Eugenie Marlitt
Das Geheimnis der alten Mamsell
Eugenie Marlitt

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16.

Als Felicitas auf das Ersuchen des Professors hin den Platz an Annas Bett wieder einnahm, hätte sie nicht gedacht, daß sie ein viertägiges Wärteramt antrete – die Kleine wurde gefährlich krank und litt weder ihre Mutter noch Rosa in ihrer Nähe; nur der Professor und Felicitas durften sie berühren und ihr die Medizin reichen. In ihren Fieberphantasien spielte das zerrissene Batisttuch eine große Rolle. Der Professor hörte mit Verwunderung die Angst- und Furchtäußerungen des Kindes und jagte mehr als einmal durch seine eindringlichen, forschendem Fragen die Röte des Schreckens und der Verlegenheit in das Gesicht der Regierungsrätin. Sie blieb aber, von Rosa unterstützt, stets bei dem Ausspruche, daß Aennchen einen schlimmen Traum gehabt haben müsse.

Felicitas fand sich rasch in ihre Aufgabe als Pflegerin, obgleich ihr dieselbe anfänglich durch den stündlichen Verkehr mit dem Professor sehr erschwert wurde, aber die Sorge um das Leben des Kindes, die sie mit ihm teilte, half ihr schneller über das Peinliche ihrer Situation, als sie meinte. Es kam ihr selbst höchst wunderbar vor, wie gut sie ihn in seinem Wesen als Arzt verstand. Während er den anderen, selbst der Mutter des Kindes, undurchdringlich erschien, wußte sie stets sofort, ob er die Gefahr gesteigert fand oder Hoffnung schöpfte. Deshalb bedurfte es aber auch fast nie eines erklärenden Wortes seinerseits, um sie auf das eingehen zu machen, was der Augenblick erheischte. Er wechselte mit ihr im Nachtwachen ab, allein auch tagsüber war er sehr viel im Krankenzimmer. Stundenlang saß er geduldig neben dem Bettchen und legte seine Hände abwechselnd auf die Stirne des Kindes – dann ruhte es still und unbeweglich, es mußte eine eigentümlich beschwichtigende Kraft in diesen Händen liegen.

Unwillig und tief erregt suchte das junge Mädchen die vergleichenden Gedanken abzuschütteln, die sie beschlichen, wenn sie, unfern von ihm sitzend, ihn schweigend beobachtete. Das waren noch dieselben unregelmäßigen, harten Linien des Gesichts, dieselbe wuchtig hervortretende Stirne, über welche das dicke Haar peinlich sorgfältig zurückgeschlagen lag – es waren dieselben Augen, dieselbe Stimme, alles in allem der Schrecken ihrer Kindheit, aber den finster asketischen Zug, der einst den Jünglingskopf so unjugendlich und abstoßend hatte erscheinen lassen, suchte sie vergebens . . . Von jener nicht schön geformten, jedoch bedeutenden Stirne ging es aus wie ein mildes Licht, und wenn sie hörte, wie er dem aufgeregten Kinde mit unaussprechlich sanfter Stimme beschwichtigend zuredete, so konnte sie sich nicht verhehlen, daß er seinen Beruf in seiner ganzen Heiligkeit erfasse. Er stand nicht mit kalt-grausamem Achselzucken den unvermeidlichen Schmerzen anderer gegenüber, suchte nicht allein den Körper vor der Vernichtung zu retten – die bangende Seele fand an ihm eine Stütze; sie las das Mitgefühl in seinen Augen und schöpfte Mut und Trost aus seiner Stimme. Er hatte die Sprache in seiner Gewalt, wie selten ein Mensch. Es standen ihm Klänge und Worte zu Gebote, die das Herz des jungen Mädchens wie elektrische Schläge berührten . . . Wer dachte in solchen Augenblicken an seine unschönen, eckigen Bewegungen, an sein abstoßendes Wesen im geselligen Verkehr? Da war er eine sittlich schöne Erscheinung, ein Mann im Bewußtsein großer moralischer Kraft, der rastlos denkende und kämpfende Vermittler zwischen den zwei erbitterten Gegnern »Leben und Tod« . . . Aber mochten auch alle diese Gedanken versöhnend an ihr vorüberziehen, die Schlußbetrachtung war dieselbe. »Er fühlt und denkt menschlich, er hat Erbarmen mit dem hilflosen Zustande des geringsten Nächsten – das verfemte Spielerskind hat mithin doppelten Grund, ihn zu verabscheuen, denn ihm war er ein mitleidsloser Unterdrücker, ein vorurteilsvoller, ungerechter Richter«.

