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Draußen streckte sie in namenloser Qual unwillkürlich die Arme gen Himmel. Wie hatte sie gelitten in den letzten Augenblicken, die an Bitterkeit und Schmerzen alles hinter sich ließen, was dies junge, schwergeprüfte Herz bereits hatte durchkämpfen müssen.
Sie zog wie unbewußt den kleinen Kasten hervor – das Geheimnis da drinnen zertrümmerte sofort die Schranke, die sich zwischen ihr und dem geliebten Manne auftürmte, es fiel schwer in die Wagschale ihrer verachteten Herkunft gegenüber – kam der Versucher nochmals über sie? Nein, Tante Cordula, dein Wille soll geschehen, so glänzend auch dies Buch dich rechtfertigt! Und er? . . . Ihn wird die Zeit heilen; der Schmerz der Entsagung heiligt die Seele – die Mitwissenschaft eines Verbrechens aber erniedrigt und lähmt sie für immer . . . Noch in dieser Stunde sollte dies kleine, unheilvolle Buch zu Asche werden! Felicitas sah noch einmal nach der Thür zurück, hinter welcher sie den Professor rastlos auf und ab gehen hörte, dann glitt sie die Mansardentreppe hinab und öffnete geräuschlos die gemalte Thür.
Den Wanderer, der ahnungslos auf den grauenvollen Leib einer Schlange tritt und plötzlich das furchtbare Haupt der Gereizten vor sich aufbäumen sieht, ihn kann kein größeres Entsetzen packen, als Felicitas in dem Augenblick empfand, wo sie in den Korridor heraustrat. Fünf Finger legten sich mit raschem Griff wie Eisen um ihre Linke, die noch den Kasten hielt, und dicht neben ihrem Gesicht funkelten zwei Augen in einem grünlichen Lichte – es waren die süßen, sanften Madonnenaugen der Regierungsrätin.
Das schöne Weib hatte in diesem Moment den bestrickenden Zauber weiblicher Anmut und Zartheit völlig abgestreift – wie konnten diese rosigen, im Gebet so weich und graziös sich verschlingenden Hände derb und energisch zugreifen und festhalten! Welcher Ausdruck satanischer Bosheit lag in diesem Engelsangesicht und verzerrte die kindlich weichen Linien bis zur Unkenntlichkeit!
»Das trifft sich ja scharmant, schöne, stolze Karoline, daß ich Ihnen gerade begegnen muß in dem Augenblick, wo Sie dies allerliebste Schmuckkästchen in Sicherheit bringen wollen!« rief sie hohnlachend und legte rasch auch noch ihre Linke wie einen Schraubstock auf die Hand des Mädchens, das sich loszureißen suchte. »Haben Sie die Freundlichkeit, diesen unglücklichen, kleinen Verräter da noch ein wenig in der Hand zu behalten – es liegt mir durchaus nichts daran, daß Sie ihn fallen lassen . . . Nur noch einen Moment Geduld; ich brauche einen Zeugen, um vor Gericht beweisen zu können, daß ich die Diebin auf frischer That ertappt habe – Johannes, Johannes!«
Wie klang es schrill und kreischend durch den Korridor, das sonst so silberreine, in Erbarmen und christlicher Milde hinschmelzende Organ der jungen Witwe!
»Ich bitte Sie um Gottes willen, lassen Sie mich los, gnädige Frau!« bat Felicitas in Todesangst, während sie mit ihr rang.
»Nicht um die Welt! Er soll sehen, wen er heute an seine Seite gestellt hat . . . Es war wohl recht süß, zu hören: ›Hier ist Ihr Platz?‹ Sie glaubten sich am Ziele, Sie ehrlose Kokette, aber ich bin auch noch da!«
Sie wiederholte ihren Hilferuf – es war unnötig; der Professor kam bereits die Treppe herab und trat in die Thür; zu gleicher Zeit erschien Heinrich am anderen Ende des Korridors.
»Ach, da oben warst du, Johannes?« rief die Regierungsrätin. »Ich glaubte dich hier unten im zweiten Stock. In dem Falle ist ja die Kunst dieser jungen Taschenspielerstocher um so mehr zu bewundern, als sie dir das Erbteil der seligen Tante sozusagen unter der Hand wegeskamotiert hat!«
»Bist du von Sinnen, Adele?« rief er rasch, die letzte Stufe verlassend, von wo aus er erstaunt die unbegreifliche Szene überblickt hatte.
