Eugenie Marlitt
Das Geheimnis der alten Mamsell
Eugenie Marlitt

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25.

Felicitas schlug erschöpft das Buch zu – sie konnte nicht weiter lesen. Draußen pfiff und tobte es an den Fenstern vorüber, daß sie klangen und klirrten – was war dies Brausen gegen die Stürme in der Menschenbrust, von denen das Buch erzählte!

Tante Cordula, du bist gemartert und gekreuzigt worden! Die in dem gestohlenen Gut schwelgten, sie stellten sich auf den hohen Standpunkt angestammter Familientugend und Rechtschaffenheit; sie verstießen dich als eine Entartete, und die blinde Welt bestätigte diesen Urteilsspruch. Hoch droben in den Lüften standest du, verfemt und verlästert, und hinter den festgeschlossenen Lippen ruhte dein Geheimnis! Du riefst nicht Wehe über die Blinden da drunten – sie aßen gar oft dein Brot und erfaßten unbewußt deine rettende Hand in Not und Elend. Dein starker Geist erbaute sich seine eigene Welt, und das stille, versöhnliche Lächeln, das im Alter deine Züge verschönte, war der Sieg einer erhabenen Seele!

Welch ein Unding ist die öffentliche Meinung! Die Welt hat nichts Haltloseres, und doch darf sie tief und bestimmt eingreifen in das Schicksal der einzelnen! Leiden nicht Familien noch nach Jahren für ein einziges Glied, das die öffentliche Stimme gerichtet und verfemt hat, und gibt es nicht Geschlechter, die den Nimbus angestammter Tugend und Ehrbarkeit mühelos tragen, bloß weil ihr Name dem Volksmunde als »gut« geläufig ist? Wie viel unbestrafte Schurkerei hat die öffentliche Meinung auf dem Gewissen, und wie oft weint das stille Verdienst unter ihren blinden Fußstößen!

Die Familie Hellwig gehörte auch zu jenen Unantastbaren. Wenn einer gewagt hätte, den Finger aufzuheben gegen die stattlichste und stolzeste Erscheinung unter den Oelbildern der Erkerstube und zu sagen: »Das ist ein Dieb!« – er wäre gesteinigt worden vom großen Haufen. Und doch hatte er den armen Schustersohn um sein Erbe betrogen; er war gestorben, der Ehrenmann, mit dem Diebstahl auf dem Gewissen, und seine Nachkommen waren stolz auf den »sauer und redlich erworbenen« Reichtum des alten Handlungshauses . . . Wenn er das wüßte, wenn er einen Blick in dies Buch werfen könnte, er, der sein eigenes Wünschen derartigen »geheiligten« Traditionen unterwarf, der so lange den Satz festgehalten hatte, nach welchem Tugend und Laster, hoher Sinn und Gemeinheit sich an die Familie und deren Stellung, nicht aber an das einzelne Individuum knüpfen sollten! . . .

Felicitas streckte unwillkürlich die Rechte mit dem Buche wie triumphierend in die Höhe und ihre Augen funkelten . . . Was hinderte sie, diesen kleinen, grauen Kasten mit seinem furchtbaren Inhalt dort auf dem Schreibtisch liegen zu lassen? . . . Dann kommt er herein und setzt sich arglos in die traute, epheuumhangene Nische. Die wuchtige Stirne voll tiefer Gedanken, nimmt er die Feder auf, um an dem dort liegenden Manuskript weiterzuarbeiten . . . Da steht das kleine, unbekannte Etwas vor ihm – er hebt den Deckel auf, nimmt das Buch heraus und liest – und liest, bis er totenbleich zurücksinkt, bis die stahlgrauen Augen erlöschen unter der Wucht einer schreckensvollen Entdeckung . . . Dann ist sein stolzes Bewußtsein lebenslänglich geknickt. Er trägt im Verborgenen die Last der Schande . . . Will er die Annehmlichkeiten seines reichen Erbes genießen – es sind gestohlene Freuden; liest er seinen so gepriesenen Namen – es ruht ein häßlicher Flecken darauf . . . er ist innerlich gebrochen, gemordet für alle Zeiten, der stolze Mann! . . .