Er hatte bei dem jetzigen täglichen Verkehr nicht ein einziges Mal jenen weichen Ton wieder angeschlagen, der ihr schrecklich war, und gegen welchen sie stets mit den Waffen des Trotzes und der Zurückweisung kämpfte. Er hielt die kalt höfliche Freundschaft fest, die er seit dem letzten Gespräch mit ihr angenommen, und auch diese lag mehr in seinem Gesichtsausdruck als in seinen Worten, denn die unerläßlichen Fragen ausgenommen, sprach er fast nie mit ihr. Einen schweren Stand hatte er der Regierungsrätin gegenüber. Sie gebärdete sich anfänglich wie unsinnig und wollte es durchaus nicht zulassen, daß Felicitas ihre und Rosas Stelle am Krankenbett einnehme; es bedurfte seiner ganzen Entschiedenheit, um sie zur Ruhe zu bringen. Dagegen ließ sie es sich durchaus nicht nehmen, alle Augenblicke den von dem Kinde so sehr gefürchteten Lockenkopf lauschend zur Thür hereinzustecken, sonderbarerweise traf es sich dann stets, daß ihr Kousin und Felicitas zusammen im Krankenzimmer waren . . . Sie weinte und rang die weißen Hände – es gibt kein menschlisches Gesicht, das in wahrhaft schmerzlicher und angstvoller Aufregung schön unter einem Thränenerguß bliebe, mögen die Dichter auch ihre Heldinnen ›hinreißend in ihren Thränen‹ sein lassen – hier aber auf diesem rosigen Ovale vertiefte sich kein Zug, nicht ein krampfhaft verzogenes Fältchen erschien, die zarte Haut zeigte keinen einzigen entstellenden roten Flecken, leise rieselten die hellen Thränenperlen über die Wangen – es war ein so vollendet künstlerisches Weinen, wie es sich der Maler zu einer Mater dolorosa nicht schöner denken kann . . . Welch ein Unterschied zwischen ihr und jenem bleichen, überwachten und angstvollen Mädchengesicht am Bett des Kindes! . . . Jeden Abend erschien sie pünktlich in elegantem Schlafrock; ein wunderfeines Spitzenhäubchen umschloß das bezaubernde Gesicht, und die feinen Hände hielten ein Andachtsbuch – sie wollte wachen. Ein und dasselbe Wortgefecht erhob sich jedesmal zwischen ihr und dem Professor, sie wiederholte stets ein und dieselbe Phrase der Verwahrung gegen Eingriffe in ihre mütterlichen Rechte und ging dann sanft weinend und klagend, um am anderen Morgen frisch wie eine Mairose aufzustehen.

Es war der neunte Abend seit Aennchens Erkrankung. Das Kind lag in dumpfer Betäubung; nur dann und wann rang sich ein unartikuliertes Lallen von seinen Lippen. Der Professor hatte lange, die Stirne sorgenvoll in die verschlungenen Hände gedrückt, am Bettchen gesessen; da stand er plötzlich auf und winkte Felicitas in das Nebenzimmer.