»Ganz und gar nicht!« klang es ironisch zurück. »Halte mich nicht für gewalttätig, lieber Vetter, weil ich notgedrungen das Amt eines Häschers übernehmen mußte. Aber der Herr Rechtsanwalt Frank verweigerte mir indigniert seine Hilfe bei Entdeckung des Silberdiebes, du selber nahmst diese Unschuld hier unter deine Flügel – was blieb mir da anders übrig, als eigenmächtig zu handeln? Du siehst diese fünf Finger hier, sie umklammern den Kasten, den sie von da oben herabgetragen haben – diese Thatsache wäre konstatiert, und nun wollen wir sehen, was die Elster in ihr Nest tragen wollte!«
Sie riß mit Blitzesschnelle den Kasten aus Felicitas' Hand. Das junge Mädchen stieß einen Schrei aus und haschte angstvoll nach dem entrissenen Geheimnis, allein die Regierungsrätin flog auflachend mit dem Raube einige Schritte tiefer in den Korridor und hob in fieberhafter Hast den Deckel ab.
»Ein Buch!« murmelte sie bestürzt – Kasten und Deckel fielen zur Erde. Sie nahm den Einband mit beiden Händen, schüttelte das Buch heftig hin und her und ließ die Blätter von einander klaffen – es sollten und mußten doch wenigstens Banknoten oder Dokumente oder irgend etwas Wertvolles herausfallen – nichts von allem dem!
Unterdes hatte sich Felicitas von ihrem tödlichen Schrecken erholt. Sie ging der Dame nach und verlangte mit ernsten Worten das Buch zurück; aber bei aller scheinbaren Ruhe hörte man doch die innere Angst deutlich an ihrer Stimme.
»Ha – meinen Sie wirklich?« rief die junge Witwe hämisch und drehte ihr, das Buch fest an ihre Brust drückend, gewandt den Rücken zu. »Sie sehen mir viel zu ängstlich aus, als daß ich meinen Verdacht sofort aufgeben sollte,« fuhr sie fort, indem sie den Kopf verächtlich über die Schulter nach dem jungen Mädchen zurückbog. »Irgend eine Bewandtnis muß es mit dieser Geheimthuerei haben – lassen Sie uns einmal sehen, meine Kleine!«
Sie schlug das Buch auf – es waren keine Banknoten, keine Kostbarkeiten, die auf dem gelb gewordenen Blatte dalagen – nur Worte, zart und anmutig geschriebene Worte; aber wenn plötzlich aus diesem häßlichen Büchlein ein Dolch nach der Brust der jungen Witwe gezückt worden wäre, sie hätte nicht entsetzter und fassungsloser zurückschrecken können, als bei dem augenblicklichen Ueberfliegen dieser so harmlos aussehenden, über die aufgeschlagene Seite hingestreuten kleinen Worte! Das rosige Gesicht wurde weiß bis in die Lippen, sie legte instinktmäßig die Hand bedeckend über die stieren Augen, und die üppige Gestalt sah für einen Moment aus, als bedürfe sie einer Stütze, um nicht zusammenzubrechen.
Aber diese junge Frau hatte sich ja zeitlebens in der Selbstbeherrschung vor Zeugen geübt, um des Nimbus der Gottseligkeit willen. Sie hatte gelernt, die Augen fromm und madonnenhaft zum Himmel aufzuschlagen, ob auch ihr Herz in Groll und Rache schwoll; sie konnte mit tiefer Inbrunst einer Predigt zuhören, während ihre Seele bei einer neuen Toilette verweilte; sie sprach, wo sie konnte, empört und mit dem Rot der Entrüstung auf den Wangen über das sündhafte Treiben der Welt, über den nicht zu verzeihenden Mangel an Bibellesen und las heimlich die schlüpfrigsten französischen Romane.
Diese unglaubliche Biegsamkeit und Elastizität ihres äußeren Menschen hatte sich in entscheidenden Momenten stets bewährt, und auch jetzt bedurfte es kaum einiger Sekunden, um ihr die vollständigste Fassung zurückzugeben. Sie schlug das Buch zu, und ein vortrefflich gelungener Zug der Enttäuschung spielte um ihre blassen Lippen.