Buch und Kasten fielen schallend zur Erde, und ein heißer Thränenstrom stürzte aus Felicitas' Augen . . . »Nein, tausendmal lieber sterben, als ihm dies Leid anthun!« . . . War der Mund, der diese Worte bebend herausstieß, derselbe, welcher einst hier, zwischen diesen vier Wänden gesagt hatte. »Ich würde es nicht beklagen, wenn ihm ein Leid widerführe, und wenn ich ihm zu einem Glücke verhelfen könnte, ich würde keinen Finger bewegen!« War das wirklich noch der alte, wilde Haß, der sie weinen machte, der ihr Herz mit unsäglichem Weh erfüllte bei dem Gedanken, er könne leiden? War es Abscheu, das süße Gefühl, mit welchem sie plötzlich seine kraftvolle, männliche Gestalt vor sich heraufbeschwor, und hatte die glückselige Genugtuung, daß sie berufen sei, die Hände schützend über seinem Haupte zu halten, ihn vor einer niederschmetternden Erfahrung zu bewahren, noch etwas gemein mit dem häßlichen Gefühl der Rache? . . . Haß, Abscheu und Rachedurst – sie waren spurlos verlöscht in ihrer Seele! . . . Wehe, sie hatte ihr Steuer verloren! . . . Sie taumelte zurück und schlug die Hände vor das Gesicht – der geheimnisvolle Zwiespalt ihres Herzens lag gelöst vor ihr, aber nicht unter jenem Lichte einer himmlischen Erkenntnis, das plötzlich ungeahnte, lachende Gefilde bestrahlt – es war ein grelles Wetterleuchten, in welchem ein Abgrund zu ihren Füßen sichtbar wurde . . .

Fort, fort – es hielt sie nichts mehr! Noch einmal den Weg über die Dächer zurück, dann den letzten eilenden Schritt über die Schwelle des Hellwigschen Hauses, und sie war frei, sie war entflohen auf Nimmerwiedersehen!

Sie raffte das Buch auf und schob es in ihre Tasche – aber da stand sie mit zur Flucht gehobenem Fuße und zurückgehaltenem Atem einen Moment wie versteinert – draußen im Vorsaal war eine Thür zugeschlagen worden, und jetzt schritt es rasch auf das Wohnzimmer zu. Sie floh in den Vorbau und riß die Glasthür auf – der Sturm fuhr herein und schleuderte ihr einzelne große Regentropfen in das Gesicht . . . Ihre Augen irrten über das Dächerquadrat, da hinüber kam sie nicht mehr, dort mußte sie gesehen werden – ihre einzige Rettung war ein augenblickliches Versteck.

Zwischen der Vorbauwand und den Blumentöpfen lief ein schmaler, unbesetzter Raum empor. Felicitas flüchtete hinauf und erfaßte droben taumelnd und mit versagenden Blicken die Eisenstange des Blitzableiters, der sich über den First hinzog. Sie stand hoch über dem Vorbau . . . Hei, wie der Sturm die zarte Gestalt packte und schüttelte, wie er in erneutem Ingrimm versuchte, sie hinabzustoßen in die Straße, die wie ein dunkler Spalt jenseits herauf klaffte . . . Ueber den Himmel hin brausten die schwarzen Gewitterwolken – war kein Engel droben über der kochenden, gärenden Wetterwand, der seine Hände schirmend herniederstreckte auf die mit der furchtbarsten Gefahr Ringende?

Wer es auch sein mochte, der in diesem Augenblick heraustrat auf die Galerie, das Mädchen da droben stand als Diebin gebrandmarkt vor ihm . . . Sie war in verschlossene Räume eingedrungen – die ganze Welt nannte das Einbruch; schon hatte man die Anklage, daß sie um den Silberdiebstahl wisse, auf ihr Haupt geschleudert – jetzt lag ihre Schuld sonnenklar am Tage! Sie wanderte nicht mehr freiwillig über die Schwelle des alten Kaufmannshauses, sie wurde hinausgestoßen als Entehrte, und wie Tante Cordula mußte sie fortan mit festgeschlossenen Lippen Schimpf und Schmach unverschuldet durchs Leben tragen . . . War es da so schrecklich, wenn sie sich dem Arme des Sturmes willig überließ und nach wenigen qualvollen Augenblicken ihr junges Leben drunten auf dem Straßenpflaster aushauchte? . . .

