Eugenie Marlitt
Das Geheimnis der alten Mamsell
Eugenie Marlitt

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7.

Das Stimmengemurmel in der Flur war plötzlich verstummt – und es folgte tiefe Stille. Felicitas hörte, wie die Hausthür geschlossen wurde; aber sie wußte nicht, daß damit das Drama in der Hausflur zu Ende sei. Noch wagte sie sich nicht aus ihrem Winkel hervor. Sie saß auf dem kleinen, gepolsterten Lehnstuhle, den der Onkel ihr am letzten Weihnachtsabend geschenkt, und das Köpfchen ruhte auf ihren beiden Händen, die sich auf dem Tische kreuzten. Ihr Herz klopfte nicht mehr so ängstlich, aber hinter der kleinen, gesenkten Stirn hämmerte es, und die Gedanken reihten sich in fieberhafter Schnelligkeit aneinander. Sie dachte auch an die kleine, alte Dame, deren Bouquet draußen auf den Steinfliesen lag und wahrscheinlich von den unachtsamen Leuten zertreten wurde . . . Das war also die »alte Mamsell« gewesen, jene Einsame hoch droben unter dem Dache des Hinterhauses, der stete Zankapfel zwischen der Köchin und Heinrich! Nach Friederikes Aussage hatte die alte Mamsell Furchtbares auf dem Gewissen – sie sollte schuld sein an ihres Vaters Tode. Die haarsträubende Geschichte hatte der kleinen Felicitas stets Furcht und Entsetzen eingeflößt; aber jetzt war das vorbei . . . Die kleine Dame mit dem guten Gesichte und den Augen voll sanfter Thränen eine Vatermörderin! Da hatte Heinrich sicher recht, wenn er beharrlich den dicken Kopf schüttelte und ebenso konsequent den geistreichen Satz aufstellte, das müsse anders zusammenhängen!

Vor Jahren hatte die alte Mamsell auch hier unten im Vorderhause gewohnt, aber, wie sich die alte Köchin mit immer neu aufloderndem Zorne ausdrückte – sie war nicht davon abzubringen gewesen, Sonntagnachmittags unheilige Lieder und lustige Weisen zu spielen. Die »Madame« hatte ihr Himmel und Hölle vorgestellt, aber das war alles umsonst gewesen, bis kein Mensch im Hause den Greuel mehr mit anhören konnte – da hatte Herr Hellwig seiner Frau den Willen gethan, und die alte Mamsell hatte hinauf gemußt unters Dach . . . Dort wäre sie unschädlich, meinte Friederike stets, und man mußte ihr recht geben, denn man hörte nie auch nur einen Laut des verpönten Klavierspiels im Hause . . . Der Onkel mußte jedenfalls sehr böse auf die alte Mamsell gewesen sein, denn er hatte nie von ihr gesprochen; und doch war sie seines Vaters Schwester und sah ihm so ähnlich . . . Eine heiße Sehnsucht erfaßte die kleine Felicitas bei dem Gedanken an diese Aehnlichkeit – sie wollte hinauf in die Dachwohnung, aber da stand ja der finstere Johannes – das Kind schüttelte sich vor Angst – und die alte Mamsell steckte jahraus, jahrein hinter Riegeln und Schlössern.

Am Ende eines langen abgelegenen Korridors, dicht an der Treppe, die aus den unteren Stockwerken herauf führte, war eine Thür. Nathanael hatte einmal, als sie da droben spielten, leise zu ihr gesagt: »Du, da droben wohnt sie!« dann hatte er, mit beiden Fäusten auf die Thür schlagend, laut geschrieen: »Alte Dachhexe, komm herunter!« und war in schleuniger Flucht die Treppe hinabgelaufen. Wie hatte da das Herz der kleinen Felicitas vor Angst und Schrecken geklopft! denn sie war keinen Augenblick im Zweifel gewesen, es müsse ein schreckliches Weib mit einem großen Messer in der Hand hervorstürzen und sie bei den Haaren fassen . . .

Es fing an, leise zu dämmern. Drüben am Rathause huschte der letzte goldene Schein der Herbstsonne um das Giebelkreuz, und auf der großen Wanduhr drin im Zimmer schlug es langsam und rasselnd fünf – sie hatte genau so eintönig und langsam jene drei Schläge herabgerasselt, nach welchen ihr ehemaliger Besitzer, der sie lange Jahre hindurch pünktlich und mit liebevoller Vorsicht bedient, hinausgetragen worden war.