»Sie haben die vergangene Nacht gewacht und sich auch gestern und heute nicht einen Moment der Ruhe gönnen dürfen, und doch verlange ich noch weitere Opfer von Ihnen,« sagte er. »Diese Nacht wird entscheidend sein. Ich könnte nun zwar meine Kousine oder Rosa in die Nähe des Kindes lassen, denn es ist bewußtlos; aber ich brauche wahrgemeinte Hingebung und Besonnenheit neben mir – wollen Sie heute noch einmal wachen?«

»Ja!«

»Doch es werden voraussichtlich Stunden der Angst und Aufregung, die Sie durchmachen müssen – fühlen Sie sich noch stark genug?«

»O ja – ich habe das Kind lieb und schließlich – will ich.«

»Haben Sie ein so festes Vertrauen auf die Kraft Ihres Willens?« Seine Stimme nahm bereits wieder jene milde Färbung an.

»Er ist mir bis jetzt noch nicht treulos geworden,« entgegnete sie; ihr bis dahin völlig ruhiger Blick wurde sofort eisig und abweisend.

Die Nacht brach herein – eine süße, lautlos schweigende Frühlingsnacht! Das volle, funkelnde Mondlicht schwebte über der schlafenden Stadt; im Erkerzimmer des alten Kaufmannshauses streifte es gleichsam mit silbernem Flügel die stillen Bilder an den Wänden und hauchte ein fremdartiges Leben über die festgezauberten Gestalten; die Blumen im Fußteppich leuchteten auf unter dem bleichen Licht und aus dem Krystallkronleuchter an der Decke sprühten Millionen Silberfunken . . . Drin aber, im dunklen Krankenzimmer, kreiste eine furchtbare Gewalt über dem schmalen Bett – die Kreise wurden enger und senkten sich tiefer und tiefer auf den qualvoll ringenden kleinen Körper, das Kind lag in den heftigsten Krämpfen . . . Der Professor saß neben dem Bett; sein Blick ruhte unverwandt auf den zuckenden Gliedern und dem unkenntlich gewordenen, verzerrten Gesichtchen. Er hatte alles gethan, was im Bereich ärztlicher Kunst und menschlichen Wissens lag. und nun mußte er macht- und thatlos verharren und die Naturkräfte ihren erbitterten Streit allein auskämpfen lassen.

Draußen schlug es zwölf mit lang aushebenden Schlägen. Felicitas, die still am Fußende des Bettes saß, schauerte in sich hinein; es war ihr, als müsse eine dieser mächtigen Schwingungen die Kinderseele mit hinwegnehmen . . . und wirklich wurde der heftig arbeitende Körper plötzlich schlaffer, die kleinen, festgeballten Hände lösten sich und fielen matt auf die Decke, und nach wenig Augenblicken lag auch das Köpfchen bewegungslos in den Kissen . . . Der Professor hatte sich über das Bett geneigt – bange zehn Minuten verstrichen, dann hob er den Kopf und flüsterte bewegt. »Ich halte sie für gerettet!«

Das junge Mädchen bog sich forschend über die Kranke; sie hörte tiefe, ruhige Atemzüge und sah, wie sich die kleinen, todmüden Glieder behaglich in den Kissen streckten. Lautlos erhob sie sich und ging hinaus in das Nebenzimmer. Sie trat in eines der weit offenen Fenster. Die würzige Nachtluft, in die sich bereits ein Hauch von herber Morgenröte mischte, strich erquickend an ihr vorüber; sie lehnte das müde Haupt an die steinerne Fenstereinfassung, während ihre gefalteten Hände schlaff niedersanken. Auf dem Simse stand ein Theerosenstrauch; er hatte eine einzige prachtvolle Blüte – doppelt bleich im weißen Mondenglanz, hing sie schaukelnd über der blassen Stirn, dem flimmernden Haar des Mädchens . . . Felicitas' Pulse klopften fieberhaft – kein Wunder; da drin in dem dumpfen, schwülen Raum war ja der Tod hart an einem Menschen vorübergeschritten; die Spannung ihrer Nerven während der letzten Stunden war eine furchtbare gewesen – kein anderer Laut, als das vereinzelte schrille Aufkreischen des Kindes hatte ihr Ohr getroffen; sie hatte nichts gesehen, als den zuckenden Körper der Kranken und das stumme bleiche Gesicht des Arztes, der nur durch Winke und Blicke ihre Hilfeleistungen forderte – vier enge Wände umschlossen ihn und sie allein; sie wirkten zusammen in Ausübung der Nächstenpflicht und Barmherzigkeit, während die tiefe Kluft des Hasses und des Vorurteils zwischen ihnen lag.