Mit wirren Blicken starrte sie hinab auf das vorspringende Dach des Vorbaues – die Person unten blieb nicht vor der Glasthür stehen – Felicitas' letzte verzweifelte Hoffnung – sie schritt, trotz Sturm und Wetter, weiter und weiter auf der Galerie, und jetzt wurde die Gestalt sichtbar – es war der Professor . . . Hatte er die fliehenden Schritte des Mädchens gehört? – Noch kehrte er ihr den Rücken, noch war es möglich, daß er zurückging, ohne sie gesehen zu haben – aber da kam der Sturm, der Verräter; er zwang den Professor, sich umzudrehen, und ließ in dem Augenblick Haar und Gewand der Flüchtigen wild aufflattern – und er erblickte die Gestalt mit den krampfhaft um das Eisen geschlungenen Armen und dem geisterhaften Gesicht, das aus den wogenden Haarmassen verzweiflungsvoll auf ihn niedersah.

Einen Augenblick war es, als gerinne ihr unter dem entsetzten Blick, der sie traf, das Blut in den Adern; dann aber schoß es siedend nach dem Kopfe und raubte ihr den letzten Rest von Besonnenheit.

»Ja, da steht die Diebin! Holen Sie das Gericht, holen Sie Frau Hellwig! Ich bin überführt!« rief sie unter bitterem Auflachen hinab. Sie ließ mit der Linken die Eisenstange los und warf das Haar zurück, das ihr der Sturm über das Gesicht peitschte.

»Um Gottes willen,« schrie der Professor auf, »fassen Sie die Stange – Sie sind verloren!«

»Wohl mir, wenn's vorüber wäre!« klang es schneidend durch das Brausen und Pfeifen.

Er sah den schmalen Raum nicht, auf welchem Felicitas emporgeklimmt war. In wenig Augenblicken hatte er die Blumentöpfe herabgeschleudert und sich einen Weg gebahnt, und da stand er plötzlich neben ihr. Er umschlang mit unwiderstehlicher Kraft die widerstrebende Gestalt und zog sie herab in den Vorbau – krachend fiel die Thür hinter ihnen in das Schloß.

Der starke, mutige Geist des Mädchens war gebrochen – völlig betäubt, wußte sie nicht, daß ihr vermeintlicher Widersacher sie noch stützte; sie hatte die Augen geschlossen und sah nicht, wie sein Blick tiefsinnig auf ihrem bleichen Gesicht ruhte. »Felicitas,« flüsterte er mit tiefer, bittender Stimme.

Sie fuhr empor und begriff sofort ihre Lage. Aller Groll, alle Bitterkeit, an denen sich ihre Seele jahrelang genährt, kamen nochmals über sie – sie riß sich heftig los, und da war er wieder, der dämonische Ausdruck, der eine tiefe Falte zwischen ihre Augenbrauen grub und die Mundwinkel in herben Linien umzog!

»Wie mögen Sie die Paria anrühren?« rief sie schneidend. Aber ihre hochaufgerichtete Gestalt sank sofort wieder in sich zusammen; sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und murmelte grollend: »Nun, so verhören Sie mich doch – Sie werden zufrieden sein mit meinen Aussagen!«

Er nahm ihre Hände sanft zwischen die seinen.

»Vor allem werden Sie ruhiger, Felicitas!« sagte er in jenen weichen, beschwichtigenden Tönen, die sie schon am Bette des kranken Kindes wider Willen bewegt hatten. »Nicht den wilden Trotz, mit dem Sie mich geflissentlich zu verletzen suchen! . . . Sehen Sie sich um, wo wir sind! Hier haben Sie als Kind gespielt, nicht wahr? . . . Hier hat Ihnen die Einsiedlerin, für die Sie heute so heiß gekämpft haben, Schutz, Belehrung und Liebe gewährt? . . . Was Sie auch hier gethan oder gesucht haben mögen – es ist kein Unrecht gewesen, ich weiß es, Felicitas! Sie sind trotzig, verbittert und über die Maßen stolz, und diese Eigenschaften verleiten Sie oft zur Ungerechtigkeit und Härte – aber einer gemeinen Handlung sind Sie nicht fähig . . . Ich weiß nicht, wie es kam, aber es war mir, als müsse ich Sie hier oben finden – Heinrichs scheues, verlegenes Gesicht, sein unwillkürlicher Blick nach der Treppe, als ich nach Ihnen fragte, bestärkten mich in meiner Annahme . . . Sagen Sie kein Wort!« fuhr er mit erhobener Stimme fort, als sie ihre heißen Augen rasch zu ihm aufschlug und die Lippen öffnete. »Verhören will ich Sie freilich, aber in einem ganz anderen Sinne, als Sie denken – und ich glaube, ich habe ein Recht dazu, nachdem ich durch Sturm und Wetter geschritten bin, um mir meine Tanne herabzuholen.«