»Es ist wirklich eine elende, alte Scharteke!« rief sie nach dem Professor hinüber, während sie wie in halber Zerstreutheit das Buch in ihre Tasche schob. »Ich finde es sehr albern von Ihnen, Karoline, daß Sie um dieser Lappalie willen einen solchen Lärm veranlassen!«
» Sie hat diesen Lärm veranlaßt?« fragte der Professor rasch hinzutretend – er bebte vor innerer Aufregung. »Ich glaubte, du habest mich zu Hilfe gerufen, um dieses junge Mädchen vor Zeugen des Silberdiebstahls zu überführen! . . . Willst du wohl die Gewogenheit haben, deine nichtswürdige Anschuldigung hier auf dieser Stelle zu motivieren?«
»Du siehst, daß ich augenblicklich außer stande bin –«
»Augenblicklich?« unterbrach er sie heftig. »Du wirst dies kränkende Wort zurücknehmen und der Beleidigten in meiner und Heinrichs Gegenwart sofort volle Satisfaktion geben!«
»Mit tausend Freuden, lieber Johannes! Es ist ja Christenpflicht, einen Irrtum zu bekennen und gut zu machen . . . Meine beste Karoline, verzeihen Sie mir, ich habe Ihnen unrecht gethan!«
»Und nun gib das Buch zurück!« befahl der Professor kurz und unerbittlich weiter.
»Das Buch?« fragte sie mit ihrer völlig wiedergewonnenen, kindlich unschuldigen Miene. »Aber, liebster Johannes, es gehört ja gar nicht der Karoline.«
»Wer sagt dir denn das?«
»Nun, ich habe flüchtig den Namen der alten Tante Cordula darin gelesen! . . . Wenn jemand darüber zu verfügen hat, so bist du es, als Erbe ihrer Mobilien und Bücher . . . Es hat an sich nicht den geringsten materiellen Wert – wie es scheint, ist es eine Abschrift alter Dichtungen . . . Was wolltest du mit dem sentimentalen Zeuge da anfangen? Aber ich bin eine Freundin solcher alten, vergilbten Bücher – für mich ist es trotz seiner Unsauberkeit und Plumpheit eine Art Kabinettstück . . . Bitte, schenke es mir!«
»Vielleicht, nachdem ich's gesehen haben werde,« versetzte er kalt und achselzuckend und streckte die Hand aus, um das Buch in Empfang zu nehmen.
»Aber es würde ja dadurch gerade einen erhöhten Wert für mich erhalten, wenn du es mir unbesehen überlassen wolltest,« bat sie mit lieblich schmeichelnder Stimme weiter. »Müßte ich nicht denken, du hättest materielle Rücksichten bei diesem ersten und einzigen Geschenk, um das ich dich bitte?«
Eine dicke Zornader schwoll auf der Stirn des Professors. »Ich erkläre dir hiermit, daß es mir sehr gleichgültig ist, wie du über dieses mein Verhalten denkst,« sagte er schneidend . . . »Ich verlange unter allen Umständen das Buch zurück . . . Du bist mir sehr verdächtig! Die Abschrift irgend einer alten, sentimentalen Dichtung kann unmöglich die ›vollendete Weltdame‹ plötzlich so schreckensbleich gemacht haben.«
Mit diesen Worten vertrat er der Regierungsrätin den Weg; ihr ungewisser Blick, der mit Blitzesschnelle die Länge des Korridors durchmaß, und eine rasche Bewegung verrieten unwiderleglich, daß sie das Weite suchen wolle. Der Professor ergriff ihre Hand und hielt sie fest.
Felicitas geriet außer sich bei dem Gedanken, daß er seine Absicht erreichen werde. Es war ihr schrecklich, das Buch im Besitz der abscheulichen Heuchlerin zu wissen, aber sie mußte sich selbst sagen, daß es dort so sicher sei, wie in ihren Händen, und jedenfalls heute noch für immer spurlos verschwinden werde. Sie stellte sich deshalb an die Seite der Regierungsrätin, um ihr die Flucht zu erleichtern.
