Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.

Wie glücklich könnt' ich sein mit Einer,
Wär' nur das and're Schätzchen nicht!

Die Bettleroper.

Es heißt, die Hölle sei mit guten Vorsätzen gepflastert. Wenn es wahr ist. so hat sie ein weit besseres Pflaster, als sie verdient, denn »wir alle hängen im Schlepptau der Schlange«. Warum also den deutlichsten Beweis von unserer Vollkommenheit vor dem Falle und von unserer darauf folgenden Schwäche nach der Hölle verbannen? Aufrichtige Besserungsvorsätze müssen vor dem Throne der Gnade als eine kräftige Empfehlung gelten, selbst wenn wir durch die Verlockungen der Sinne und die Schlingen der Welt wieder auf Abwege geleitet werden. Wenigstens müssen unsere Zerknirschungs- und Reue-Thränen, unser Schmerz über die Vergangenheit und unser festes Vornehmen, in Zukunft anders zu sein, im Himmel Freude wecken, weßhalb sie unmöglich zu einem Pflaster für den Tummelplatz der Teufel passen.

Bei der Jugend üben Schmerz und Freude meist nur vorübergehende Eindrücke, gleichviel ob sie aus dem Besitze oder dem Verluste eines Erdenguts, aus dem Bewußtsein, recht oder unrecht gehandelt zu haben, entspringen. Wie kräftig auch die Aufregung sein mag, sie ist nicht nachhaltig und ein Gleiches war auch bei mir der Fall. Ich hatte mich kaum vier Tage an Bord des Linienschiffs befunden, das mich nach England mit nahm, als sich mein Geist wieder aufschwang, und mein Leichtsinn in weit höherem Grade zurückkehrte. Die Stunden der Betrachtung wurden anfangs abgekürzt, und dann gänzlich verabschiedet. Die Freude meiner neuen Schiffsgenossen, wieder einmal ihr liebes theures Heimathland besuchen zu dürfen, und der Vorgenuß einer sinnlichen Bachus- und Venus-Verehrung bildeten unter den Midshipmen das unablässige Unterhalten. Dies, nebst dem lauten, unsinnigen Beifall, welcher der rohesten Zotenreißerei gezollt wurde, trug dazu bei, die ernste Gemüthsstimmung zu zerstören, in welcher ich meinen Kapitän verlassen hatte, und ließ mich fühlen, wie thöricht ich gehandelt hatte, ein Schiff zu verlassen, auf dem ich nicht nur das Oberhaupt meiner Tischgenossen, sondern auch auf dem besten Wege zur Beförderung war. Ich machte mir Vorwürfe, einen solchen Tollhäuslerstreich begangen zu haben, und begann auf's Neue meine Laufbahn voll Sünde und Thorheit, nur ein klein wenig durch die kürzlichen Ereignisse gemildert. Wir langten nach der gewöhnlichen Fahrzeit in England an. Ich ließ mir's gefallen, mit meinen neuen Gefährten ein Paar Tage in Portsmouth zu verbringen, die alten Tummelplätze zu besuchen, und dieselben Ausschweifungen zu begehen, an welchen lobhudelnde Thoren und Schurken auf meine Kosten Theil nahmen, und die ich schmerzlich bereute, nachdem ich mich von denselben getrennt hatte. Indeß war ich doch entschlossen genug, meinen Koffer zu packen. Nach einem schwelgerischen Nachtessen in der Fontaine legte ich mich betrunken zu Bette, um mich am andern Morgen mit schmerzendem Kopfe in eine Postkutsche zu werfen und nach London abzufahren. Einem allzu heiter verbrachten Tage folgt in der Regel ein Zustand von Herabstimmung. Dieß ist auch ganz in der Ordnung, denn wenn wir allzu reichlich an unsern Vorräthen zehren, und unsere Lust ebenso wie unser Geld verschleudern, so muß am andern Tage der Kopf leer und der Beutel noch leerer sein.

Eine stumpfsinnige Niedergeschlagenheit folgte der geräuschvollen Lust der letzten Nacht. Ich schlief in einer Ecke des Wagens bis gegen ein Uhr, zu welcher Zeit wir Godalming erreichten. Hier stieg ich aus, genoß eine kleine Erfrischung und nahm meinen Sitz wieder ein. Während der Fahrt hatte ich mehr Muße, wie ich mich denn auch in einer geeigneteren Gemüthsstimmung befand, um über mein Benehmen, seit ich mein Schiff zu Gibraltar verlassen hatte, Betrachtungen anzustellen.

