vor die Füß'.«

Mit dem Pathos des Fanatikers verwahrte sich der Verfasser dagegen. Keller stellte sich dumm und wollte zuvor wissen, ob die demokratische oder die russisch-anarchistische Partei gemeint sei, dann erst könne er sich entscheiden. Böcklin ließ Parteien gelten, aber nur, wenn ein einziger ganzer Mann dahinter stände, ein zielbewußter Staatsmann oder Künstler, so einer zum Beispiel wie der Gesandte von Bismarck, der die preußische Diplomatie wieder zu Ehren brächte, oder Richard Wagner, der das musikalische Drama führe. Noch hätten sie nicht erreicht, was sie wollten; wer aber ihre Bahn erkenne, schließe sich ihnen an.

Still und verschüchtert hockte vor seinem Schoppen ein älteres Männchen, hörte andächtig zu und wandte dabei keinen Blick von Cosima. Als sich zu später Stunde die Tafelrunde lockerte, einige aufstanden und debattierend umhergingen, andere ihre Plätze wechselten, stellte er sich Frau von Bülow als ehemaliger Schüler ihres Vaters vor – ein Herr Raché aus Lausanne, jetzt Korrepetitor am Züricher Theater.

»Ja, in Paris vor dreißig Jahren habe ich die Bekanntschaft von Franz Liszt gemacht und werde ihm nie vergessen, was er an mir getan.«

Cosima wurde neugierig. Er bat sie in eine Fensternische, um ihr allein und ungestört seine Geschichte zu erzählen:

»Ein Junge war er damals, Ihr Vater, ein prachtvolles Bürschli und schon das musikalische Wunder. Ich aber, älter als er, studierte als Hungerleider am Konservatorium. Ein einziges Mal nun hatte ich mir einen Stehplatz in einem seiner teuren Konzerte geleistet, sah und hörte ihn also zum erstenmal. Den letzten Takt der Sonate, mit der der erste Teil des Programms schloß, hab' ich noch im Ohr, wie er im Pianissimo verhauchte, und schon stand der Flügel verlassen. Mit zwei Sprüngen war der Spieler an der Pforte des Podiums, die er hinter sich ins Schloß warf, während der Beifall aufprasselte, das Händeklatschen und Bravogeschrei der Pariser, die ihn kannten und vergötterten.

Sie tobten weiter in ihrem Jubel, obgleich sie wußten, daß er sich erst nach Schluß des Konzerts dankend vor ihnen verneigen würde. Die Herren und Damen in den vordersten Reihen, Aristokraten aus dem Faubourg St. Germain, in deren Salons er heimisch war, riefen vergebens: › Bis! Bis!‹ und › Litz! Litz chéri!‹ Wir Schüler des Konservatoriums, an den Wänden aufgereiht, drängten ungestüm nach vorn, und auf der Galerie erdröhnte der Boden unter frenetischem Getrampel.

Vor der Tür, die vom Saal nach dem Künstlerzimmer führte, stand ein Diener in goldstrotzender Livree, grimmig bemüht, zudringliche Besucher abzuwehren; er hatte strengen Befehl, die Ruhepause des kleinen Franz Liszt zu schützen. Seinem wachsamen Blick entging, daß ich, ein schäbiger Jüngling, mit den Ellenbogen mir Bahn brechend, die Stufen zum Podium hinanstürmte und, verfolgt von den neidisch entrüsteten Zurufen der Menge, dort durch die Pforte mir Zutritt verschaffte.

Franz Liszt lehnte, ermüdet von dem Furor seines Spiels, in einem alten Fauteuil. Seine langen, schmalen Hände, zart und gepflegt wie die einer Frau, lagen flach auf den schwarzseidenen Eskarpins; das Antlitz schmiegte sich entspannt in das Polster. Als er den heftigen Schritt des Fremden vernahm, schlug er die Augen auf und begrüßte mich mit einem mehr zutraulichen als verwunderten Lächeln: ›Was sind Sie für ein Grandseigneur, mein Herr, daß man Sie hereinließ zu mir?‹

Ich weiß nicht, warum mich bei diesen scherzhaften Worten plötzlich ein unsinniger Zorn packte. Heftig rief ich ihm zu: ›Ein Großer bin ich im Reich der Kunst! Nicht weniger als Sie selbst, nur ungerechterweise vom Glück nicht begünstigt! Ein unberühmter Rivale von Ihnen. Mein Name ist Raché.‹

›Oh, sehr erfreut‹, erwiderte er, ›womit kann ich Ihnen dienen?‹

›Sie sollen Ihre Pflicht tun und mir verraten, mit welchem Geheimnis, welch infernalischem Trick Sie uns andere um den verdienten Ruhm bestehlen!‹

Der feine, fröhliche Knabe schien den erbitterten Aufschrei für ein geistreich verkleidetes Kompliment zu halten; denn noch niemals hatte ihn jemand wütend angefahren. Harmlos lachend, bat er mich Platz zu nehmen.