Die heißen, trockenen Augen des jungen Mädchens starrten durch das gegenüberliegende Eckfenster nach der mondbeleuchteten Front des Rathauses. Die Statuen zu beiden Seiten der Uhr, eine Muttergottes und der heilige Bonifacius, traten geisterhaft lebendig aus ihren Nischen hervor – was half es, daß sie schützend und segnend da droben standen? Dicht unter ihnen war doch das Unglück geschehen. Die drei hohen Fenster dort, die jetzt silbern glitzerten, hatten an jenem unglückseligen Abend die rote Glut einer feenhaften Beleuchtung ausgestrahlt, und da, wo jetzt der Mondschein einsam und harmlos auf dem Boden spielte, war die wundervolle Frauengestalt unerschrocken vor die versammelte Menschenmenge und die dräuenden Feuerwaffen hingetreten; aber unter dem Panzer hatte ein warmes, banges Mutterherz geklopft – einsam, im fremden Hause schlummerte derweil ihr Kind, für das sie erwerben mußte, für das sie immer wieder hinaustrat, bis die letzten sechs Schüsse krachten, unter denen sie sterbend zusammenbrach.

Der Professor trat aus dem Krankenzimmer und schloß die Thür geräuschlos hinter sich. Er ging auf Felicitas zu, die unbeweglich im Fenster stehen blieb.

»Aennchen schläft sanft,« sagte er. »Ich werde den Rest der Nacht bei ihr bleiben; ruhen Sie nun auch.«

Felicitas verließ sofort, ohne das Ende seiner Worte abzuwarten, die Fensternische und ging schweigend an ihm vorüber, um das Zimmer zu verlassen.

»Ich meine, heute sollten wir doch nicht so fremd auseinandergehen!« rief er ihr mit gedämpfter Stimme nach – fast klang es, als streife er wider Willen den Bann des ernsten Schweigens ab. »Wir haben in den letzten Tagen treulich, wie zwei gute Kameraden, zusammengehalten und gemeinschaftlich ein Menschenleben dem Tode abzuringen gesucht – bedenken Sie das!« fügte er warm hinzu. »In wenigen Wochen gehen wir ja ohnehin auseinander und jedenfalls auf Nimmerwiedersehen . . . Ich will Ihnen die Genugtuung nicht versagen, einzugestehen, daß Sie durch eigene Kraft vieles widerlegt haben, was ich an Vorurteil und übler Meinung Ihnen gegenüber neun Jahre hindurch festgehalten; nur in einem dunklen Punkt, in Ihrem unseligen Haß und Starrsinn, sind Sie das ungebärdige Kind geblieben, das einst meine ganze Härte und Strenge herausgefordert hat!«

Felicitas war ihm wieder einige Schritte näher getreten. Der Mondschein überstrahlte voll ihre Gestalt. So wie sie dastand, den Kopf stolz über die Schulter nach ihm zurückbiegend, während das Gesicht mit den strenggeschlossenen Lippen noch tiefer erblaßte, lag etwas unerbittlich Feindseliges in der ganzen Erscheinung.

»Bei den Krankheiten des menschlichen Körpers forschen Sie zuerst nach der Ursache, ehe Sie sich ein Urteil bilden –« entgegnete sie. »Aus was aber die sogenannte Ungebärdigkeit der Menschenseele hervorging, die Sie bessern wollten, das hielten Sie nicht der Mühe wert, zu untersuchen . . . Sie urteilten blindlings auf Einflüsterungen hin und haben sich damit einer ebenso großen Sünde schuldig gemacht, als wenn Sie durch ärztliche Nachlässigkeit einen Leidenden zu Grunde gehen lassen . . . Entreißen Sie einem Menschen sein Ideal, eine ganze erträumte, goldene Zukunft, er wird, und sei er der frömmste und tugendhafteste, im ersten Augenblick sicher nicht die Hände falten und ergeben in den Schoß legen; wie viel weniger aber ein neunjähriges Kind, das sein Auge unablässig auf den Tag gerichtet hielt, an welchem es einst seine vergötterte Mutter wiedersehen sollte, durch dessen Seele kein Traum, keine Hoffnung ging, die nicht mit diesem Wiedersehen verknüpft gewesen wäre!«