Bis dahin war es ziemlich still im ganzen Hause geblieben; aber jetzt wurde die Thür des Wohnzimmers plötzlich geöffnet, und harte, feste Schritte schollen durch die Flur. Felicitas zog ängstlich den Vorhang an sich heran, denn Frau Hellwig näherte sich dem Zimmer des Onkels. Das erschien dem Kinde wunderbar neu; es war nie vorgekommen, daß die große Frau bei Lebzeiten ihres Mannes je diese Schwelle betreten hatte . . . Sie kam ungewöhnlich rasch herein, schob leise den Nachtriegel vor und blieb dann einen Augenblick mitten im Zimmer stehen. Es war ein Ausdruck unsäglichen Triumphes, mit welchem diese Frau ihre Blicke langsam durch den so lange streng gemiedenen Raum gleiten ließ.

Ueber Hellwigs Schreibtisch hingen zwei schöngemalte Oelbilder, ein Herr und eine Dame. Die letztere, ein stolzes Gesicht, aus dessen Augen aber Geist und Lebenslust sprühte, war in jener Tracht, welche so unschön die altgriechische nachzuahmen sucht. Die kurze Taille, die ein weißer leuchtender Seidenstoff umschloß, wurde noch verkürzt durch einen roten, golddurchwirkten Gürtel; Brust und Oberarme, fast zu üppig geformt und nur sehr wenig bedeckt, harmonierten in ihrer herausfordernden Schönheit durchaus nicht mit dem anspruchslosen, züchtigen Veilchenstrauße, der im Gürtel steckte . . . Es war Hellwigs Mutter.

Vor dieses Bild trat die Witwe jetzt; sie schien sich einen Moment daran zu weiden. Dann stieg sie auf einen Stuhl, hob es von seiner gewohnten, langjährigen Stelle und schlug vorsichtig, ohne großes Geräusch einen neuen Nagel inmitten der zwei alten, an welchen sie das männliche Brustbild, Hellwigs Vater, hing. Es blickte jetzt einsam hernieder, während die Witwe den Stuhl verließ und, das weibliche Porträt in der Hand, aus dem Zimmer ging . . . Felicitas' gespanntes Ohr folgte ihren Schritten durch die Hausflur, über die erste Treppe – sie stieg immer höher in dem widerhallenden Treppenhause – wahrscheinlich bis in den Bodenraum.

Sie hatte die Thür nicht völlig hinter sich geschlossen, und als ihr letzter Schritt droben verhallt war, da erschien Heinrichs scheues Gesicht in der Spalte.

»Na, da haben wir's, Friederike!« rief er mit gedämpfter Stimme, der man aber den Schrecken anhörte, in die Flur zurück. »Es war richtig der sel'gen Frau Kommerzienrätin ihr Bild!«

Die alte Köchin riß die Thür weit auf und sah herein.

»Ach, du meine Güte, wirklich!« rief sie, die Hände zusammenschlagend. »Herr Je, wenn das die stolze Frau wüßte, die drehte sich in der Erde um – und der sel'ge Herr erst! . . . Na, sie war aber auch zu schrecklich angezogen – so bloß auf der Brust – ein Christenmensch mußte sich schämen!«

»Meinst du?« entgegnete Heinrich, schlau mit den Augen blinzelnd. »Ich will dir was sagen, Friederike,« fuhr er fort und legte abzählend den Zeigefinger der Rechten gegen den linken Daumen. »Die alte Frau Kommerzienrätin hat's durchaus nicht leiden wollen, daß unser Herr die ›Madame‹ genommen hat – das kann ihr die Madame zum ersten nicht vergessen. Zum zweiten war sie eine fidele Frau, die gern was mitmachte und am liebsten da war, wo lustig aufgespielt wurde, und zum dritten – hat sie unsere Madame einmal eine herzlose Betschwester geschimpft . . . Merkst du was?«

Während Heinrichs Beweisführung war Felicitas aus ihrem Verstecke hervorgekommen. Das Kind fühlte instinktmäßig, daß es an dem rauhen, aber grundgutmütigen alten Burschen von nun an die einzige Stütze im Hause haben werde. Er hatte sie sehr lieb, und seinen stets wachsamen Augen dankte es die Kleine hauptsächlich, daß sie bis dahin in glücklicher Unwissenheit über ihre Vergangenheit geblieben war.

