Eugenie Marlitt
Das Geheimnis der alten Mamsell
Eugenie Marlitt

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4.

Unterdes stellte Friederike einen kleinen Zinnteller mit einem Kinder-Eßbesteck und einer frischen Serviette auf den Tisch. Zugleich klingelte es draußen, und gleich darauf öffnete Heinrich die Zimmerthür und ließ einen kleinen, ungefähr siebenjährigen Knaben eintreten.

»Guten Abend, Papa!« rief der Kleine und schleuderte die Schneeflocken von seiner Pelzmütze.

Hellwig nahm den blonden Kopf seines Kindes zärtlich zwischen seine Hände und küßte es auf die Stirn.

»Guten Abend, mein Junge,« sagte er; »nun, war es hübsch bei deinem kleinen Freunde?«

»Ja; aber der dumme Heinrich hat mich viel zu früh geholt.«

»Das hat die Mama so gewünscht, mein Kind . . . Komm her, Nathanael, sieh dir einmal dies kleine Mädchen an – es heißt Fee –«

»Dummheit! . . . wie kann sie denn ›Fee‹ heißen – das ist ja gar kein Name!«

Hellwigs Auge streifte gerührt über das kleine Geschöpfchen, das Elternzärtlichkeit selbst mittels des Rufnamens poetisch zu verklären gesucht hatte.

»Ihr Mütterchen hat sie so genannt, Nathanael,« sagte er weich; »sie heißt eigentlich Felicitas . . . Ist sie nicht ein armes, armes Ding? Ihre Mama ist heute begraben worden; sie wird nun bei uns wohnen, und du wirst sie lieb haben, wie ein Schwesterchen, gelt?«

»Nein, Papa, ich will kein Schwesterchen haben.«

Der Knabe war das treue Abbild seiner Mutter. Er hatte schöne Züge und einen merkwürdig klaren rosigen Teint; aber er hatte auch die häßliche Gewohnheit, das Kinn auf die Brust zu drücken und mit seinen großen Augen unter der gewölbten Stirn hervor nach oben zu schielen, was ihm einen Ausdruck von Heimtücke und Verschlagenheit gab. In diesem Augenblicke bog er den Kopf noch tiefer als sonst gegen die Brust, hob den rechten Ellbogen wie zu trotziger Abwehr in die Höhe und sah unter demselben mit einem bösartigen Ausdrucke nach dem Kinde hinüber.

Die Kleine stand dort und zog und zerrte verlegen an ihrem Röckchen; der bedeutend größere Junge imponierte ihr offenbar, aber allmählich kam sie näher, und ohne sich durch seine gehässige Stellung abschrecken zu lassen, griff sie mit leuchtenden Augen nach dem Kindersäbel, der an seinem Gürtel hing. Er stieß sie zornig zurück und lief seiner Mutter entgegen, die eben wieder eintrat.

»Ich will aber kein Schwesterchen haben!« wiederholte er weinerlich. »Mama, schicke das ungezogene Mädchen fort; ich will allein sein bei dir und dem Papa!«

Frau Hellwig zuckte schweigend die Achseln und trat hinter ihren Stuhl am Eßtische.

»Bete, Nathanael!« gebot sie eintönig und faltete die Hände. Sofort fuhren die zehn Finger des Knaben ineinander; er senkte demütig den Kopf und sprach ein langes Tischgebet . . . Unter den obwaltenden Umständen war dies Gebet die abscheulichste Profanation einer schönen christlichen Sitte.

Der Hausherr rührte das Essen nicht an. Auf seiner sonst so blassen Stirn lag die Röte innerer Aufregung, und während er mechanisch mit der Gabel spielte, flog sein getrübter Blick unruhig über die mürrischen Gesichter der Seinen. Das kleine Mädchen ließ es sich dagegen vortrefflich schmecken. Sie steckte einige Bonbons, die er neben ihren Teller gelegt hatte, gewissenhaft in ihr Täschchen.

»Das ist für Mama,« sagte sie zutraulich; »die ißt Bonbons zu gern; Papa bringt ihr immer ganze große Düten voll mit.«

»Du hast gar keine Mama!« rief Nathanael feindselig herüber.

»O, das weißt du ja gar nicht!« entgegnete die Kleine sehr aufgeregt. »Ich habe eine viel schönere Mama, als du!«

Hellwig sah tieferschrocken und scheu nach seiner Frau, und seine Hand hob sich unwillkürlich, als wollte sie sich auf den kleinen rosigen Mund legen, der das eigene Interesse so schlecht zu wahren verstand.