»Ich bitte, Herr Professor, lassen Sie der gnädigen Frau das Buch!« bat sie so ernst und ruhig, als es ihr in diesem kritischen Moment möglich war. »Sie wird sich beim Lesen desselben völlig überzeugen, daß es voreilig war, irgend eine Kostbarkeit in dem kleinen Kasten zu vermuten.«
Der erste mißtrauische Blick fiel aus den stahlgrauen Augen auf ihr Gesicht – es war, als träfe sie ein Messerstich; sie wurde flammendrot und schlug die Augen nieder.
»Also auch Sie lassen sich zu einer Bitte herbei?« fragte er scharf und sarkastisch. »Da handelt es sich ganz gewiß um mehr, als um ›sentimentales Zeug!‹ . . . Zudem erinnere ich mich, daß meine Kousine vorhin behauptete, Sie sähen sehr ängstlich aus, und ich gestehe, daß ich dieselbe Bemerkung gemacht habe . . . Ich frage Sie jetzt auch aufs Gewissen: Was enthält das Buch?«
Das war ein entsetzlicher Moment. Felicitas rang mit sich selbst; sie öffnete die Lippen, aber kein Laut wurde hörbar.
»Bemühen Sie sich nicht!« sagte er ironisch lächelnd zu dem jungen Mädchen, während er die Hand der Regierungsrätin fester zusammenpreßte, da sie verschiedene Manipulationen machte, um sich allmählich loszuwinden. »Sie können mitleidslos, rauh und entsetzlich aufrichtig sein, aber lügen können Sie nicht . . . Das Buch enthält also keine Dichtungen, sondern irgend eine Wahrheit, eine Thatsache, die ich um keinen Preis wissen soll . . . Wirst du endlich die Freundlichkeit haben, Adele, mir mein Eigentum, wie du es selbst genannt hast, herauszugeben?«
»Mache mit mir, was du willst, aber bekommen wirst du es nie!« rief mit verzweiflungsvoller Entschiedenheit die Regierungsrätin, die in ihrer Angst gänzlich aus der Rolle des harmlos bittenden Kindes fiel. Sie machte abermals verzweifelte Anstrengungen, sich loszureißen, und es gelang – sie floh wie gejagt; aber da stand Heinrich mit ausgespreizten Armen und Beinen wie eine Mauer und füllte den schmalen Korridor völlig aus. Sie prallte zurück. »Unverschämter Mensch, gehen Sie mir aus dem Wege!« schrie sie auf und stampfte außer sich mit dem Fuße.
»Ja wohl, gleich, gnädige Frau Regierungsrätin,« entgegnete er ruhig und höflich, ohne jedoch im geringsten seine Stellung zu verändern; »geben Sie nur erst das Büchelchen her, nachher will ich schon gern auf die Seite treten.«
»Heinrich!« rief Felicitas herbeispringend; sie rüttelte verzweiflungsvoll an seinem Arme. »Ach, das hilft dir nichts, Feechen!« schmunzelte er, als seine alten Knochen unter den ohnmächtigen Anstrengungen des jungen Mädchens eisenfest verharrten. »Ich bin nicht so auf den Kopf gefallen, wie du denkst – du möchtest aus purer Gutmütigkeit gern einen dummen Streich machen, und das leide ich nicht!«
»Laß die Dame vorüber, Heinrich!« gebot der Professor ernst. »Aber hiermit sollst du wissen, Adele, daß ich ohne weiteres den einzigen Weg einschlagen werde, der mir zu meinem Eigentum verhilft! Es kann mir niemand verwehren, anzunehmen, daß dies Buch wichtige Enthüllungen über den Nachlaß der Tante enthält – möglicherweise gibt es Aufschluß über verborgene Gelder –«
»Nein, nein!« beteuerte Felicitas, ihn unterbrechend.
»Es ist meine Sache, zu denken, was ich will!« versetzte er streng und unerbittlich, »und Sie sowohl wie Heinrich werden mir vor Gericht bezeugen, daß diese Dame hier ein vielleicht sehr bedeutendes Erbteil meiner Familie unterschlagen hat.«
Die Regierungsrätin fuhr empor, als habe sie eine Natter gebissen. Sie warf einen wilden Blick auf ihren unbeugsamen Peiniger, und jetzt kam die rasende Leidenschaftlichkeit über sie, mit der sie Taschentücher zerriß und Tassen zerschmetterte. Sie riß das Buch aus der Tasche und warf es ihm unter gellendem Hohngelächter vor die Füße.
