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Eine Stunde später trat der Professor in das Wohnzimmer seiner Mutter. Seine Hautfarbe war um einen Hauch bleicher als gewöhnlich; aber Gesichtsausdruck und Haltung ließen mehr als je die männliche Entschiedenheit und moralische Kraft hervortreten, die seine äußere Erscheinung zu einer bedeutenden machten.
Frau Hellwig saß hinter ihrem Asklepiasstock und strickte. Masche um Masche wurden unter diesen fleischigen weißen Händen zu Sprossen einer Leiter, die schnurstracks zum Himmel emporstieg – denn es war ein Missionsstrumpf, an welchem die große Frau strickte.
Der Professor legte ein aufgeschlagenes kleines Buch auf das Tischchen, hinter welchem sie saß. »Ich habe in einer sehr ernsten Angelegenheit mit dir zu reden, Mutter,« sagte er, »zuvor aber muß ich dich bitten, einen Blick in diese Blätter zu werfen.«
Sie legte erstaunt den Strickstrumpf hin, setzte die Brille auf und nahm das Buch. »Ei, das sind ja der alten Cordula ihre Kritzeleien!« meinte sie unwirsch, aber sie fing an zu lesen.
Der Professor legte die linke Hand auf den Rücken, ließ die rechte unablässig über den Bart gleiten und ging schweigend im Zimmer auf und ab.
»Ich sehe nicht ein, inwiefern mich die kindische Liebesgeschichte mit dem Schusterjungen interessieren soll!« rief die große Frau unwillig, nachdem sie zwei Seiten überlesen hatte »Wie kommst du denn auf die Idee, mir die alte Scharteke zu bringen, die mir die ganze Stube verpestet mit ihrem Modergeruch?«
»Ich bitte dich, lies weiter, Mutter!« rief der Professor ungeduldig. »Du wirst sehr bald den Modergeruch vergessen über anderen schlimmen Seiten, die das Buch hat.«
Sie nahm es mit sichtbarem Widerwillen auf und überschlug einige Blätter. Aber allmählich kam Spannung in dies Steingesicht; die knisternden Blätter flogen immer rascher durch ihre Finger. Ein feines Rot trat in die weißen Wangen, es lief über die Stirne und wurde plötzlich zu Purpur . . . Merkwürdigerweise jedoch war es weder ein eigentlicher Schrecken, noch gar Entsetzen, was die Frau erfaßte – mit einem maßlosen Erstaunen, in das sich sehr bald ein unsäglicher Hohn mischte, ließ sie das Buch in den Schoß sinken.
»Das sind ja merkwürdige Dinge! Ei sieh da, wer hätte das gedacht! Die ehrenhafte, hochangesehene Familie Hellwig!« rief sie, die Hände zusammenschlagend – in ihrer Stimme stritten Haß, Triumph und gesättigte Bosheit. – »Also die Geldsäcke, auf denen die stolze Frau Kommerzienrätin, meine Frau Schwiegermutter, stand, waren zum Teil gestohlen! . . . Ei, ei, da rauschte man in Samt und Seide daher – da gab man Feste, wo der Champagner in Strömen floß, und wo man sich von den Schmarotzern eine schöne und geistreiche Frau nennen ließ! . . . Und ich, ich mußte diese jubilierenden Gäste bedienen – niemand beachtete neben der leichtfertigen, üppigen Frau die arme, junge Verwandte, die in ihrer Tugend und Gottesfurcht hoch stand über den sündhaften, elenden Schwelgern . . . Da hab' ich oft die Zähne zusammengebissen und im Herzen zu meinem Gott gebetet, er möge dieses verruchte Treiben strafen nach seiner Gerechtigkeit! . . . Er hatte bereits gerichtet . . . O, wie wunderbar sind seine Wege! – Es war gestohlenes Geld, das sie verpraßten – ihre Seelen sind zwiefach verloren!«
Der Professor war regungslos mitten im Zimmer stehen geblieben. Er hatte diese Art Auffassung so wenig vorausgesehen, daß er einen Augenblick fassungslos schwieg.