Meine Selbstprüfung führte wie gewöhnlich zu keinem befriedigenden Resultat. Ich bemerkte, daß das Beispiel schlechter Gesellschaft jede Spur der guten Vorsätze, welche ich nach dem Tode meiner guten Mutter faßte, verwischt hatte, und grämte mich über meine Schwäche. Meine Entschlüsse, meine heiligen Besserungsgelübde – Alles hatte ich vergessen, um der ersten Verlockung, die mir in den Weg trat, nachzugeben.

Vergeblich vergegenwärtigte ich mir alle schwarzen und drohenden Wolken der Familientrauer, die mich bei meinem Eintritte in das Elternhaus erwarteten – die schreckliche Leere, welche durch den Tod meiner Mutter herbeigeführt war – den Schmerz meines Vaters – den Gram meiner Brüder und meiner Schwester – die Stelle, an welcher ich die beste der Mütter verlassen hatte, als ich mich gedankenlos abwandte von ihrer Herzensangst, um in die Fremde zu ziehen. Ich erneuerte meine Besserungsgelübde und fand einen geheimen Trost darin.

Als ich an der Thür der väterlichen Wohnung anlangte, grüßte mich der Diener, welcher mich einließ, mit einem lauten und herzlichen Willkommen. Ich eilte in das Besuchszimmer, wo ich fand, daß meine Geschwister eine Kindergesellschaft zusammengebeten hatten, mit welcher sie den Abend verbrachten. Sie tanzten zur Musik eines Pianos, welches meine Tante spielte, während mein Vater in höchlich guter Laune auf seinem Armsessel saß.

Wie ganz anders war die Scene, als ich sie erwartet hatte. Ich hatte mich auf ein rührendes Wiedersehen gefaßt gemacht, und meine Gefühle befanden sich in einem entsprechenden Zustande. Man denke sich also, welche Umwandlung in meiner Seele vorging, als ich auf Heiterkeit und gute Laune traf, wo ich Thränen und Weheklagen entgegensah. Ich hatte ganz vergessen, daß der Tod meiner Mutter, der mir noch so neu war, um sechs Monate vor die Zeit fiel, als ich Kunde davon erhielt, und daß dem gemäß der Schmerz durch die Zeit ertödtet worden war. Ich empörte mich über diese augenscheinliche Gefühllosigkeit, während sie ihrerseits erstaunt mich und die Trauerabzeichen, die ich trug, betrachteten.

Mein Vater bewillkommnete mich überrascht, fügte aber alsbald die Frage bei, wo mein Schiff sei und was mich nach Hause gebracht habe. Freilich hatte ich mich so plötzlich entschlossen, nach England zurückzukehren, daß ich mir nicht einmal die Mühe nahm, meine Angehörigen brieflich mit meinen Absichten bekannt zu machen, und wenn ich auch geschrieben haben würde, so wäre ich jedenfalls so früh als mein Brief angelangt, ich hätte nur von Portsmouth aus Kunde von mir ertheilen müssen, was ich aber leider unterlassen hatte, um meine Zeit in den allerschlimmsten Ausschweifungen zu vergeuden. Da ich indeß nicht im Stande war, im Beisein so vieler Zeugen meinem Vater die Erklärung zu geben, welche er mit Recht verlangen konnte, so litt ich eine Zeit lang sehr in seiner guten Meinung, weil er dadurch auf die ganze natürliche Vermuthung kam, meine üble Aufführung sei der Grund meiner plötzlichen Rückkehr. Seine Stirn umwölkte sich, und sein Geist schien sich in tiefem Nachsinnen zu ergehen.

Dieses Benehmen meines Vaters, zugleich mit der geräuschvollen Heiterkeit, in der sich meine Geschwister durchaus nicht unterbrechen ließen, fiel mir ungemein schmerzlich. Ich dachte jetzt, ich habe bei der traurigen Kunde von dem Tode meiner Mutter doch zu viel Empfindsamkeit gezeigt und durch das Verlassen meines Schiffes ein allzu großes Opfer gebracht. Als ich meinem Vater unter vier Augen den Beweggrund meiner Handlungsweise mittheilte, wollte es mir auch nicht recht glücken, ihn zu überzeugen, denn er konnte nicht glauben, daß der Tod meiner Mutter der einzige Anlaß zu meiner Rückkehr nach England sei. Er stellte viele ernste und zornige Fragen an mich, und meinte, was denn Gutes dabei herauskommen könne, daß ich mein Schiff verlassen habe; auch wurde er nur noch ärgerlicher, als ich ihm das gute Zeugniß meines Kapitäns zeigte. Umsonst entschuldigte ich mich mit dem Drange meiner Gefühle; er setzte mir ein Argument entgegen, dem ich allerdings nichts zu erwiedern vermochte, indem er mir sagte, ich sei von meinem Schiffe gegangen, als ich eben auf der Glanzhöhe der Gunst und auf dem Wege zu meinem Glücke stand.