»Da nimm es, du eigensinniger Thor!« rief sie, und ihr ganzer Körper bebte, als schüttele sie ein Krampf. »Ich gratuliere dir zu dem interessanten Schriftstück! . . . Trage die Schande, von der es dir erzählen wird, mit Würde!«
Sie flog durch den Korridor die Treppe hinab und warf unten die Zimmerthür schmetternd in das Schloß.
Der Professor sah der Regierungsrätin mit einem entschiedenen Ausdruck von lächelndem Hohn und tiefer Verachtung nach; dann betrachtete er einen Moment das plumpe Aeußere des Buches, während Felicitas' Blick in namenloser Angst an den Fingern hing, die sich zwischen die Blätter legten und sie jeden Augenblick aufschlagen konnten. Ein Gemisch von sorgenvollem Sinnen und peinlicher Spannung lag in seinen Zügen – die letzten verhängnisvollen Worte der Regierungsrätin hatten ihn nicht eigentlich frappiert, er hatte offenbar diese Entwickelung des widerwärtigen Vorganges vermutet; es handelte sich für ihn jedenfalls nur noch darum, welcher Art die geweissagte Schande sei . . . Plötzlich sah er auf und in die flehenden braunen Augen des jungen Mädchens – welche Gewalt hatten doch diese Augen über den strengen Mann! Es war, als streiche sofort eine sanfte Hand glättend über die finster gerunzelte Stirne, und um die Lippen zuckte es wie ein halbes Lächeln.
»Und nun werde ich über Sie Gericht halten!« hob er an. »Sie haben mich schmählich hintergangen. Während Sie mir da droben mit einer Aufrichtigkeit gegenüberstehen, auf die ich hätte schwören wollen, tragen Sie ein Hellwigsches Familiengeheimnis in der Tasche! . . . Was soll ich von Ihnen denken, Fee? . . . Sie können diese abscheuliche Falschheit nur wieder gut machen, wenn Sie ohne Rückhalt meine Fragen beantworten.«
»Ich will alles sagen, was ich darf, aber dann bitte ich Sie, ach, ich bitte Sie inständigst, geben Sie mir das Buch zurück!«
»Ist das wirklich meine stolze, trotzige, unbeugsame Fee, die so süß bitten kann?«
Bei diesen Worten des Professors entfernte sich Heinrich unbemerkt und wohlweislich, aber er setzte sich wie zum Tod erschrocken auf die erste Treppenstufe nieder und griff an seinen grauen Kopf, ob er nach dem Gehörten wirklich noch an der alten Stelle sitze.
»Sie sind also heute lediglich in die Mansardenwohnung eingedrungen, um dies Buch zu holen?« inquirierte der Professor.
»Ja.«
»Auf welchem Wege? – Ich fand alle Thüren fest verschlossen.«
»Ich bin über die Dächer gegangen,« versetzte sie zögernd.
»Das heißt, durch die Bodenräume?«
Sie wurde dunkelrot. War sie auch befreit von dem Verdachte einer gemeinen Handlung, so trug dieselbe immerhin das tadelnswerte Gepräge des Einbruchs.
»Nein,« sagte sie gedrückt, »durch die Bodenräume führt kein Weg, ich bin aus einem der gegenüberliegenden Mansardenfenster gestiegen und über die Dächer gegangen.«
»Bei diesem furchtbaren Sturm?« fuhr er erbleichend auf. »Felicitas, Sie sind entsetzlich in Ihren Konsequenzen!«
»Es blieb mir keine Wahl!« erwiderte sie bitter lächelnd.
»Und warum suchten Sie um jeden Preis in den Besitz des Buches zu gelangen?«
»Ich betrachtete es als ein heiliges Vermächtnis meiner Tante Cordula. Sie hatte mir gesagt, der kleine graue Kasten – seinen Inhalt kannte ich nicht – müsse vor ihr sterben. Der Tod überraschte sie, und ich hatte die feste Ueberzeugung, daß der Kasten nicht vernichtet sei; zudem stand er in dem Geheimfach, welches das sämtliche Silberzeug enthält, ich konnte dieses Versteck nicht angeben, ohne das Buch unbefugten Händen mit zu überliefern.«
»Armes, armes Kind, wie mögen Sie sich geängstigt haben! . . . Und nun ist all diese heroische Selbstverleugnung umsonst gewesen, das Buch ist doch in ›unbefugten Händen‹!«
»O nein, Sie werden es mir zurückgeben!« bat sie in Todesangst.