Er zog sie tiefer in das Zimmer hinein – schien es doch, als sei es ihm zu hell im Vorbau, als bedürfe er der halben Dämmerung des Wohnzimmers, um weiter sprechen zu können. Felicitas fühlte, wie ein leises Beben durch seine Hände ging. Sie standen genau auf der Stelle, wo sie vorhin einen furchtbaren Kampf mit sich selbst gekämpft hatte, wo sie versucht gewesen war, ihm einen Dolch in das Herz zu stoßen, ihn moralisch zu lähmen für seine ganze Lebenszeit . . . Sie senkte den Kopf tief auf die Brust, als eine Schuldbewußte, unter den Augen, die, sonst so tiefernst, jetzt eine wunderbare Glut ausstrahlten.

»Felicitas, wenn Sie hinabgestürzt wären!« hob er wieder an, und es war, als liefe noch bei dieser Vorstellung ein Schauder durch seine kräftige Gestalt. »Soll ich Ihnen sagen, was Sie mir angethan haben durch diesen verzweifelten Trotz, der lieber zu Grunde geht, als daß er an das vernünftige Urteil anderer appelliert? Und meinen Sie nicht, daß ein Augenblick voll Todesangst und namenloser Leiden ein jahrelanges Unrecht zu sühnen vermag?«

Er hielt erwartungsvoll inne, aber die erblaßten Lippen des jungen Mädchens blieben geschlossen, und ihre dunklen Wimpern lagen tief auf den Wangen.

»Sie haben sich in Ihre bittere Anschauungsweise förmlich verrannt,« sagte er nach vergeblichem Warten herb und mit sinkender Stimme, der man die Entmutigung abhörte; »es ist Ihnen geradezu unmöglich, eine Wandlung der Dinge zu begreifen.« Er hatte ihre Hände sinken lassen, aber jetzt nahm er nochmals ihre Rechte und zog sie heftig gegen seine Brust. »Felicitas, Sie sagten neulich, daß Sie Ihre Mutter vergöttert haben – diese Mutter hat Sie ›Fee‹ genannt; ich weiß, alle, die Sie lieben, geben Ihnen diesen Namen, und so will auch ich sagen :›Fee, ich suche Versöhnung!‹«

»Ich habe keinen Groll mehr!« stieß sie mit erstickter Stimme hervor.

»Das ist eine vielsagende Versicherung aus Ihrem Munde, sie übertrifft meine Erwartungen, allein – sie genügt mir noch lange nicht . . . Was hilft es, wenn zwei sich versöhnen und dann auf Nimmerwiedersehen scheiden? Was hilft es mir, daß ich weiß, Sie grollen mir nicht mehr, und ich kann mich nicht stündlich davon überzeugen? . . . Wenn zwei sich versöhnt haben, die so getrennt gewesen sind wie wir, dann gehören sie zusammen – auch nicht eine Meile Raum dulde ich ferner zwischen uns – gehen Sie mit mir, Fee!«

»Ich habe Abscheu vor dem Aufenthalte in einem Institut – ich könnte mich nie in die schablonenmäßige Behandlung fügen,« antwortete sie hastig und gepreßt.

Der Anflug eines Lächelns glitt über sein Gesicht.

»Ach, das möchte ich Ihnen auch nicht anthun! . . . Die Idee mit dem Institut war nur ein Notbehelf, Fee. Ich selbst wäre dann ziemlich ebenso übel daran . . . Es könnte sich ereignen, daß ich Sie einen, auch zwei Tage nicht sehen dürfte, und dann stände ein Dutzend naseweiser Mitschülerinnen um uns her und finge jedes Wort auf, das zwischen uns fiel; oder Frau von Berg, die strenge Vorsteherin, säße daneben und duldete nicht, daß ich auch nur einmal diese kleine Hand in der meinigen behielt . . . Nein, ich muß zu jeder Stunde in dies liebe, trotzige Gesicht da sehen dürfen – ich muß wissen, daß da, wohin ich nach den Anstrengungen meines Berufes zurückkehre, meine Fee auf mich wartet und an mich denkt – ich muß am stillen, trauten Abend inmitten meiner vier Wände bitten dürfen: ›Fee, ein Lied!‹ Das alles aber kann nur geschehen, wenn – Sie mein Weib sind!«

Felicitas stieß einen Schrei aus und versuchte sich loszureißen; aber er hielt sie fest und zog sie näher an sich heran.