»Was müßte überhaupt aus dem Vaterlande und aus der Flotte werden,« fügte er bei, »wenn jeder Offizier nach Hause wollte, so oft er Kunde von dem Tode eines Verwandten erhält?«

In demselben Maße, als mich meines Vaters Vorstellungen überzeugten, verwischten sie auch die Eindrücke, welche die Ermahnungen meiner sterbenden Mutter auf mich geübt hatten. Wenn ihr Tod so gar nichts besagen wollte, so mußte es mit ihren letzten Worten derselbe Fall sein, und von diesem Augenblick an entschlug ich mich aller weiteren Gedanken darüber. Mein Vater behandelte mich nun ganz anders, als bei Lebzeiten meiner Mutter, denn meine Bitten wurden mir mit Härte abgeschlagen, und ich mußte mir Vorlesungen gefallen lassen, wie sie etwa für ein Kind paßten, nicht für einen jungen Menschen von achtzehn Jahren, der schon so viel von der Welt gesehen.

Ich setzte seiner Kälte den Geist des Widerstands entgegen, worin mir mein Stolz zu Hülfe kam. Eines Abends kam es zu einem Wortwechsel, in welchem ich ihm schließlich bemerkte, daß ich sein Dach verlassen wolle, wenn ich nicht friedlich darunter leben könne, worauf er mir ganz ruhig anempfahl, ich solle dies thun. Er ließ sich wohl wenig träumen, daß ich ihn sogleich beim Worte nehmen würde. Indeß geschah dies; ich verlies das Zimmer, schlug die Thüre hinter mir zu, packte meine Siebensachen zusammen, nahm mein Bündel auf die Schulter und entfernte mich, ohne von Jemand bemerkt zu werden, mit ungefähr sechszehn Schillingen in der Tasche. Das war nun freilich ein großes Versehen von Seite meines Vaters, aber ein noch größeres von mir. Er wünschte sehnlich, mich wieder zur Flotte zu bringen, und auch ich hatte nicht das Mindeste dagegen einzuwenden, aber seine Ungeduld und mein Stolz verdarben Alles. Allerdings kam bei mir die Ueberlegung hinterdrein, leider aber zu spät. Die Nacht brach herein, ich hatte kein schützendes Dach über meinem Haupte, und meine Börse befand sich in keinem sonderlich blühenden Zustande.

Nachdem ich mich etwa sechs Meilen von meines Vaters Wohnung entfernt hatte, fing ich an, müde zu werden. Es wurde dunkel und noch immer hatte ich mir keinen festen Plan gebildet. Da fuhr der Wagen einer Herrschaft an. Ich setzte mich hinten auf, und war in dieser Weise vier Meilen weiter gekommen, als die Pferde an einen Berg kamen, wo es langsamer ging, und ich von den in der Kutsche Sitzenden entdeckt wurde. Der abgestiegene Postillon wurde von meinem Vergehen in Kenntniß gesetzt und begrüßte mich mit etlichen tüchtigen Peitschenhieben, die mir andeuteten, daß ich hier nichts nütze, sondern eher eine Last sei, die man recht gut entrathen könne.

Meine Leser wissen, daß ich mir schon seit langer Zeit den Wahlspruch unserer nördlichen Nachbarn – Nemo me, etc. – angeeignet hatte, weßhalb ich ganz ruhig zuwartete, bis der Postillon auf dem Berge droben sein Pferd wieder bestieg. Sobald er nun in dieser Weise mehr in meinen Händen war, entsandte ich einen Stein nach seinem Kopf, in Folge dessen er seinen Sattel räumte und unter den Bauch seines Thieres fiel. Die Rosse scheuten über seinen Sturz, machten, um nicht über ihn wegzugehen, rechts um und rasten den Berg hinunter. Der Postillon half sich wieder auf die Beine und rannte seinen Thieren nach, ohne an den Urheber dieses Unfalls zu denken, und ich machte mich in aller Hast in der entgegengesetzten Richtung davon, höchst gleichgültig gegen das Schicksal der im Wagen befindlichen Personen, da ich noch immer die erhaltenen Peitschenhiebe nicht verschmerzt hatte.

»Ihr einfältigen Unmenschen,« murmelte ich, als ich zusah, wie sie unten an dem Berge mit furchtbarer Geschwindigkeit verschwanden, »euch ist recht geschehen. Ich hatte allerdings kein Recht, hinten auf eurem Wagen zu sitzen, aber eine höfliche Aufforderung würde allen euren vernünftigen Wünschen entsprochen und mich heruntergebracht haben; doch mir eine Peitsche – !« Und mit vor Entrüstung kochendem Blute setzte ich hastig meinen Weg fort.