»Na, Feechen, da bist du ja!« sagte er freundlich und nahm ihre kleine Hand fest in seine schwielige Rechte. »Ich hab' dich schon in allen Ecken gesucht . . . Komm mit 'nüber in die Gesindestube; denn hier wirst du ja doch nicht mehr gelitten, armes Ding! . . . wenn gar die alten Bilder fort müssen, nachher –«

Er seufzte und drückte die Thür zu; Friederike war bereits eilig in die Küche zurückgekehrt, denn man hörte die Schritte der herabsteigenden Frau Hellwig.

Felicitas sah sich scheu um in der Hausflur – sie war leer; da, wo der Sarg gestanden hatte, lagen zertretene Blumen und Blätter am Boden.

»Wo ist der Onkel?« fragte sie flüsternd, indem sie sich widerstandslos von Heinrich nach der Gesindestube führen ließ.

»Nu, sie haben ihn fortgetragen; aber du weißt ja doch, Kindchen, er ist nun im Himmel – da hat er's gut, besser als auf der Erde,« antwortete Heinrich wehmütig.

Er nahm seine Mütze vom Nagel und ging fort, um einen Auftrag in der Stadt zu besorgen.

In der Gesindestube herrschte bereits starke Dämmerung. Seit Heinrichs Weggange kniete Felicitas auf der Holzbank, die unter den eng vergitterten Fenstern weglief, und blickte unablässig in das Stückchen dunkelnden Himmels droben über den Giebelhäusern der schmalen, steilen Gasse, wo ja der Onkel nun sein sollte . . . Sie fuhr erschrocken zusammen, als Friederike mit der Küchenlampe eintrat. Die alte Köchin stellte einen Teller mit Butterbrot auf den Tisch.

»Komm her, Kind, und iß – da ist dein Abendbrot!« sagte sie.

Die Kleine kam näher, aber sie rührte das Essen nicht an; sie griff nach ihrer Schiefertafel, die Heinrich aus des Onkels Zimmer herübergebracht, und fing an zu schreiben. Da kamen hastige Schritte durch die anstoßende Küche, und gleich darauf steckte Nathanael seinen blonden Kopf durch die offene Thür. Felicitas zitterte, denn er war stets sehr ungezogen, wenn er sich mit ihr allein sah.

»Ah, da sitzt ja Jungfer Fee!« rief er in einem Tone, den Felicitas so sehr an ihm fürchtete. »Hör mal, du ungezogenes Ding, wo hast du denn die ganze Zeit über gesteckt?«

»In der grünen Stube,« antwortete sie, ohne aufzublicken.

»Du, das probiere nicht noch einmal!« sagte er drohend. »Da hinein gehörst du jetzt nicht mehr, hat die Mama gesagt . . . Was schreibst du denn da?«

»Meine Arbeit für Herrn Richter.«

»So – für Herrn Richter,« wiederholte er und wischte dabei mit einer raschen Bewegung das Geschriebene von der Tafel. »Also du bildest dir ein, Mama wäre so dumm, die teuren Privatstunden noch für dich zu bezahlen? . . . Sie wird sich hüten. Das ist alles vorbei, hat sie gesagt . . . Du kannst nun wieder dahin gehen, wo du hergekommen bist – nachher wirst du das, was deine Mutter war, und dann machen sie es mit dir auch so« – er legte die Hände gegen die Wange, machte die Pantomime des Schießens und schrie. »Puff!«

Die Kleine sah ihn mit weitgeöffneten Augen an. Er sprach von ihrem Mütterchen – das war ja noch nicht geschehen, aber was er sagte, klang so unverständlich.

»Du kennst doch meine Mama gar nicht!« sagte sie halb fragend und ungewiß; es schien, als ob sie den Atem anhielt.

»O, ich weiß viel mehr von ihr, als du!« erwiderte er und setzte nach einer Pause hinzu, während sein Blick heimtückisch unter der gesenkten Stirn hervorschielte: »Gelt, du weißt noch nicht einmal, was deine Eltern waren?«

Die Kleine schüttelte das Köpfchen mit einer lieblich unschuldigen Bewegung, aber zugleich hefteten sich ihre Augen wie ängstlich flehend an seine Lippen – sie kannte die Art und Weise des Knaben viel zu gut, um nicht zu wissen, daß jetzt etwas kommen müsse, was ihr wehe thun sollte.

»Spielersleute waren sie!« schrie er mit hämischer Betonung. »Weißt du, solche Leute, wie wir sie auf dem Vogelschießen gesehen haben – sie machen Kunststücke, Purzelbäume und solches Zeug und gehen nachher mit dem Teller herum und betteln.«

Die Schiefertafel fiel auf den Boden und zerbrach in kleine Stücke. Felicitas war aufgesprungen und stürzte wie toll an dem verblüfften Knaben vorüber hinaus in die Küche.