»Wie du die Großmutter dafür verantwortlich machen kannst, daß sie unbewußt diese veruntreuten Gelder benutzt hat, begreife ich nicht, Mutter,« sagte er nach einer kurzen Pause entrüstet. »Dann sind auch unsere Seelen verloren, denn wir sind bis auf den heutigen Tag im Genuß der Zinsen verblieben . . . Uebrigens wirst du bei dieser Ansicht um so mehr mit mir einverstanden sein, daß wir uns das sündhafte, unehrliche Geld so bald wie möglich vom Halse schaffen und es bei Heller und Pfennig zurück geben.«
Vorhin, bei ihrem grenzenlosen Erstaunen, war Frau Hellwig sitzen geblieben und hatte einfach ihre Hände zusammengeschlagen; jetzt stützte sie dieselben auf die Armlehnen des Stuhles und fuhr mittels eines Ruckes empor.
»Zurückgeben?« wiederholte sie, als zweifle sie, recht gehört zu haben. »Wem denn?«
»Nun, selbstverständlich den möglicherweise existierenden Hirschsprungschen Erben.«
»Wie, an die ersten besten Strolche und Tagediebe, die vielleicht daher kommen und sich melden, sollten wir eine so enorme Summe hinauszahlen? . . . Vierzigtausend Thaler blieben ja wohl der Familie Hellwig, nachdem –«
»Ja, nachdem Paul Hellwig, der Ehrenmann, der echte und gerechte Streiter Gottes, der unleugbare Erbe des Himmelreiches, zwanzigtausend Thaler an sich gerissen hatte!« unterbrach sie der Professor, bebend vor Entrüstung. »Mutter, du lässest die Seele meiner Großmutter zur Hölle fahren, weil sie unwissentlich geraubtes Geld verwendet hat – was verdient der, welcher mit teuflischer Ueberlegung und Berechnung ein Vermögen stiehlt?«
»Ja, er ist einen Moment der Versuchung erlegen,« versetzte sie, ohne auch nur im mindesten ihre Fassung zu verlieren. »Er war damals ein unbesonnener, junger Mensch, der den rechten Weg noch nicht gefunden hatte – der Teufel wählt ja gerade die besten und edelsten Seelen, um sie dem Reiche Gottes abwendig zu machen – aber er hat sich emporgerafft aus dem Pfuhle der Sünde, und es steht geschrieben: ›Es wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße thut.‹ Er kämpft unermüdlich für den heiligen Glauben – das Geld ist entsühnt, geheiligt in seinen Händen; denn er benutzt es zu Gott wohlgefälligen Zwecken!«
»Wir Protestanten haben auch unseren Jesuitenorden, wie ich sehe!« lachte der Professor in unsäglicher Bitterkeit auf.
»Genau so verhält es sich mit dem, was an unser Haus gekommen ist,« fuhr die große Frau unerschütterlich fort. »Sieh dich um, ob nicht auf allem, was wir thun und wirken, Gottes Hand sichtbar ruht! . . . Klebte die Sünde noch an dem Gelde, es könnte nicht so herrliche Früchte bringen . . . Wir, du, mein Sohn, und ich, haben in Segen verwandelt, was einst Verbrechen gewesen ist, durch unseren Eifer im Dienste des Herrn, durch unseren gottseligen Wandel.«
»Ich bitte dich, Mutter, mich lasse unerwähnt!« unterbrach er aufs tiefste empört diese haarsträubende Beweisführung. Er griff mit der Hand nach der Stirne und preßte sie, als ob sie unsäglich schmerze.
Ein giftiger Blick flog hinüber nach dem protestierenden Sohne, aber nichtsdestoweniger fuhr die große Frau mit erhöhter Stimme fort. »Wir sind nicht ermächtigt, Mittel, mit denen wir einer heiligen Sache dienen, mir nichts, dir nichts fortzuwerfen, damit sie vielleicht in weltlichen Genüssen vergeudet werden . . . Das ist der Hauptgrund, aus welchem ich mich mit allen Kräften gegen ein Aufrühren dieser verschollenen Geschichte sträuben werde – der zweite ist, daß du einen deiner Vorfahren beschimpfst.«
»Beschimpft hat er sich selber und uns alle mit!« sagte der Professor rauh und finster. »Aber wir können wenigstens unsere Ehre retten, indem wir es verschmähen, die Hehler zu machen.«
Frau Hellwig verließ die Estrade und trat in ihrer ganzen Ueberlegenheit und stattlichen Würde vor ihren Sohn.