»Der Gedanke erschreckt Sie, Felicitas!« sagte er tief erregt. »Ich will hoffen, daß es nur der Schreck des Unerwarteten ist und nichts Schlimmeres . . . Ich sage ja mir selbst, daß es vielleicht langer Zeit bedürfen wird, ehe Sie mir das sein können, was ich ersehne – gerade bei Ihrem Charakter läßt sich eine so rasche Wandlung schwer annehmen, nach welcher der ›verabscheute Todfeind‹ ein Gegenstand inniger Neigung werden soll. Aber ich will um Sie werben mit aller Ausdauer einer unvergänglichen Liebe; ich will warten – so schwer dies auch sein mag – bis Sie mir einst aus eigenem Antriebe sagen: ›Ich will, Johannes!‹ Ich weiß ja, welche Wunder im Menschenherzen vorgehen können. Ich floh aus der kleinen Stadt, um mir selbst und meinen furchtbaren inneren Kämpfen zu entrinnen, und da vollzog sich das Wunder erst recht! Der qualvollsten Sehnsucht gegenüber zerfielen diese Kämpfe in nichts; ich wußte nun, daß das, was ich vermessen und trotzig abschütteln wollte, meines Lebens Seligkeit werden würde . . . Fee, inmitten nichtssagenden Geschwätzes und koketter Gesichter schritt das einsame Mädchen mit der energischen Haltung und der weißen Stirne voll kraftvoller Gedanken unablässig neben mir her, über Berg und Thal – sie gehörte zu mir, sie war die andere Hälfte meines Lebens, ich sah ein, daß ich mich nicht von ihr losreißen könne, ohne mich innerlich zu verbluten! . . . Und nun ein einziges Wort der Beruhigung, Felicitas!«

Das junge Mädchen hatte allmählich ihre Hand aus der seinigen gezogen. Wie war es möglich, daß ihm, während er sprach, die Veränderung in ihrem Aeußeren entgehen konnte! Die Brauen wie in heftigem, physischem Schmerz zusammengezogen, haftete ihr erloschener Blick längst am Boden, und die eiskalten Finger verschlangen sich krampfhaft ineinander.

»Beruhigung wollen Sie von mir?« versetzte sie mit schwacher Stimme. »Vor einer Stunde haben Sie mir gesagt: ›Das soll Ihr letzter Kampf gewesen sein‹, und jetzt schleudern Sie mich mit eigener Hand in den entsetzlichsten, den die Menschenseele durchzumachen hat! . . . Was ist ein Kampf wider äußere Feinde gegen das Ringen mit sich selbst und den eigenen Wünschen?« Sie hob die festverschlungenen Hände empor und warf wie in Verzweiflung den Kopf zurück. »Ich weiß nicht, was ich verbrochen habe, daß Gott mir diese unselige Liebe ins Herz gelegt hat!«

»Fee!«

Der Professor breitete seine Arme aus, um sie an seine Brust zu ziehen, aber sie streckte ihm abwehrend die Hände entgegen, wenngleich ein Schimmer der Verklärung über ihr Gesicht flog. »Ja, ich liebe Sie – das sollen Sie wissen!« wiederholte sie in Tönen, die zwischen Jauchzen und Thränen schwankten. »Ich würde schon in diesem Augenblick sagen können: ›Ich will, Johannes!‹ aber diese Worte werden nie ausgesprochen werden!«

Er wich zurück und Leichenblässe bedeckte sein Gesicht; er kannte »das Mädchen mit der energischen Haltung und der weißen Stirne voll kraftvoller Gedanken« viel zu gut, um nicht zu wissen, daß sie mit diesem Ausspruch für ihn verloren sei.