Bald nachher erreichte ich das Städtchen A.., dessen Lichter ich bereits gesehen hatte, als die Pferde umwandten und Reißaus nahmen. Ich trat in das erste Wirthshaus an der Straße und fand in der großen Gaststube unten eine Bande wandernder Komödianten, welche eben bei gefülltem Hause Romeo und Julie aufgeführt hatten; auch war aus der Aufregung, die unter ihnen herrschte, leicht zu entnehmen, daß der Kassen-Ertrag völlig ihren Erwartungen entsprochen hatte. Es waren ihrer 14, die um einen runden, mit würzigen Speisen gesetzten Tisch saßen; sie trugen sämmtlich ihr Theatercostüme, was neben dem raschen Kreisen der Flasche der ganzen Scene einen Anstrich von romantischer Freiheit gab, die wohl geeignet war, das Interesse eines gedankenlosen Halbsoldmidshipmans zu wecken.

Da ich nach meiner Wanderung hungrig war, so gedachte ich, mich beim Nachtessen dieser Gesellschaft anzuschließen, was sich leicht bewerkstelligen ließ, da nicht nach der Karte gespeist, sondern Gasttafel gegeben wurde. Eine der Schauspielerinnen, ein hübsches, wohlgewachsenes Geschöpfchen mit großen, schwarzen Augen, ließ sich mit augenscheinlicher Gleichgültigkeit die Schmeicheleien der kleinstädtischen Zierbengel und der jungen Pächter aus der Nachbarschaft gefallen. Sie lächelte hin und wieder, und ließ dabei eine wunderschöne Reihe kleiner Perlenzähne blicken; wenn sie aber ihre sinnige Haltung wieder einnahm, war ihr Wesen so bezaubernd melancholisch, daß ich von dem armen Mädchen ganz hingerissen wurde, das augenscheinlich eine weit niedrigere Stellung im Leben einnahm, als ihr durch ihre Erziehung angewiesen war. Der Mensch, welcher ihr zunächst saß, räumte seinen Platz – sobald er bemerkte, daß seine Aufmerksamkeiten weggeworfen waren, ein Umstand, den ich mir augenblicklich zu nutze machte, indem ich mich an ihre Seite setzte und alsbald ein achtungsvolles Gespräch mit ihr anfing.

Ob ihr meine Unterhaltung und Sprache mehr gefiel, weil sie besser waren, als das, was sie gewöhnlich anhören mußte, oder ob ihr meine beharrliche Aufmerksamkeit schmeichelte, weiß ich nicht; jedenfalls aber wurde sie teilnehmender und lebhafter – und ich erstaunte mit jedem Augenblick mehr, sie in einer derartigen Stellung zu finden, da sie viele Talente und einen sehr gebildeten Geist verrieth.

Unsere Unterhaltung hatte ziemlich lange gedauert, und ich sah eben einer Antwort entgegen, die sie mir, augenscheinlich mit einer verborgenen Rührung kämpfend, schuldig geblieben war, als wir durch das Anfahren eines Wagens am Hause und durch den Ruf: »Hülfe! Hülfe!« unterbrochen wurden. Ich stand alsbald auf, um der Aufforderung des Unglücks Folge zu leisten.

In dem Wagen befand sich ein Herr, der eine anscheinend leblose junge Dame mit seinen Armen unterstützte. Unter meinem Beistande wurde sie alsbald in das Haus geschafft und in ein Schlafzimmer geführt. Man schickte nach einem Wundarzte, der aber nicht zu finden war. Der einzige Praktikus des Städtchens war in diesem Augenblicke abwesend, um in einem jener Fälle Dienste zu leisten, die, wie Mr. Malthus meint, viel zu häufig sind für das Wohl des Landes. Ich erfuhr nun, daß die Equipage umgeschlagen hatte, und die Dame von dem Augenblicke des Sturzes an besinnungslos gewesen war. Es war keine Zeit zu verlieren und ich wußte, daß man in derartigen Fällen augenblicklich eine Aderlässe vorzunehmen pflegt – eine Verrichtung, in welcher ich mir während meiner dienstlichen Laufbahn einige Erfahrung erworben hatte. Ich setzte dem Herrn meine Ansicht auseinander und erbot mich, die Operation vorzunehmen. Der Vater der Dame, denn dieses war er, ging mit Freuden darauf ein, worauf ich mit meinem scharfen Federmesser an einem der weißesten Arme, die ich je gesehen, eine Vene öffnete. Nach einigem Reiben entströmte das Blut reichlicher, der Puls kündigte die Wiederkehr des Lebens an, und mit Einem Male öffneten sich ein paar große, blaue Augen, die den Eindruck einer maskirten Batterie auf mich übten. Ja, mein Herz war so erstaunlich empfänglich für die zärtliche Leidenschaft, daß ich bei dem Anblicke solcher Liebessterne die kleine Schauspielerin, welche ich unten am Tische gelassen hatte, ganz vergaß, obgleich sie noch kaum vor ein paar Minuten alle meine Gedanken gefesselt hatte.