»Gut – setzen wir den Fall, ich gäbe dir nach in dem widerwärtigen Handel,« sagte sie kalt. »Wir nähmen also diese vierzigtausend Thaler – deren Verlust uns, nebenbei gesagt, zu einer nur mäßig bemittelten Familie machen müßte, aber sehen wir einmal auch davon gänzlich ab – also wir nähmen dies Geld und gäben es bei Heller und Pfennig zurück – wie nun, wenn die lachenden Erben auch noch die aufgelaufenen Zinsen und Zinseszinsen forderten – was dann?«
»Ich glaube nicht, daß sie dazu berechtigt sind – wenn es aber der Fall wäre, dann müßtest du dich eben an das Wort halten: ›Ich will die Sünden der Väter heimsuchen an den Kindern.‹«
»Ich bin keine geborene Hellwig – vergiß das nicht, mein Sohn!« unterbrach sie ihn schneidend. »Einen völlig unbefleckten, hochangesehenen Namen habe ich mit in dies Haus gebracht – mein Vater war ein fürstlicher Rat – auf mich fällt die Schande mithin nicht; ebensowenig bin ich gesonnen, irgend ein pekuniäres Opfer zu bringen, um den Flecken abzuwaschen – meinst du, ich sollte in meinen alten Tagen darben um dieser fremden Sünde willen?«
»Darben, wo du einen Sohn hast, der imstande ist, für dich zu sorgen? . . . Mutter, glaubst du nicht, daß ich dir mit dem, was ich gelernt habe, ein schönes, völlig sorgenfreies Alter verschaffen kann?«
»Ich danke dir, mein Sohn!« sagte sie eisig. »Aber ich ziehe es doch vor, von meinen Renten zu leben und mein eigener Herr zu bleiben. Ich hasse die Abhängigkeit – seit dem Tode deines Vaters habe ich keinen Willen gekannt als den des Herrn, meines Gottes, und meinen eigenen – und so soll es bleiben . . . Uebrigens streiten wir nicht um des Kaisers Bart! Ich erkläre dir hiermit, daß ich diese ganze Geschichte für eine Erdichtung der hirnverbrannten Person unter dem Dache halte. – Nichts in der Welt wird mich zwingen, sie als wahr, als wirklich geschehen anzuerkennen!«
In diesem Augenblick wurde die Thür geräuschlos geöffnet, und die Regierungsrätin trat herein. Die schöne Frau hatte geweint, aber diesmal nicht als Mater dolorosa – man sah die Spuren deutlich an den geröteten Augenlidern, und auf dem zarten Samt der Wangen glühten dunkle Flecken. Es war unverkennbar, die Leidenschaft hatte eben noch diese Seele derb geschüttelt, wenn auch von seiten der Dame alles geschah, die unwiderleglichen Zeugen zu einem Gesamtbilde unverschuldeten Leidens umzustempeln. – Sie hatte, um ihr sehr derangiertes Haar zu verstecken, eine weiße, duftige Tüllecharpe um den Kopf geschlungen; das ideale Haupt mit den einzelnen, dicken, blonden Locken, die sich regellos unter dem Tüllduft hervorstahlen, erhielt dadurch etwas Verklärtes. Jedenfalls hatte man versucht, den so lange festgehaltenen Nimbus des zart Mädchenhaften und der naiven Kindlichkeit einstweilen durch die unschuldig weißen Tüllwogen zu ersetzen.
Sie sah das verhängnisvolle Buch auf dem Tische liegen und zuckte zusammen. Langsam, wie eine Büßende, schritt sie auf den Professor zu und bot ihm mit schamvoll abgewandtem Gesicht die Hand – er verweigerte ihr die seinige.
»Verzeihe mir, Johannes,« bat sie. »Ach, ich bin so ungestüm gewesen, daß ich's vor mir selbst nicht verantworten kann! . . . Ich, die ich sonst so still und ruhig in meinem Gemüt bin, wie konnte ich nur so heftig werden! Aber die unselige Geschichte, sie trägt ganz allein die Schuld! . . . Bedenke, Johannes, mein lieber Papa ist durch dies abscheuliche Buch dort kompromittiert, und dir wollte ich doch auch um jeden Preis eine niederschlagende Entdeckung ersparen . . . Ich kann mir nicht helfen, aber ich muß immer denken, Karoline habe diesen entsetzlichen Zeugen aufgestöbert, nur um uns vor ihrem Weggang noch einen recht schlimmen Streich zu spielen . . .«
»Hüte deine verleumderische Zunge!« rief er drohend und so heftig auffahrend, daß sie erschrocken schwieg. »Uebrigens will ich dir verzeihen,« setzte er nach einer Pause, sich mühsam beherrschend, hinzu, »aber nur unter einer Bedingung.«
Sie sah ihn fragend an.