»Sie sind geflohen aus X., und warum?« hob sie fester an; sie richtete sich empor, und einer ihrer durchdringendsten Blicke traf die Augen, aus denen plötzlich alles Leben entwichen schien. »Ich will es Ihnen sagen. Ihre Liebe zu mir war ein Verbrechen gegen Ihre Familie, sie stieß alle Ihre wohlgepflegten Grundsätze um und mußte deshalb wie ein Unkraut aus Ihrem Herzen gerissen werden. Daß Sie von Ihrer Flucht nicht geheilt zurückgekehrt sind, ist nicht Ihre Schuld – Sie unterlagen derselben Macht, die auch mich zwingt, Sie gegen meine Grundsätze zu lieben . . . Wohl mag es ein erbitterter Kampf gewesen sein, bis alle die stolzen Kauf- und Handelsherren dem verachteten Spielerskinde Platz gemacht haben – nichts in der Welt wird mich glauben machen, daß ich diesen Platz für meine ganze Lebenszeit behaupten werde! . . . Sie haben mir vor wenigen Wochen die unerschütterliche Ueberzeugung ausgesprochen, daß die Standesverschiedenheit in der Ehe sich unausbleiblich räche – dieses Prinzip haben Sie Gott weiß wie viele Jahre hindurch festgehalten, es kann unmöglich in den sechs Wochen sich spurlos verflüchtigt haben, es ist nur übertüncht, es wird nur verleugnet – und selbst wenn es einer anderen Ueberzeugung gewichen wäre, was müßte alles geschehen, um die Erinnerung an diesen Ausspruch in meiner Seele zu verlöschen!«

Sie schwieg einen Augenblick erschöpft. Der Professor hatte die Rechte auf die Augen gepreßt, und um seine Lippen zuckte es wie ein leichter Krampf. Jetzt ließ er die Hand sinken und sagte tonlos. »Ich habe die Vergangenheit gegen mich – aber Sie sind doch im Irrtum, Felicitas . . . O Gott, wie soll ich Ihnen das beweisen!«

»In den äußeren Verhältnissen hat sich nicht das mindeste geändert,« fuhr sie unerbittlich fort. »Es ist weder ein Flecken auf Ihre Familie gefallen, noch bin ich irgendwie meinem verachteten Standpunkte entrückt – meine Persönlichkeit ist es mithin allein, welche diese Umkehr bewirkt hat – es wäre vermessen und gewissenlos von mir, wollte ich den Moment benutzen, wo Sie die mit Ihnen festverwachsenen Prinzipien mühsam niederhalten und nur Ihrer Liebe Gehör geben . . . Ich frage Sie aufs Gewissen. Nicht wahr, Sie haben eine sehr hohe Meinung von der Vergangenheit Ihrer Familie? . . . Und haben Sie sich auch nur einen Augenblick einzureden vermocht, daß diese Vorfahren, die sämtlich standesgemäß gewählt hatten, eine solche Mißheirat ihres Enkels billigen würden?«

»Felicitas, Sie sagen, Sie lieben mich, und sind fähig, mich so systematisch zu martern?« rief er heftig.

Ihr Blick, der unverwandt auf seinem Gesicht geruht hatte, schmolz – wer hätte in diesen stolzen, zurückweisenden Augen den Ausdruck unbeschreiblicher Zärtlichkeit gesucht, der sie jetzt beseelte! Sie nahm die Rechte des Professors in ihre beiden Hände.

»Als Sie mir vorhin das Leben an Ihrer Seite schilderten, da habe ich mehr gelitten, als sich aussprechen läßt,« sagte sie in tiefster Bewegung; »es würden vielleicht hundert andere an meiner Stelle die Augen vor der Zukunft verschließen und nach diesem augenblicklichen Glück greifen, aber so wie ich einmal bin, kann ich das nicht . . . Das, was lebenslänglich zwischen uns stehen wird, ist meine Furcht vor Ihrer Reue. Bei jedem finsteren Blick, bei jeder Falte auf Ihrer Stirne würde ich denken: ›Jetzt ist der Augenblick da, wo er bedauert, wo er umkehrt zu seinen ursprünglichen Ansichten, wo er dich innerlich verstößt als die Ursache seines Abfalles!‹ Ich würde Sie unglücklich machen mit diesem Mißtrauen, das ich nicht besiegen könnte.«