Nachdem es mir gelungen war, die schöne Patientin wieder in's Bewußtsein zu rufen, verordnete ich ein warmes Bette, etwas Thee und sorgfältige Pflege. Meine Anordnungen wurden pünktlich befolgt; sobald ich mich davon überzeugt hatte, verließ ich das Zimmer der Kranken und begann, über die seltsamen, Schlag auf Schlag sich folgenden Ereignisse des Tages nachzudenken.

Ich hatte kaum Zeit gehabt, in meinem Innern über die beziehungsweisen Verdienste meiner rivalisirenden Schönheiten Betrachtungen anzustellen, als der Wundarzt anlangte. Er wurde sofort in das Krankenzimmer geführt, wo er erklärte, die Kranke sei sehr geschickt behandelt worden und verdankte wahrscheinlich meiner Geistesgegenwart ihr Leben. »Erlauben Sie mir jedoch die Frage,« fuhr der Doktor gegen den Vater fort; »wie hat sich dieser Unfall zugetragen?« Der Herr versetzte, ein Schlingel habe sich hinten auf den Wagen gesetzt und sei von dem Postillon heruntergepeitscht worden; aus Rache habe nun derselbe seinen Züchtiger mit einem Stein von dem Pferde heruntergeworfen, wodurch die Thiere scheu wurden, umwandten und den Berg hinunter ihren Ställen zurannten; nach einem Jagen von etwa fünf Meilen sei der Wagen gegen einen Pfosten angeprallt und umgestürzt, durch welchen Unfall seine arme Tochter beinahe um's Leben gekommen sei.

»Welch' ein Halunke,« rief der Doktor.

»Ja wohl ein Halunke!« wiederholte ich, und es kam mir aus der Fülle meines Herzens. Mir schwindelte bei dem Gedanken, wie weit meine ungezügelte Leidenschaft hätte führen können, und mein Schmerz wurde nicht wenig durch die Reize meines liebenswürdigen Opfers erhöht. Ich erholte mich jedoch bald wieder, namentlich als ich bemerkte, daß auf mir durchaus kein Verdacht haftete. Mit gebührender, schüchterner Bescheidenheit nahm ich die Lobeserhebungen des Herrn und des Doktors hin; dann drückte mir der dankbare Vater herzlich die Hand und wünschte mir gute Nacht, worauf ich mich zu Bette begab.

Als ich vor dem Spiegel stand, meine Uhr und die erschöpfte Börse auf den Ankleidetisch legte und gemächlich mein Halstuch abband, konnte ich mir's nicht versagen, einen beifälligen Blick auf den Reflex meines, wie mich dünkte, eben so schönen, als unverschämten Gesichtes zu werfen. Ich ließ die Ereignisse des Tages Revue passiren und fand, wie gewöhnlich, daß die Totalsumme ganz und gar nicht zu meinen Gunsten stand.

»Das also,« sprach ich mit mir selber, »ist der Weg, den du zur Reue und Besserung einschlägst. Du beleidigst deinen Vater, verlässest sein Haus, steigst, wie ein Landstreicher, hinten auf den Wagen eines Gentlemans, wirst heruntergepeitscht, zerbrichst einem ehrlichen Manne; der von seinem sauren Verdienste Weib und Kinder ernähren muß, die Rippen, gibst Anlaß zu dem Umwerfen eines Wagens und bist beinahe Schuld an dem Tod eines liebenswürdigen Mädchens! Und dieses lange Sündenregister umfaßt den kurzen Zeitraum von sechs Stunden, deiner Absichten gegen die kleine Schauspielerin gar nicht zu gedenken, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht die allerehrbarsten waren. Wohin kann Alles dies führen?«

»An den Galgen,« gab ich mir selbst zur Antwort, »und zwar um so wahrscheinlicher, da deinen Finanzen auf keine andere Weise abgeholfen werden kann, als durch ein Wunder oder durch Straßenraub. Ich bin in zwei Mädchen verliebt und besitze nur zwei reine Hemden – folglich besteht durchaus kein Verhältniß zwischen dem Bedarf und den Mitteln.«