»Daß du mir ohne jedweden Rückhalt mitteilst, auf welche Weise du in den Besitz des Geheimnisses gekommen bist.«
Einen Augenblick schwieg sie, dann hob sie niedergeschlagen an: »In Papas letzter Krankheit, die, wie du weißt, einen tödlichen Verlauf zu nehmen schien, forderte er mich auf, ihm verschiedene Papiere aus seinem Sekretär zu bringen – ich mußte sie vor seinen Augen vernichten; es waren Hirschsprungsche Dokumente, wahrscheinlich hatte er sie als Kuriositäten aufbewahrt . . . Machte ihn nun die scheinbare Nähe des Todes mitteilsamer, oder hatte er überhaupt das Bedürfnis einmal über diesen Vorgang zu sprechen – genug – er weihte mich ein –«
»Und schenkte dir ein gewisses Armband, nicht wahr?« warf der Professor ingrimmig ein.
Sie nickte schweigend und sah flehend und hilfsbedürftig zu ihm auf.
»Hältst du den Vorfall nach dieser Erklärung noch für die Erdichtung einer Wahnsinnigen?« wandte sich der Professor kalt lächelnd nach seiner Mutter um.
»Ich weiß nur, daß diese Person,« sie deutete zornbebend auf die junge Frau, »an Faselei und Unverstand alles übertrifft was mir bis jetzt vorgekommen ist! . . . Da ist aber der Eitelkeitsteufel, der läßt einem keine Ruhe, da muß man solch ein seltenes Armband umlegen, das bewundern die Leute und sehen auch so nebenbei den schönen, weißen Arm!«
Die Regierungsrätin fiel aus ihrer Rolle als schmerzlich Büßende und schleuderte einen wilden Blick auf die Tante, die plötzlich eine ihrer schwächsten Seiten schonungslos an das Licht zog.
»Ich will nicht weiter erörtern, Adele, wie es dir bei deinem Gemüt, dessen Reinheit und Schuldlosigkeit du bei jeder Gelegenheit betonst, möglich gewesen ist, gestohlenen Schmuck zu tragen,« sagte der Professor scheinbar ruhig, aber in seiner Stimme grollte es dumpf, wie vor dem Ausbruch eines heranziehenden Gewitters. »Es bleibt dir selbst überlassen, zu entscheiden, wer strafbarer ist, ob die arme Mutter, die Brot für ihre hungernden Kinder stiehlt, oder die reiche, elegante Frau, die im Wohlleben schwimmt und den Diebstahl liebevoll protegiert . . . Daß du aber die Stirne haben konntest, diesen veruntreuten Schmuck mit großer Ostentation um die reine Hand des Mädchens zu legen, welches dir dein Kind gerettet hatte – du sagtest dabei ausdrücklich, das Armband sei dir sehr wert, aber für Aennchen könntest du das Liebste freudig opfern; – daß du es ferner gewagt hast, im Hinblick auf die Abkunft jenes Mädchens dich auf den hohen Standpunkt einer makellosen Abstammung zu stellen, alle Tugenden des reinen Blutes für dich beanspruchend und sie in die Sphäre der Verdorbenheit hinabstoßend, während du um die That deines Vaters wußtest. das ist eine empörende Infamie, die nicht streng genug gerichtet werden kann!«
Die Regierungsrätin wankte, schloß die Augen und griff mit unsicher tappender Hand nach der Tischecke, um sich festzuhalten.
»Nun, ganz unrecht hast du nicht. Johannes,« sagte die große Frau, indem sie die Wankende behufs der Erweckung derb am Arme schüttelte, ohnmächtige Frauen waren ihr ein Greuel, »ganz unrecht hast du nicht, aber dein letzter Ausspruch klingt denn doch zu stark! Eine grenzenlose Dummheit war's freilich, allein deshalb darfst du doch nicht vergessen, was du Adelens Stellung schuldig bist . . . Der Vergleich mit der armen Frau war – nimm mir's nicht übel – ein wenig albern . . . Es ist ein bedeutender Unterschied, ob man ›herrenloses Gut‹ findet, oder mit allem Vorsatz anderen Brot stiehlt . . . Aber das ist auch wieder so eine von den abscheulichen neumodischen Ideen, daß man Vergleiche macht zwischen dem gemeinen Volke und den Höhergestellten; es befremdet mich höchlich, solche Dinge aus deinem Munde zu hören. Ebenso ist es geradezu unverantwortlich, ein Mädchen, wie die Karoline, einer Frau vom Stande in der Weise gegenüber zu stellen, solch eine Dirne –«
»Mutter, ich habe dir bereits heute nachmittag im Garten erklärt, daß ich die unverzeihlichen Angriffe auf die Ehre dieses Mädchens nicht mehr dulden werde!« rief der Professor, und die gewaltige Zornader erschien auf seiner Stirne.