Sie hielt inne, aber über die Lippen des Professors kam kein Wort; nicht einmal sein Auge war ihr zugewendet. Er hatte anfänglich bei ihrer Beschuldigung einmal rasch und heftig den Arm ausgestreckt, als wolle er sie unterbrechen; allein je weiter sie sprach, desto unbeweglicher und aufhorchender wurde seine Haltung; er hob nicht einmal die Hand, um sie über den Bart gleiten zu lassen, eine Bewegung, die er beim Zuhören unablässig zu wiederholen pflegte.

»Der Onkel hat mich in jener glückseligen Unwissenheit gelassen,« fuhr sie nach einer Pause fort, »aber er starb und mit ihm das Erbarmen in diesem Hause . . . An jenem Morgen war ich zum erstenmal am Grabe meiner Mutter gewesen; ich hatte abends zuvor ihr schreckliches Ende erfahren – man hatte mir zugleich gesagt, die Spielersfrau sei ein verlorenes Geschöpf, das selbst der allbarmherzige Gott nicht in seinem Himmel dulde –«

»Warum sagten Sie mir das alles damals nicht?« unterbrach sie der Professor dumpf.

Felicitas hatte in Rücksicht auf die nebenan schlummernde Kranke mit unterdrückter Stimme gesprochen, dadurch wurde der Ausdruck düsteren Grolles noch verschärft. Sie sprach auch jetzt in dem angenommenen Ton weiter, während sie ihrem Widersacher das schöne, bitterlächelnde Gesicht zuwandte.

»Warum ich das damals nicht sagte?« wiederholte sie. »Weil Sie von vornherein erklärt hatten, die Menschenklasse, aus der ich stamme, sei Ihnen unsäglich zuwider, und der Leichtsinn müsse in meinem Blute stecken.« – Der Professor legte einen Moment die Hand über die Augen. – »So jung ich war und obwohl erst eine einzige große, bittere Erfahrung hinter mir lag, wußte ich doch in jenem Augenblick genau, daß ich kein Erbarmen, kein Mitgefühl finden würde – und haben Sie je Erbarmen, Mitgefühl für das Spielerskind gehabt?« fragte sie, rasch einen Schritt näher tretend und mit unsäglicher Bitterkeit jedes Wort betonend. »Ist Ihnen je eingefallen, daß das Geschöpf, welches Sie lediglich in das Arbeitsjoch einspannen wollten, doch vielleicht auch Gedanken haben könne? Haben Sie seine Seele nicht tausendfach gemartert, indem Sie jede nach außen dringende höhere Regung, jeden Ausdruck einer sittlichen Selbständigkeit, jeden Trieb zu eigener Veredelung wie wilde Schößlinge erstickten? . . . Glauben Sie ja nicht, daß ich mit Ihnen rechte, weil Sie mich zur Arbeit erzogen haben – Arbeit, und sei es die strengste und härteste, schändet nie – ich arbeite gern und freudig; aber daß Sie mich zur willenlosen, dienenden Maschine machen und das geistige Element in mir völlig vernichten wollten, welches doch einzig und allein ein arbeitsvolles Leben zu veredeln vermag – das ist's, was ich Ihnen nie vergessen werde!«

»Nie, Felicitas?«

Das junge Mädchen schüttelte energisch, mit einer fast wilden Gebärde den Kopf.