Unter derartigen gemischten Betrachtungen schlief ich ein. Früh am Morgen weckte mich das Zwitschern der Schwalben an den Fenstern, und die erste Frage, welche mein Gehirn beunruhigte, betraf die Auskunft, die ich dem Vater der jungen Dame geben wollte, falls er mich, wie höchst wahrscheinlich vorauszusehen war, über meine Persönlichkeit befragte. Ich hatte die Wahl zwischen Wahrheit und Lüge, und letztere würde wohl, der Macht der Gewohnheit zufolge, den Sieg davon getragen haben, wenn ich mich nicht dafür entschieden hätte, die Sache ganz der Eingebung des Augenblicks anheimzustellen und zu handeln, wie es mir die Umstände als passend erscheinen lassen würden. Meine Erwägungen wurden durch die Aufwärterin unterbrochen, welche an meine Thüre klopfte und mir mittheilte, »der Herr, der zu der jungen Dame gehöre, gegen welche ich so freundlich gewesen sei, erwarte mich beim Frühstück.«

Der Gedanke, an Einem Tische mit dem holden Wesen zu sitzen, dessen Gehirn ich Tags zuvor auf der Landstraße beinahe zerschellt hatte, überwältigte mich ganz und gar; ich überließ die Fabrikation meiner Geschichte dem Zufall oder der Inspiration, und eilte aus meinem Schlafgemache nach dem Zimmer, wo der Fremde meiner harrte. Er empfing mich mit großer Herzlichkeit, drückte mir wiederholt seinen Dank aus, und sagte, daß er Mr. Somerville von D .. sei.

Ich meinte, diesen Namen schon aus dem Munde meines Vaters gehört zu haben, und sann eben nach, ob ich mich nicht eines Weitern erinnern könne, als ich von Mr. Somerville durch die höfliche Aeußerung unterbrochen wurde, er hoffe das Vergnügen zu haben, den Namen des jungen Gentlemans kennen zu lernen, dem er sich so sehr verpflichtet sehe. Ich antwortete, daß ich Mildmay heiße, denn ich hatte noch nicht Zeit gehabt, über eine Lüge nachzudenken.

»Es würde mich ungemein freuen,« versetzte er, »wenn ich glauben dürfte, daß Sie der Sohn meines alten Freundes und Schulkameraden, des Mr. Mildmay von M.. wären; doch das kann nicht wohl sein,« fügte er bei, »denn er hat nur zwei erwachsene Söhne, den einen aus dem College und den andern unter der Flotte: Letzterer ist dem Vernehmen nach im mittelländischen Meere und ein so braver Seemann, als je einer lebte. Sie sind übrigens vielleicht mit dieser Familie verwandt?«

Noch ehe ich Zeit hatte, ihm zu antworten, ging die Thüre auf und Miß Somerville trat ein. Wir haben Alle schon viel von einer »Liebe beim ersten Anblick« gehört, aber ich betheure, daß der Mann, welcher Emilie Somerville zum ersten Male sah und nicht sterblich in sie verliebt wurde, weder Herz noch Seele haben konnte. Wenn sie mir schon so bezaubernd vorkam, als sie in einem Zustande von Besinnungslosigkeit da lag, wie mußte sie mir nicht erst erscheinen, nachdem ihre Gestalt die gewohnte Lebhaftigkeit und ihre Wange das natürliche Roth angenommen! Das Bild einer vollkommenen Schönheit zu schildern, war nie meine starke Seite, weßhalb ich nur sagen kann, daß Miß Somerville meiner Ansicht nach alle Bestandteile der schönsten englischen Dame in sich vereinigte; auch hatte die gewandte Hand der Natur bei ihr Alles in eine so schöne Harmonie gebracht, daß ich hätte vor ihr niederstürzen und sie anbeten mögen.

Wie sie ihre weiße Hand gegen mich ausstreckte und mir für meine freundlichen Dienste dankte, war ich von dem plötzlichen Erscheinen und der Anrede dieses herrlichen Frauenbildes so sehr überrascht, daß ich nicht wußte, was ich sah. Ich stammelte etwas heraus, erinnerte mich aber nicht mehr, ob es französisch oder englisch war. Meine Geistesgegenwart war ganz dahin, und das schuldbewußte Erröthen meines Antlitzes in diesem Augenblicke konnte recht wohl für das der ungekünstelten Unschuld genommen werden. Daß man solche äußerliche Anzeigen oft mißdeutet, und daß dieß namentlich bei dem gegenwärtigen Anlaß der Fall war, kann keinem Zweifel unterliegen. Meine Verlegenheit wurde auf Rechnung jener Bescheidenheit geschrieben, welche stets das wahre Verdienst begleitet.

Man hat behauptet, der wirkliche Werth erröthe, wenn er aufgefunden werde, indeß habe ich manchen Mann von Verdienst kennen gelernt, der nicht zu erröthen verstand, während die Werthlosigkeit diesen Kunstgriff los hatte und alle Ehren davon trug, welche dem Erstern gebührten. Die Glut, die in jenem Augenblicke auf meinen Wangen brannte, würde einem Verbrecher in Old Bailey zu seiner Verurtheilung verholfen haben, während sie auf dem Gesichte eines schönen jungen Mannes als das unfehlbare Merkmal einer »reinen, edlen Seele« galt.