»Hast du für ein Bettchen gesorgt, Brigittchen?« fragte er hastig, aber mit sanfter, bittender Stimme.

»Ja.«

»Und wo wird sie schlafen?«

»Bei Friederike.«

»Wäre nicht so viel Platz – wenigstens für die erste Zeit – in unserem Schlafzimmer?«

»Wenn du Nathanaels Bett hinausschaffen willst, ja.«

Er wandte sich empört ab und rief das Dienstmädchen herein.

»Friederike,« sagte er, »du wirst des Nachts dies Kind unter deiner Obhut haben – sei gut und freundlich mit ihm; es ist eine arme Waise und an die Zärtlichkeit einer guten, sanften Mutter gewöhnt.«

»Ich werde dem Mädchen nichts in den Weg legen, Herr Hellwig,« entgegnete die Alte, die offenbar gehorcht hatte; »aber ich bin ehrlicher Leute Kind und hab' in meinem ganzen Leben nichts mit Spielersleuten zu schaffen gehabt – wenn man nur wenigstens wüßte, ob die Menschen getraut gewesen sind.«

Sie schielte hinüber nach Frau Hellwig und erwartete ohne Zweifel einen belobenden Blick für ihre »herzhafte« Antwort, allein die Madame band eben Nathanael die Serviette ab und sah überhaupt drein, als sehe und höre sie von dem ganzen Handel nichts.

»Das ist stark!« rief Hellwig entrüstet. »Muß ich denn erst heute erfahren, daß in meinem ganzen Hause weder Mitleiden noch Erbarmen zu finden ist? Und Du meinst, du dürftest unbarmherzig sein, weil du ehrlicher Leute Kind bist, Friederike? . . . Nun, zu deiner Beruhigung sollst du wissen, daß die Leute in rechtlicher Ehe gelebt haben; aber ich sage dir auch hiermit, daß ich von nun an sehr streng mit dir verfahren werde, sobald ich merke, daß du dem Kinde irgendwie zu nahe trittst.«

Es schien, als sei er des Kampfes müde. Er stand auf und trug die Kleine in die Kammer der Köchin. Sie ließ sich gutwillig zu Bett bringen und schlief bald ein, nachdem sie mit süßer Stimme für Papa und Mama, für den guten Onkel, der sie morgen wieder zu Mama tragen werde, und – für »die große Frau mit dem bösen Gesichte« gebetet hatte.

Spät in der Nacht ging Friederike zu Bett. Sie war zornig, daß sie so lange hatte aufbleiben müssen, und rumorte rücksichtslos in der Kammer. Die kleine Felicitas fuhr jäh aus dem Schlafe empor; sie setzte sich im Bette auf, strich die wirren Locken aus der Stirn, und ihre Augen glitten angstvoll suchend über die räucherigen Wände und dürftigen Möbel der engen, schwach beleuchteten Kammer.

»Mama, Mama!« rief sie mit lauter Stimme.

»Sei still, Kind, deine Mutter ist nicht da; schlafe wieder ein,« sagte die Köchin mürrisch, während sie sich entkleidete.

Die Kleine sah erschreckt zu ihr hinüber; dann fing sie an, leise zu weinen – sie fürchtete sich offenbar in der fremden Umgebung.

»Na, jetzt heult die Range auch noch, das könnte mir fehlen – gleich bist du still, du Komödiantenbalg!« Sie hob drohend die Hand. Die Kleine steckte erschrocken das Köpfchen unter die Decke.

»Ach, Mama, liebe Mama,« flüsterte sie, »wo bist du nur? Nimm mich doch in dein Bett – ich fürchte mich so . . . ich will auch ganz artig sein und gleich einschlafen . . . Ich habe dir auch etwas aufgehoben, ich habe nicht alles gegessen – Fee bringt dir etwas mit, liebe Mama . . . oder gib mir nur deine Hand, dann will ich in meinem Bettchen bleiben und –«

»Bist du wohl still!« rief Friederike und rannte wie wütend nach dem Bette des Kindes . . . Es rührte sich nicht mehr – nur dann und wann drang ein unterdrücktes Schluchzen unter der Decke hervor.

Die alte Köchin schlief längst den Schlaf des Gerechten, als das arme Kind, die aufgeschreckte Sehnsucht im kleinen Herzen, noch leise nach der toten Mutter jammerte.


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