»Also darein muß ich mich unwiderruflich ergeben,« sagte er mit einem schwachen Lächeln, das sich jedoch, wahrscheinlicherweise sehr gegen seinen Willen, merkwürdig melancholisch gestaltete. »Ich habe Sie tödlich beleidigt, und doch – ich wiederhole es – konnte und durfte ich nicht anders handeln . . .« Er ging einigemal im Zimmer auf und ab. »Ich muß noch einmal eine schmerzende Stelle in Ihrer Seele berühren, indem ich meine Motive verteidige,« fuhr er rasch fort; »Sie sind völlig mittellos und von – verfemter Herkunft. Sie sind darauf angewiesen, Ihr Brot selbst zu verdienen. Wenn ich Ihrer Erziehung eine höhere Richtung gab, dann erst wäre es grausam gewesen, Sie in die niedere Dienstbarkeit zurückzustoßen, und doch hätte ich nicht anders gekonnt; oder glauben Sie, daß eine Familie sich dazu verstehen wird, ihren Kindern die Tochter eines Taschenspielers als Erzieherin zu geben? . . . Wissen Sie nicht, daß ein Mann« – er hielt einen Augenblick inne, tief Atem schöpfend, während eine fahle Blässe sein Gesicht bedeckte – »ja, daß ein Mann aus den höheren Kreisen, der sein Leben vielleicht mit dem Ihrigen verknüpfen würde, große innere und äußere Opfer bringen müßte? – Welch unausgesetzte Demütigung für Ihr stolzes Herz! . . . Das sind die sozialen Gesetze, die Sie mißachten, welche aber die Mehrzahl der Menschen oft mit unsäglich innerer Anstrengung und Aufopferung aufrecht erhält, aus Pietät vor dem Vergangenen, und weil sie politisch unbedingt notwendig sind . . . Auch ich muß mich ihnen unterwerfen – es steht ja nicht jedem auf der Stirne geschrieben, was er innerlich durchmacht – auch von mir verlangen jene Gesetze Entsagung und – einen einsamen Lebensweg.«

Er schwieg. Es durchschauerte Felicitas seltsam, hier in stiller Mitternachtsstunde in das Geheimnis eines streng verschlossenen Männerherzens blicken zu können, das in scheuer Hast, fast widerwillig und mit bebenden Lippen ausgesprochen wurde . . . Er liebte, und ohne Zweifel ein weibliches Wesen, das nach sozialen Begriffen hoch über ihm stand. Eben noch in Haß und Entrüstung ihm gegenüberstehend, beschlich sie jetzt ein ihr bis dahin völlig unbekanntes Weh . . . War es möglich, daß sie Mitleid fühlen konnte für ihn? Hatte sie in der That einen so unverzeihlich schwachen Charakter, sie, die neulich so entschieden ausgesprochen: »Wenn ihm ein Leid widerführe, ich würde es nie beklagen!« Und schließlich war er ja gar nicht einmal zu bedauern – warum legte er die Hände entsagend in den Schoß, statt mit männlicher Thatkraft um den hohen Preis zu ringen?

»Nun, Felicitas, haben Sie keine Entgegnung?« fragte er, »oder fühlen Sie sich abermals gekränkt durch meine Erklärung, die ich nicht umgehen konnte?«

»Nein,« entgegnete sie kalt. »Das ist Ihre spezielle Ansicht – es liegt mir nichts ferner, als der Wunsch, sie geändert zu sehen . . . Sie werden hingegen auch mir den Glauben nicht nehmen können, daß es brave, vorurteilslose Menschen gibt, die das ehrliche Herz und treue Wollen auch in einer Taschenspielerstochter anerkennen . . . Was soll ich Ihnen noch antworten? Wir würden doch nie zu einem Ende kommen . . . Sie stehen auf dem Standpunkte der sogenannten Vornehmen, die sich selbst mit Ketten anbinden, damit sie um Gottes willen nicht herunterfallen, und ich gehöre in die von Ihrer Kaste mißachtete Klasse der Freidenkenden . . . Sie selber sagen, unsere Lebenswege gehen binnen kurzem auseinander auf Nimmerwiedersehen – noch strenger geschieden aber sind wir innen . . . Haben Sie noch einen Befehl in Bezug auf die Kranke für mich?«

Er schüttelte den Kopf, und ehe er noch ein Wort zu sagen vermochte, hatte sie das Zimmer verlassen.


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