›Verstehen Sie doch, Franz Liszt‹, fuhr ich ruhiger fort, ›ich scherze nicht! Ich komme, Ihnen meinen Haß und meine Entrüstung auszudrücken. Ein verwöhntes Schoßkind der Gesellschaft, sonnen Sie sich in Glorie und Lebenslust, während Ihresgleichen um unsrer erhabenen Göttin willen kämpfen, leiden, darben muß! Mein Talent ist nicht geringer als das Ihrige‹ – ja, denken Sie, Frau von Bülow, das bildete ich mir damals wirklich ein! – ›nur durch Freudlosigkeit gehemmt. Länger als Sie arbeite ich daran, mich durchzusetzen, bin sogar aus Verzweiflung in das Konservatorium zurückgekehrt. Sie haben es verstanden, die Gesellschaft zu gewinnen; das ist der ganze Unterschied. Geben Sie loyalerweise Ihr Geheimnis preis, und ich werde Ihnen nicht länger lästig fallen!‹

Liszt musterte mich neugierig und nicht ohne Teilnahme: ›Gern, Herr Raché! Aber das ist nicht so einfach zu sagen. Ich habe nämlich noch gar nicht darüber nachgedacht, wenn es da überhaupt ein Geheimnis gibt. Auch ist die Zeit jetzt knapp, gleich muß ich wieder hinaus an den Flügel.‹

Ich konnte nicht umhin, das einzusehen. Die Unbefangenheit der kindlichen Stimme, die Herzensgüte, die aus dem beseelten Auge sprach, entwaffneten mich. ›Gut denn, ich gehe jetzt, wenn Sie mir nachher Auskunft geben wollen.‹

›Nachher! Potztausend, wie stürmisch Sie sind! Gleich nach dem Konzert bringt mich der Wagen des Herzogs von Orleans nach dem Palais Royal. Man erwartet mich dort. Wo wollen Sie mich da sprechen?‹

›Auf der Treppe ... im Wagen ... gleichviel! Sie entkommen mir nicht!‹

Franz Liszt lachte wieder wie über einen guten Spaß: ›Wenn Sie mich am Portal abfangen wollen, so kann ich Sie nicht hindern.‹

›Danke Ihnen!‹ stieß ich hervor und stolperte quer durch den engen Raum dem Ausgang zu. –

Noch einmal dröhnte und sang der Flügel unter den schmalen Kinderhänden. Diesmal donnerten sie Hummels H-Moll-Konzert und zauberten das Andante der Beethovenschen A-Dur-Symphonie, mit einer Arie von Rossini kontrapunktisch verschlungen, wie aus einem seligen Traum hervor. Das Publikum raste vor Entzücken. Von allen Seiten regnete es Rosen und Lorbeerzweige auf den strahlenden Jungen, der nach rechts und links seine zierlichen Bücklinge machte, Kußhände warf und die Blumen an seine Lippen führte ...

Vor dem Wagenschlag der herzoglichen Equipage stapfte ich danach ungeduldig auf und nieder. Franz Liszt erschien im Geleit der Menge, erkannte mich sofort und rief: ›Wahrhaftig, da sind Sie! Nun, so steigen Sie denn zu mir ein!‹ Als wir davonfuhren, fügte er spitzbübisch hinzu: ›Beste Gelegenheit, den Rivalen zu ermorden!‹

Ich griff nach seiner Hand: ›Nein, jetzt haben Sie mich gewonnen. Wie Sie soeben noch Beethoven bewältigten ... dem ist schlechterdings nicht zu widerstehen. Nun fordere ich nicht mehr – ich flehe nur: Offenbaren Sie mir das Rätsel Ihrer Wirkung! Als Dreizehnjähriger sind Sie zu uns gekommen, jetzt sind Sie fünfzehn, und noch immer ist Ihr Ruhm im Wachsen. Alle anderen Wunderkinder sind vergängliche Geschöpfe der Mode, in Ihnen aber spürt man den leibhaften Dämon der Musik.‹

›Ich selber spüre keinen Dämon‹, sagte er kopfschüttelnd, ›ich gebe mich hin an die Musik und übe – das ist alles.‹

›Die Leute und alle Zeitungen preisen Sie als Genie. Was will das sagen – scharenweise laufen die sogenannten Genies herum. Auch mich hat meine Clique schon als Genie bezeichnet. Nur daß sich die Welt davon bezwungen fühlt, will mir nicht gelingen.‹

›Oh, ich glaube, das muß schrecklich sein, wenn man für ein Genie gilt und hat die Gnade nicht.‹

›Die Gnade?‹ fragte ich verwundert. ›Was ist das? Sie meinen doch nicht die göttliche Gnade?‹

›Doch, eben sie! Gibt es denn eine andere?‹

›Sie sind fromm, Franz Liszt, Sie beten, davon habe ich allerdings gehört. Wollen Sie mir weismachen, daß man damit die Saiten eines Flügels in Schwingungen versetzt?‹

›Ich habe immer geglaubt. Vielleicht ist dies allein der Zauber, den ich Ihnen verraten soll.‹

›Sie fühlen‹, drang ich weiter in ihn, ›daß es der Glaube ist, der Ihnen diese überirdische Kraft verleiht?‹

Da hielt der Wagen schon vor dem Palais. Liszt stieg aus, ich mußte ihm folgen und mich verabschieden.