»Oho, mehr Beherrschung und Achtung, mein Herr Sohn, wenn ich bitten darf! Du stehst vor deiner Mutter!« gebot sie, während sie abwehrend die Hand gegen ihn ausstreckte, ein vernichtender Blick zuckte aus ihren kalten, grauen Augen. »Du spielst dich ja vortrefflich auf als Ritter dieser hergelaufenen Prinzessin; da wird mir freilich nichts anderes übrig bleiben, als ihr auch meinen Respekt zu Füßen zu legen!«
»In den Fall wirst du allerdings kommen, Mutter,« antwortete er mit großer Ruhe auf den beißenden Hohn, und seine Augen hefteten sich fest und durchdringend auf ihr Gesicht. »Du wirst ihr die Achtung und den Respekt nicht versagen dürfen, denn – sie wird mein Weib werden!«
Und es geschah wirklich, das Unerhörte – das alte Kaufmannshaus blieb stehen nach dieser Erklärung; die Erde öffnete sich nicht, um die kleine Stadt samt dem mißratensten aller Hellwige zu verschlingen, wie die große Frau in der ersten entsetzensvollen Bestürzung vermutete . . . Er selbst stand dort, kaltblütig und unerschütterlich, das Bild eines Mannes, der mit sich abgeschlossen hat, und an dem Weiberthränen, Krämpfe und Zorneswüten machtlos abprallen, wie die Wellen am felsenharten Ufer.
Frau Hellwig war förmlich sprachlos zurückgetaumelt – die Regierungsrätin aber erwachte aus ihrer halben Ohnmacht und stieß ein hysterisches Gelächter aus. Der verklärende Schleier fiel vom Haupte herab auf den Nacken, und die zerstörten Locken, in welchen noch die halbverwelkte Purpurrose von heute nachmittag hing, ringelten sich wie Nattern um die gerötete Stirn.
»Da hast du deine vielgepriesene Weisheit, Tante!« rief sie gellend. »Jetzt triumphiere ich! . . . Wer hat dich himmelhoch gebeten, dies Mädchen um jeden Preis zu verheiraten, ehe Johannes käme? . . . Mir sagte es eine untrügliche Ahnung beim ersten Anblick dieser Person, daß sie unser aller Unglück werden würde . . . Nimm du nun auch die Schande auf dich, gegen welche du dich geflissentlich verblendet hast! – Ich aber werde sofort nach Bonn abreisen, um den Professorenfrauen zu verkünden, welcher Art die neue, kleine Kollega ist, die nächstens in ihren exklusiven Kreis eintreten wird.«
Sie stürzte zur Thür hinaus.
Währenddem war die Erstarrung der großen Frau gewichen. Sie umgürtete sich mit ihrer ganzen eingebildeten Hoheit und äußeren Würde.
»Ich habe dich vorhin offenbar falsch verstanden, Johannes,« sagte sie scheinbar sehr gelassen.
»Wenn du das glaubst, so werde ich meine Erklärung wiederholen,« versetzte er kalt und unbeugsam. »Ich werde mich mit Felicitas d'Orlowska verheiraten.«
»Du wagst es, mir gegenüber diese wahnsinnige Idee festzuhalten?«
»Statt aller Antwort frage ich dich: Würdest du mir auch jetzt noch deinen Segen zu einer Verheiratung mit Adele geben?«
»Ohne weiteres. Sie ist eine standesgemäße Partie – ich kenne keinen größeren Wunsch.«
Der Professor wurde dunkelrot im Gesicht; man sah, wie er die Zähne zusammenbiß, um eine Flut heftiger Worte zurückzuhalten.