Ich war zu lange in der Schule gewesen, um mich zu scheuen, Lorbeeren zu tragen, die ich nicht gewonnen hatte; und da ich oft die Peitsche fühlen mußte, ohne sie verdient zu haben, so hielt ich mich ebenso gut auch für berechtigt, aus den Vortheilen, welche mir das Kriegsglück in den Weg warf, Nutzen zu ziehen. Nachdem ich mein zartes Gewissen also zu Ruhe gebracht, nahm ich zwischen der neuen Gebieterin meines Herzens und ihrem Vater Platz, um ein entzückendes Frühmal einzunehmen. Der Doktor hatte zwar Miß Somerville außer aller Gefahr erklärt, so daß sie die Reise recht gut fortsetzen konnte; indeß war sie noch immer sehr erschöpft, und da das Ziel ihrer Fahrt nur wenige Meilen entlegen war, so beschloß Mr. Somerville, noch ein paar Stündchen zu verweilen.

Nach beendigtem Frühstück verließ er das Zimmer, um wegen des Aufbruchs die geeigneten Vorkehrungen zu treffen, und ich befand mich jetzt mit der jungen Dame allein. Während der kurzen Abwesenheit des Vaters erfuhr ich, daß sie die einzige Tochter, und daß ihre Mutter todt war; sie lenkte das Gespräch wieder auf meinen Familien-Namen, bei welcher Gelegenheit ich die weitere Entdeckung machte, daß mein Vater vor Mrs. Somerville's Ableben auf einem sehr innigen Fuße mit Emiliens Eltern gestanden hatte. Auf Mr. Somerville's Fragen war ich die Antwort schuldig geblieben; jetzt aber wurde mir eine ähnliche von der Tochter vorgelegt, und wer hätte wohl in einem Verhöre von so schönen, korallrothen Lippen und so spähenden blauen Augen eine Lüge sagen können? Es war eine abscheuliche Erschwerung meiner Schuld gewesen, weßhalb ich ehrlich zugestand, ich sei der Sohn von dem Freunde ihres Vaters.

»Ach du mein Himmel!« rief sie, »warum haben Sie dieß nicht auch meinem Vater gesagt?«

»Weil ich mich dann auf weitere Erörterungen hätte einlassen müssen,« fügte ich bei, indem ich sie zu meiner Vertrauten machte. »Ich bin nämlich der Midshipman, den Mr. Somerville im mittelländischen Meere wähnte, und bin erst gestern Abend aus dem Hause meines Vaters entlaufen.«

Obgleich ich meine Geschichte so kurz als möglich zusammendrängte, war ich doch noch nicht zu Ende, als Mr. Somerville eintrat. »O Papa!« rief die Tochter, »dieser junge Gentleman ist doch Frank Mildmay.« Ich warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, weil sie mein Geheimniß verrathen; ihr Vater war erstaunt, sie machte eine verlegene Miene und mir erging es ebenso.

Jetzt blieb mir nichts mehr übrig, als offen und ehrlich zu bekennen, wobei ich jedoch wohlweislich die Rolle, die ich bei dem gestrigen Steinwurfe gespielt hatte, verschwieg. Mr. Somerville ertheilte mir einen sehr scharfen Verweis, was ich für eine gewaltige Anmaßung hielt; indeß milderte er den unangenehmen Eindruck, indem er beifügte:

»Wenn Sie wüßten, wie theuer mir die Interessen Ihrer Familie sind, so würden Sie sich nicht wundern, daß ich im Tone eines Vaters mit Ihnen spreche.«

Ich blickte Emilie an und verbiß meinen Aerger.

»Wenn ich Ihnen außerdem sage, Frank,« fuhr er fort, »daß ich, obgleich die Entfernung der Güter Ihres Vaters von den meinigen unsern langen und vertrauten Verkehr einigermaßen unterbrochen hat, Ihre Laufbahn im Dienste mit Interesse bewachte, so nehmen Sie vielleicht meinen Rath an und kehren nach Hause zurück. Ersparen Sie mir den Schmerz, von einem jungen Manne, dem ich so sehr verpflichtet bin, glauben zu müssen, er sei zu stolz, um einen Fehler anzuerkennen. Hoher Sinn in einer guten Sache ist achtenswerth, aber nie läßt sich's rechtfertigen, wenn man an seinem Vater zum Ritter werden will. Ich kann wohl glauben, daß der Schritt Ihnen schwerfällt; indeß will ich Ihren Vater schriftlich darauf vorbereiten, und Sie bleiben hier, bis Sie Weiteres von mir hören. Es würde mir zwar ein Vergnügen machen, Sie nach D . . mitzunehmen, aber Ihr Vater hat ältere Ansprüche, und ich brauche Ihnen kaum zu sagen, daß ich einen möglich langen Besuch von Ihnen erwarte, sobald das gute Einvernehmen mit Ihrer Familie wieder hergestellt ist. Ueberlegen Sie sich, was ich Ihnen gesagt habe, und da ihre Finanzen vermuthlich in nicht sehr blühendem Zustande sind (»du bist ein Zauberer,« dachte ich), so erlauben Sie mir, Ihnen mittelst dieser Zehnpfundnote Beihülfe zu leisten.«