»Felicitas,« sagte er ernst und gebieterisch, »Sie werden mir jetzt streng der Wahrheit gemäß zwei Fragen beantworten. Kennen Sie den Inhalt genau?«
»Zum Teil, seit heute.«
»Und kompromittiert er Ihre alte Freundin?«
Sie schwieg unschlüssig. Vielleicht gab er ihr bei Bejahung dieser Frage das Buch behufs der Vernichtung zurück, aber dann beschimpfte sie Tante Cordulas Andenken und bestätigte die abscheulichen Gerüchte von ihrer vermeintlichen Schuld.
»Es ist Ihrer unwürdig, auf Ausflüchte zu sinnen, mag Ihre Absicht auch noch so gut und rein sein!« unterbrach er das momentane Schweigen streng. »Sagen Sie einfach ja oder nein!«
»Nein!«
»Ich wußte es,« murmelte er. »Und nun seien Sie verständig,« mahnte er, »und fügen Sie sich in das Unabänderliche, ich werde das Buch lesen!«
Sie wurde blaß wie der Tod, aber aufs Bitten verlegte sie sich nicht mehr. »Thun Sie das, wenn es sich mit Ihrer Ehre verträgt!« stieß sie hervor. »Sie legen Hand an ein Geheimnis, das Sie nicht wissen sollen . . . In dem Augenblick, wo Sie das Buch aufschlagen, nehmen Sie den furchtbarsten, fortgesetzten Opfern eines ganzen Frauenlebens allen Wert!«
»Sie kämpfen tapfer, Felicitas,« entgegnete er ruhig, »und wären die letzten Worte nicht, die jene Frau« – er deutete nach der Richtung, wo die Regierungsrätin verschwunden war – »in ihrer Raserei mir hingeworfen hat, so gäbe ich Ihnen das schlimme Geheimnis unbesehen zurück. So aber will und muß ich die Schande kennen, die auf meinem Namen liegt, und ist die arme Einsame in der Mansarde stark genug gewesen, sie vor fremden Augen zu hüten, so werde ich auch wohl die Kraft finden, sie zu ertragen . . . Ich bin doppelt gezwungen, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Linie Hellwig am Rhein ist offenbar im Mitbesitz des Geheimnisses und möglicherweise an irgend einer Büberei beteiligt – wenn Sie auch schweigen und die Augen niederschlagen, ich sehe doch deutlich an Ihrem Gesicht, daß ich richtig vermute – meine Kousine wußte ohne Zweifel um die Familienschande und war nur entsetzt, sie plötzlich niedergeschrieben zu finden . . . ich werde mit diesen Hehlern abrechnen! . . . Trösten Sie sich, Fee!« fuhr er weich und zärtlich fort und strich sanft mit der Hand über den Scheitel des jungen Mädchens, das in stummer Verzweiflung vor ihm stand. »Ich kann nicht anders handeln, und wenn mir als Preis die Versicherung geboten würde, daß Sie sofort die Meine werden wollten – ich müßte ›Nein‹ sagen!«
»Ich kann mich nie wieder beruhigen,« rief sie in ausbrechender Klage, »denn ich habe Sie unglücklich gemacht durch meine Unvorsichtigkeit!«
»Sie werden ruhig werden,« sagte er ernst und nachdrücklich, »wenn Sie einsehen lernen, daß Ihre Liebe mir alles überwinden hilft, was das Leben Schweres auf meinen Weg wirft!«
Er drückte ihre kleine, eiskalte Hand und ging in sein Zimmer. Felicitas aber preßte die heiße Stirne an das Fensterkreuz und starrte hinab in den Vorderhof, wo ein furchtbarer Gewitterregen mit solchem Ungestüm niederprasselte, als gelte es, das Blut des gemordeten Adrian Hirschsprung von den Steinplatten wegzuwaschen, und mit ihm den Schandflecken, der auf dem Namen Hellwig lastete.