»Er lügt, gelt, er lügt, Friederike?« rief sie in schneidenden Tönen und faßte den Arm der Köchin.

»Das kann ich gerade nicht sagen, aber übertrieben hat er,« entgegnete Friederike, deren hartes Herz beim Anblick des furchtbar aufgeregten Kinder ein menschliches Rühren empfand. »Gebettelt haben sie nicht; freilich – das ist wahr – Spielersleute sind sie gewesen –«

»Und sehr schlechte Kunststücke haben sie gemacht!« ergänzte Nathanael, indem er an den Herd trat und forschend in Felicitas' Gesicht sah – sie weinte ja noch nicht; ja, sie sah ihn so »unverschämt wild« an mit ihren heißen, funkelnden Augen, daß er in eine förmliche Wut geriet.

»Greuliche Kunststücke haben sie gemacht!« wiederholte er. »Deine Mutter hat Gott, den Herrn, versucht, und deshalb kommt sie auch nie in den Himmel, sagte die Mama.«

»Sie ist ja gar nicht gestorben!« stieß Felicitas hervor. Ihr kleiner, blasser Mund zuckte fieberisch, und ihre Hand umschloß krampfhaft die Rockfalten der Köchin.

»O, freilich, du dummes Ding, längst, längst – der sel'ge Papa hat dir's nur nicht gesagt . . . Drüben im Rathaussaale ist sie bei einem Kunststücke von den Soldaten erschossen worden.«

Das gequälte Kind stieß ein herzzerreißendes Jammergeschrei aus; Friederike hatte bei Nathanaels letzten Worten bestätigend mit dem Kopfe genickt – er hatte also nicht gelogen.

In diesem Augenblicke kehrte Heinrich von seinem Ausgange zurück. Nathanael machte sich aus dem Staube, als die breitschultrige Gestalt des Hausknechts auf der Schwelle erschien . . . Heimtückische Naturen haben stets eine unüberwindliche Scheu vor einem geraden, ehrlichen Gesichte. Auch der Köchin schlug das Gewissen – sie hantierte emsig bei ihrem Herde.

Felicitas schrie nicht mehr. Sie hatte die hochgehobenen, verschränkten Arme gegen die Wand geworfen und ihre Stirn darauf gepreßt, aber man hörte, wie sie gegen ein heftiges Schluchzen ankämpfte.

Der durchdringende Schrei des Kindes war bis in die Hausflur gedrungen, Heinrich hatte ihn gehört; er sah noch, wie Nathanael hinter der Zimmerthür verschwand, und wußte sogleich, daß hier irgend eine Bosheit verübt worden war. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er die Kleine von der Wand weg und hob das Gesichtchen empor – es war furchtbar entstellt. Bei seinem Anblicke brach das Kind abermals in ein lautes Weinen aus und stieß schluchzend die Worte hervor: »Sie haben mein armes Mütterchen totgeschossen – meine liebe, gute Mama!«

Heinrichs breites, gutmütiges Gesicht wurde ganz blaß vor innerem Grimme – er schien einen Fluch zu unterdrücken.

»Wer hat dir denn das gesagt?« fragte er und sah drohend nach Friederike hinüber.

Das Kind schwieg; aber die Köchin begann den Hergang zu erzählen, wobei sie das Feuer schürte, den eben begossenen Braten noch einmal begoß und allerlei unnötige Dinge verrichtete, um nicht in Heinrichs Gesicht blicken zu müssen.

»Na, ich meine auch, Nathanael hätte es ihr just heute noch nicht zu sagen gebraucht,« schloß sie endlich, »aber morgen oder übermorgen nimmt sie die Madame doch ins Gebet, und da wird sie ganz gewiß nicht mit Handschuhen angefaßt – darauf kannst du dich verlassen!«

Heinrich führte Felicitas in die Gesindestube, setzte sich neben sie auf die Holzbank und suchte sie zu beruhigen, soweit er es in seiner ungelenken Redeweise vermochte. Er erzählte ihr schonend den schrecklichen Vorfall im Rathaussaale und sagte schließlich, daß ja die Mama, von der die Leute schon damals gesagt hätten, sie sähe aus wie ein Engel, nun auch droben im Himmel sei und jeden Augenblick ihre kleine Fee sehen könne. Dann streichelte er zärtlich das Köpfchen des Kindes, das aufs neue in krampfhaftes Weinen ausbrach.


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