Auf den letzteren Theil seines Ansinnens ging ich weit bereitwilliger ein als auf den ersteren. Er verließ das Zimmer, wie er sagte, um die Rechnung zu bezahlen, obschon ich glaube, daß er seiner schönen Tochter Gelegenheit geben wollte, die Wirkung ihrer Beredsamkeit an meinem stolzen Sinn zu erproben, da derselbe keine sonderliche Fügsamkeit in Aussicht stellte. Ein paar Minuten mit ihr allein erzielte mehr, als beiden Vätern möglich gewesen wäre; auch lag der mächtigste Hebel für meine Nachgiebigkeit in dem Umstande, daß ich das Haus ihres Vaters nicht besuchen konnte, bis die Versöhnung zwischen mir und den meinigen stattgefunden hatte. Ich sagte ihr daher, daß ich mich ihrem Zureden fügen und alle billigen Bedingungen eingehen wolle.

Sobald dieß unter uns bereinigt war, bemerkte Mr. Somerville, daß der Wagen vor der Thüre stehe, worauf er mir die Hände drückte und seine liebenswürdige Tochter wegführte, deren Scheideblick und letztes Nicken alle meine guten Entschließungen bekräftigte.

Leser, was du auch von den geringfügigen Vorfällen der letzten vier und zwanzig Stunden denken magst, du wirst finden, daß sie in der Folge eine ungemein wichtige Bedeutung für den Erzähler dieser Geschichte hatten. Der Stolz veranlaßte mich, das Haus meines Vaters zu verlassen, und Rachsucht spornte mich zu einer That, welche die Heldin meiner Memoiren, denn als solche wird man Emilie Somerville kennen lernen, auf die Bühne brachte.

Aber ach! welche Bethörung konnte Mr. Somerville bewegen, mich mit zehn Pfund in der Tasche in einem Wirthshause zu lassen, während es doch weit besser gewesen wäre, wenn er mich nach seiner Wohnung genommen und bei sich behalten haben würde, bis er von meinem Vater Nachricht erhalten hätte! Die klügsten Menschen irren oft in Punkten, die auf den ersten Blick als unbedeutend erscheinen, in der Folge aber viel Schlimmes mit sich führen.

Mir selbst überlassen stellte ich eine Zeitlang Betrachtungen über das Erlebte an; da aber jetzt die schöne Emilie Somerville meinen Blicken entrückt war, so erinnerte ich mich wieder der kleinen herzerobernden Schauspielerin, welche ich Tags zuvor so plötzlich verlassen hatte. Indeß muß ich sagen, ich war noch so sehr von den Reizen ihrer Nachfolgerin bezaubert, daß ich die Gesellschaft der jugendlichen Melpomene mehr in der Absicht aufsuchte, mir die Zeit zu kürzen, als aus einer eigentlich ernstlichen Zuneigung.

Ich fand sie in der großen Gaststube, wo die ganze Schauspielergesellschaft versammelt war. Sie kam mir freundlich entgegen und zeichnete mich in einer Weise aus, die meiner Eitelkeit schmeichelte.

Nach drei Tagen erhielt ich einen Brief von Mr. Somerville, der einen zweiten von meinem Vater enthielt. Letzterer theilte mir einfach mit, ich sollte nach Hause zurückkommen und es ganz so halten, als ob gar nichts Unangenehmes vorgefallen sei. Hiezu entschloß ich mich auch; indeß hatte ich mich nun schon so lange in der Gesellschaft Eugenias (dieß war nämlich der Name der Schauspielerin) umgetrieben, daß ich mich nicht so leicht losreißen konnte.

Ich war in der That nach meiner Weise bis über die Ohren in sie verliebt, und obgleich sich dies von ihr nicht mit gleichem Rechte sagen ließ, so konnte mir doch nicht entgehen, daß sie sich in meinem Umgange gefiel. Sie erzählte mir die Geschichte ihres Lebens, welches ich im folgenden Kapitel mit ihren eigenen Worten wiedergeben werde.


 << zurück weiter >>