»Das ist eine furchtbare Wiedervergeltung!« sagte er dumpf und schmerzlich. »Uebrigens will ich dies Unglück getrost auf mich nehmen . . . Ich will Ihr Mißtrauen ohne Murren ertragen, so tief verwundend es auch ist – es muß ja doch einmal eine Zeit kommen, wo es hell zwischen uns wird . . . Felicitas, ich werde Ihnen eine Häuslichkeit schaffen, in der Ihnen so böse Gedanken gar nicht kommen können. Freilich wird es sich ereignen, daß ich manche Falte auf der Stirne, manch' finsteren Blick mit nach Hause bringe – die sind unausbleiblich in meinem Wirkungskreise – aber dann ist ja eben meine Fee da, die sofort die Falten verwischt und den Blick aufhellt . . . Könnten Sie es wirklich über das Herz bringen, Ihre eigene Liebe zu zertreten und einen Mann, dem Sie das höchste Erdenglück zu geben vermögen, elend zu machen?«

Felicitas war allmählich nach der Thür zugeschritten, sie fühlte ihre moralische Kraft treulos werden dieser angstvollen Beredsamkeit gegenüber, und doch mußte sie fest bleiben gerade um seinetwillen.

»Wenn Sie mit mir in Abgeschiedenheit und Einsamkeit leben könnten, dann würde ich Ihnen willig folgen,« entgegnete sie, während sie hastig das Thürschloß ergriff, als sei es ihr letzter Halt. »Glauben Sie nicht, daß ich die Welt selbst und ihr Urteil scheue – sie urteilt meist blind und einsichtslos – aber im Verkehr mit ihr fürchte ich eben den Feind in Ihnen selbst. Dort gilt eine ›respektable‹ Herkunft sehr viel, und ich weiß, daß Sie darin mit der Welt harmonieren . . . Sie haben einen bedeutenden Familienstolz – wenn Sie ihm auch in diesem Augenblick kein Recht einräumen – im Umgange mit solchen Bevorzugten wird und muß Ihnen früher oder später der bedauernde Gedanke kommen, daß Sie viel, sehr viel für mich aufgegeben haben.«

»Das heißt also mit anderen Worten, wenn ich Sie besitzen will, dann muß ich entweder meinen Wirkungskreis aufgeben und in einer Einöde leben, oder irgend einen Flecken, einen unwürdigen Moment aus der Vergangenheit meiner Familie aufzufinden suchen!« rief er gereizt und bitter.

Eine jähe Röte stieg bei seinen letzten Worten in das Gesicht des jungen Mädchens. Unwillkürlich glitt ihre Hand über die Falten ihres Kleides und befühlte die scharfen Ecken des grauen Kastens, ob er auch sicher sei in seinem Versteck.

Der Professor durchmaß in unbeschreiblicher Aufregung das Zimmer.

»Das trotzige, unbeugsame Element in Ihrem Charakter hat mir bereits viel zu schaffen gemacht,« fuhr er in demselben Tone fort, indem er vor Felicitas stehen blieb, »es zieht mich an und erbittert mich zugleich; in diesem Augenblick jedoch, wo Sie mit rauher Konsequenz mir meine Liebe vor die Füße werfen und sich selbst zu einem so unnützen Opfer verurteilen, fühle ich geradezu eine Art Haß, einen wilden Ingrimm – ich könnte es zertreten! . . . Ich sehe ein, daß ich für jetzt nicht um einen Schritt weiter mit Ihnen komme – aber Sie aufgeben, daran denkt meine Seele nicht! . . . Ihre Versicherung, daß Sie mich lieben, ist für mich ein unverbrüchlicher Schwur – Sie werden mir niemals treulos werden, Felicitas?«

»Nein,« versetzte sie rasch, und wohl gegen ihren Willen brach abermals ein voller Strahl der Liebe aus ihren Augen.

Der Professor legte seine Hand auf den Scheitel des jungen Mädchens, bog ihren Kopf leicht zurück und sah ihr mit einem Gemisch von Schmerz, Groll und Leidenschaft in das Gesicht . . . Er schüttelte leise den Kopf, als unter diesem beschwörenden Blicke ihre Wimpern sich tief auf die Wangen legten und die Lippen festgeschlossen blieben – ein tiefer Seufzer hob seine Brust.

»Nun, da gehen Sie!« sagte er gepreßt und tonlos. »Ich willige in eine vorläufige Trennung, aber nur unter der Bedingung, daß ich Sie öfter sehen darf, wo Sie auch sein mögen, und daß ein schriftlicher Verkehr zwischen uns bleibt.«

Sie schalt sich innerlich unsäglich schwach, daß sie ihm zusagend die Hand hinreichte, doch ihm diesen Trost zu nehmen, vermochte sie nicht . . . Er wandte sich rasch ab, und sie trat hinaus in den Vorsaal.


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