›Leben Sie wohl, Herr ... Herr Kamerad‹, sagte Liszt mit Herzlichkeit und schüttelte mir die Hand.

›Mein Gott‹, rief ich, ›mit keinem schöneren Titel können Sie mich ehren – lieber, kleiner Meister!‹ –

Ein paar Tage später habe ich von ihm erfahren, wie er droben unter den hohen Herrschaften den Abend verbracht hat. Aus der Flucht der Salons, in denen sie versammelt waren, ist ihm der Herzog von Orleans entgegengetreten und hat ihn zur greisen Herzogin von Berry, der Witwe des letzten Bourbon, geführt, die ihn nie anders begrüßte als mit mütterlicher Umarmung. Beide haben ihn mit sich an ihren Tisch genommen, ihn mit Leckerbissen gelabt und sich an seinem Geplauder ergötzt. Dann ist er natürlich an den Flügel genötigt worden, damit er eines seiner Bravourstücke zum besten gäbe.

Da er zu seiner Freude unter den Gästen seine Lieblingsschülerin, die kleine Komtesse Caroline von Saint-Cricq bemerkte, die sich in Begleitung ihres Vaters, des Handelsministers, befand, bat er sich aus, mit ihr vierhändig spielen zu dürfen. Das niedliche kleine Fräulein wäre sehr einverstanden gewesen, und ich nehme an, daß nicht wenige Damen darüber vor Eifersucht erblaßten. Aber das wird Franz Liszt damals wohl noch entgangen sein, wie sie ihn alle mit den Blicken umwarben ...

Es ging auf Mitternacht, als Liszt beim Aufbruch des Handelsministers die Komtesse an ihren Wagen begleitete. Ich stand im Dunkel und sah, wie er seiner Angebeteten mit schwärmerischem Augenaufschlag die Hand küßte und sich vor dem Vater tief verneigte, der von dieser Galanterie etwas mißtrauisch Kenntnis nahm. Im Begriffe, die Freitreppe wieder hinanzuspringen, bemerkte mich Liszt, denn ich hatte mich ihm zögernd genähert.

›Ah, sieh da!‹ Er blinzelte mir freundlich zu. ›Schon wieder auf meinen Spuren?‹

›Noch immer – und für ewig, teurer Kamerad und Meister!‹ rief ich. ›Es war mir unmöglich, diese Stelle zu verlassen.‹

Nachdenklich sah er mich an. ›Wüßte ich nur, was ich für Sie tun könnte!‹

›Kaum etwas Entscheidendes! Es muß mir genügen, daß es unter uns armen, obskuren Jüngern der Kunst wenigstens einen leuchtenden Stern, einen Glücklichen gibt. Denn nichts ist mir gewisser, nachdem ich Sie kennengelernt, als daß Sie allein wahrhaft glücklich sind und bleiben werden und daß Sie diese sogenannte Gnade auch verdienen.‹ Seine große Güte brach ungehemmt durch.

›Sie haben hier stundenlang auf mich gewartet. Das zwingt mich, Ihr Freund zu sein und Ihnen wenigstens einen Teil Ihres Wunsches zu erfüllen. Kunstgriffe habe ich Ihnen wirklich nicht zu verraten. Aber ich könnte Ihnen zeigen, wie ich am Flügel zu üben pflege. Wenn Sie Lust haben, mir dabei zuzuschauen, so kommen Sie doch jeden Morgen auf eine Stunde zu mir! Wir üben dann zusammen. Wollen Sie?‹

Erst begriff ich nicht recht. Dann wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen. ›Franz Liszt! Das heißt, ich darf Ihr Schüler sein?‹

›Nennen Sie es meinetwegen so! Vielleicht stellt sich dabei heraus, daß Sie mehr können als ich.‹ Nun, darauf habe ich den kleinen Kameraden, der so viel größer war als ich, aufjubelnd doch noch an die Brust gedrückt. Er riß sich ungeduldig los und sagte:

›Alle Welt umarmt mich. Ich bin doch kein Kind mehr! – Auf Wiedersehen, Herr Raché, morgen früh um acht Uhr! Und wenn wir miteinander spielen, so nehmen Sie mich, bitte, ernst!‹ –

Wochenlang hat der unentgeltliche, hochherzige Unterricht gedauert und für meinen späteren Beruf die Grundlage geschaffen. Zum Pianisten war ich verdorben, das sah ich bald genug ein. Aber mein Gehör wurde in der ›Schule Franz Liszt‹ immerhin so entwickelt, daß ich nach der Schweiz zurückkehren und an Opernbühnen Beschäftigung finden konnte.«

Eben jetzt war Rachés Vertrag mit dem Züricher Stadttheater nicht verlängert worden: binnen Jahresfrist würde er auf der Straße sitzen. Das brachte Cosima nach einigen vorsichtigen Fragen aus ihm heraus.

Sie versprach ihm, ihren Vater an ihn zu erinnern, und zweifelte nicht daran, daß Liszt für seinen früheren Schüler am Weimarer Theater eine gleiche, wenn nicht bessere Stelle als bisher bereithalten werde.


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