Eugenie Marlitt
Das Geheimnis der alten Mamsell
Eugenie Marlitt

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23.

Aennchen unterbrach das qualvolle Sinnen und Grübeln des jungen Mädchens. Sie nahm schmeichelnd Felicitas' Hand und zog sie den Damm hinab. Der Wind sauste bereits mit großer Gewalt durch die Baumwipfel, er fuhr auch stoßweise und bissig in die geschützteren Regionen – erschrocken beugten sich die kleinen, schüchternen Grasblumen vor dem Störenfried. Ueber die Sonne hin jagten einzelne Wolkengebilde, deren Schatten sich für Momente wie dunkle Riesenflügel über die Kies- und Rasenplätze hinstreckten, Rosenblätter wirbelten hoch in den Lüften, und selbst die starren Taxuspyramiden neigten sich steif und gravitätisch wie alte Hofdamen.

Da war es gemütlich im schützenden Hause. Felicitas setzte sich auf einen Gartenstuhl in der Hausflur und zog eine Handarbeit hervor. Die Thür der kleinen Küche und auch die des Salons standen weit offen. Es ließ sich wohl nicht leicht etwas Anmutigeres denken, als die Regierungsrätin, indem sie »das wirtliche Hausmütterchen« repräsentierte. Sie hatte eine reichgarnierte, schwarzseidene Latzschürze vorgebunden, in dem blonden Lockengeringel, nahe am Ohre, wiegte sich eine Rose mit dunkelpurpurnem Kelch – sie war offenbar im Vorübergehen vom Strauche genommen und wie in absichtsloser Selbstvergessenheit plaziert worden, das war von allerliebster Wirkung. Unter dem festonartig aufgenommenen Kleide bewegten sich die kleinen, in zimtfarbenen Stiefelchen steckenden Füße mit kinderhafter Leichtigkeit und Grazie, auch der augenblickliche Ausdruck des rosigen Gesichts war der eines glückseligen, harmlosen Kindes, das mit wichtigem Eifer ein ihm anvertrautes Amt versieht – wer hätte bei diesem vollendeten Gepräge unschuldvoller Naivetät an die Bezeichnung »Witwe und Mutter« denken mögen?

Während sie am Küchenherd wirtschaftete, war im Salon zwischen Frau Hellwig und dem Rechtsanwalt ein lebhaftes Gespräch im Gange – es drehte sich um das Testament der alten Mamsell. Heinrich und Friederike hatten dem jungen Mädchen bereits versichert, daß die »Madame« nichts mehr spreche und denke, was nicht mit der unglücklichen Testamentsgeschichte zusammenhinge. Felicitas sah für einen Augenblick das Gesicht der großen Frau, es erschien ihr merkwürdig grau und gealtert, auch in ihrer Art und Weise, zu sprechen, lag eine ungewohnte Hast – Grimm und Groll hatten offenbar noch die Oberhand in dieser tief alterierten Frauenseele.

Der Professor beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, ja, es schien, als gleite sie völlig unverstanden an ihm ab. Er durchschritt, die Hände auf den Rücken gelegt und wie in tiefen Gedanken verloren, unausgesetzt die ganze Länge des Salons, nur wenn er an der offenen Thür vorüberkam, hob er den Kopf, und ein prüfender Blick fiel auf das arbeitende Mädchen in der Hausflur.

»Ich beruhige mich mein lebenlang nicht, mein lieber Frank!« wiederholte Frau Hellwig. »Ja, wenn nicht jeder Groschen von den Hellwigs sauer erworben gewesen wäre! Aber nun kommt da vielleicht irgend ein verkommenes Subjekt und verjubelt in kurzem die Ersparnisse eines ehrbaren Hauses – zu welcher Segensquelle hätte dies Geld in unseren Händen werden müssen!«

»Aber, Tantchen,« begütigte die junge Witwe, die eben mit der dampfenden Kaffeekanne eintrat und die Tassen füllte, »da vertiefst du dich nun wieder in die leidige Geschichte, die dich so sichtbar angreift – du wirst dich noch krank machen . . . Denke an deine Kinder und auch an mich, Tantchen, um unsertwillen suche zu vergessen!«

»Vergessen?« fuhr Frau Hellwig auf. »Niemals! Dafür hat man Charakter, welcher leider der jüngeren Welt immer mehr abhanden kommt!« – ein vernichtender Blick streifte ihren auf und ab wandelnden Sohn. – »Die Schmach eines erlittenen Unrechts geht mir in Blut und Nerven über – ich kann's nicht verwinden . . . Wie magst du mir nur mit solchen abgedroschenen Phrasen kommen! Du bist doch manchmal entsetzlich oberflächlich, Adele!«

Das Gesicht der Regierungsrätin verfärbte sich, ein trotzig herber Zug erschien um ihren Mund, und die Tasse, die sie Frau Hellwig hinreichte, klirrte in ihrer Hand, aber sie besaß doch Selbstbeherrschung genug, um die maliziöse Antwort, die sich unverkennbar auf ihre Lippen drängte, zu unterdrücken.