»Mit dieser Erklärung hast du den letzten Rest von Berechtigung verloren, in einer meiner wichtigsten Lebensfragen mitzusprechen,« preßte er, sich mühsam bezwingend, hervor. »Daß dies moralisch durch und durch verdorbene Geschöpf, diese erbärmliche Heuchlerin, mein ganzes Leben vergiften müsse, kommt also nicht in Betracht . . . Du sitzest ruhig hier in deinem stattlichen Hause, und es genügt dir vollkommen, von deinem fernen Sohne sagen zu können: ›Er hat sich standesgemäß verheiratet!‹ . . . Diesem unbegrenzten Egoismus gegenüber erkläre ich dir, daß ich um jeden Preis glücklich werden will, und das kann ich nur mit jenem armen verachteten Waisenkinde, das wir einst so grausam gemißhandelt haben!«
Frau Hellwig stieß ein rauhes Hohngelächter aus.
»Noch halte ich an mich, nicht das Schlimmste auszusprechen!« rief sie mit zuckenden Lippen. »Vergiß nicht: ›Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißt sie nieder!‹«
»Willst du behaupten, dein Segen vermöge Adeles moralische Gebrechen wegzuwaschen? . . . Ebenso wenig kann dein Fluch wirken, wenn er auf ein schuldloses Haupt fällt . . . Du wirst ihn nicht aussprechen, Mutter! Gott nimmt ihn nicht an – er fällt auf dich zurück und macht dein Alter einsam und liebeleer!«
»Was frage ich danach? . . . Ich kenne nur zwei Dinge, an die ich mich halte, die meine Richtschnur sind: Ehre und Schande! . . . Du hast meinen Willen zu ehren, und kraft dieser Pflicht wirst du deinen unsinnigen Ausspruch widerrufen!«
»Nie! darein ergib dich, Mutter!« rief der Professor zurück und verließ das Zimmer, während sie mit ausgestreckten Armen wie eine Bildsäule stehen blieb. Ob diese verzerrten, blutlosen Lippen den Fluch gesprochen? Kein Laut drang heraus in die Hausflur, und wenn es geschehen, er wäre spurlos verhallt – der Gott der Liebe gibt nicht ein so furchtbares Werkzeug in die Hände der Bösen und Rachsüchtigen!
Durch das große Viereck des Vorderhauses huschten bereits die Schatten der hereindämmernden Nacht. Sturm und Gewitter hatten ausgetobt, aber noch flatterten dunkle, zerrissene Wolkengebilde über den Himmel, wie zürnende Verlassene, die sich gegenseitig mit Riesenarmen zu erreichen suchten, um als vereinte Macht herabzustürzen . . .
Droben im ersten Stock wurden Thüren geschlagen, Kasten geschoben, und schwerfällige und behende Füße liefen auf und nieder – es wurde eingepackt auf Nimmerwiederkehr. »Da hätten wir also das Ende vom ›Blümelein Vergißmeinnicht!‹« brummte Heinrich seelenvergnügt vor sich hin, indem er einen großen Koffer über den Vorsaal trug.
Wie ruhig und gelassen gegen das Hasten und Poltern im Vorderhause erschien das blasse Mädchengesicht im großen Bogenfenster des Hofes! Eine Küchenlampe brannte auf dem Tische, und daneben stand das Köfferchen mit Felicitas' Kindergarderobe. Frau Hellwig hatte, den Missionsstrumpf in der Hand, von ihrer Estrade aus vor einer Stunde den Befehl gegeben, dem Mädchen ihren »Plunder« auszuliefern, »damit es keine Ursache habe, die Nacht noch im Hause zu bleiben . . . Felicitas hielt eben noch das kleine Petschaft mit dem Hirschsprungschen Wappen gegen das Licht, als das bleiche Gesicht des Professors im Bogenfenster erschien.
»Kommen Sie, Felicitas! Nicht eine Sekunde länger sollen Sie in diesem Hause des Verbrechens und der bodenlosen Selbstsucht bleiben,« sagte er tief erregt. »Lassen Sie einstweilen diese Sachen hier, Heinrich wird Ihnen morgen alles bringen.«
Sie warf ihren Shawl über und traf gleich darauf mit dem Professor in der Hausflur zusammen. Er nahm ihre Hand fest in seine Rechte und führte sie durch die Straßen. Am Hause der Hofrätin Frank läutete er.
»Ich bringe Ihnen einen Schützling,« sagte er zu der alten Dame, die das Paar im erleuchteten, trauten Wohnzimmer freundlich, aber erstaunt empfing. Er ergriff ihre Hand und legte die des jungen Mädchens hinein. »Ich vertraute Ihnen viel an, Mama,« fuhr er bedeutsam fort, »hüten und beschützen Sie mir Felicitas wie eine Tochter – bis ich sie von Ihnen zurückfordern werde.«