»Den Vorwurf verdiene ich ganz gewiß nicht,« sagte sie nach einem augenblicklichen Schweigen sehr sanft. »Niemand kann sich die Abscheulichkeit mehr zu Herzen nehmen, als ich. Nicht allein, daß ich für dich, liebe Tante, und die beiden Vettern den pekuniären Verlust beklage – es ist für das weibliche Gemüt auch stets ein bitterer Schmerz, wenn es der moralischen Versunkenheit begegnen muß . . . Da hat diese alte, tückische Person unter dem Dache ihr halbes Leben lang darüber nachgedacht, wie sie wohl ihre nächsten Verwandten am empfindlichsten kränkt. Sie ist aus der Welt gegangen, unversöhnt mit Gott und den Menschen, und ein Sündenregister auf der Seele, das ihr den Himmel verschließen muß auf ewig – schrecklich! . . . Lieber Johannes, darf ich dir eine Tasse Kaffee einschenken?«

»Ich danke,« antwortete der Professor kurz und setzte seinen Weg fort.

Felicitas' Händen war die Arbeit entfallen. Sie lauschte atemlos den Worten des verleumderischen Mundes da drinnen. Wohl wußte sie durch Heinrich, daß die Welt hart und verdammend über die alte Mamsell urteilte; aber es geschah zum erstenmal, daß sie selbst Zeugin eines solchen Ausspruchs war . . . Wie schoß ihr das Blut siedend nach den Schläfen! Jedes Wort traf ihr Herz wie ein Messerstich – das waren Schmerzen, die sie um die Tote litt, schneidender noch, als das Trennungsweh selbst!

»Inwiefern die alte Dame gesündigt hat, weiß ich nicht,« meinte der Rechtsanwalt. »Uebrigens, nach allem, was ich höre, kann ihr niemand etwas Positives nachweisen – die Klatschchronik unserer guten Stadt begnügt sich mit dunklen Ueberlieferungen . . . Ihr Nachlaß dagegen beweist unzweifelhaft, daß sie eine originelle Frau von ungewöhnlichem Geist gewesen sein muß.«

Frau Hellwig lachte höhnisch auf und wandte dem kühnen Verteidiger verachtungsvoll den Rücken.

»Mein bester Herr Rechtsanwalt, es ist die Aufgabe Ihres Berufs, die schwärzesten Vergehen weiß zu waschen, und da, wo bereits die gesamte Welt mit Recht verdammt hat, noch Engelsunschuld zu finden – von dem Standpunkt aus läßt sich Ihr Urteil begreifen,« sagte die Regierungsrätin unbeschreiblich maliziös. »Ich kenne dagegen ein anderes, das mir – verzeihen Sie – ungleich maßgebender ist – Papa hat sie gekannt. Ein Starrkopf ohnegleichen, hat sie ihren Vater buchstäblich zu Tode geärgert. Wie gleichgültig sie ferner gegen ihren guten Ruf gewesen ist, beweist ihr skandalöser Aufenthalt in Leipzig, und mit dem ungewöhnlichen Geist, wie Sie ihn nennen, ist sie auf die entsetzlichsten Abwege geraten – sie war ein Freigeist, eine Gottesleugnerin.«

In diesem Augenblick sprang Felicitas empor und trat auf die Schwelle der Salonthür. Die Rechte gebieterisch ausgestreckt, das sonst so bleiche Gesicht mit einer glühenden Röte übergossen, stand sie dort, schön und zürnend wie ein Racheengel. Die rosigen Lippen, die unbedenklich, mit unglaublicher Sicherheit so furchtbare Anklagen aussprachen, verstummten unwillkürlich vor dieser Erscheinung.

»Eine Gottesleugnerin ist sie nie gewesen!« sagte das junge Mädchen entschieden, und ihre Augen hafteten flammend auf dem Gesichte der Verleumderin. »Ja, sie war ein freier Geist! Sie forschte ohne Angst um ihr Seelenheil oder einen zerbrechlichen Glauben in Gottes Werken; denn sie wußte, daß da jeder Weg auf ihn zurückführe. Der Konflikt zwischen der Bibel und den Naturwissenschaften beirrte sie niemals. Ihre Ueberzeugung wurzelte nicht im Buchstaben, sondern in Gottes Schöpfung selbst, in ihrem eigenen Dasein und der himmlischen Gabe zu denken, in dem selbständigen Wirken und Schaffen des unsterblichen Menschengeistes . . . Sie ging nicht wie tausend andere in die Kirche, um Gott im eleganten Hut und Seidenkleid anzubeten; aber wenn die Glocken läuteten, da stand auch sie in der Stille demütig vor dem Höchsten, und ich zweifle, daß ihm das Gebet derer lieber ist, die stündlich seinen Namen anrufen und mit denselben Lippen den Namen des Nächsten ans Kreuz schlagen!«

Der junge Frank hatte sich unwillkürlich erhoben; er stützte seine Hand auf die Stuhllehne und blickte mit einem fast ungläubigen Ausdruck nach dem mutigen Mädchen hinüber.

»Sie haben die rätselhafte Frau gekannt?« fragte er wie mit zurückgehaltenem Atem, als Felicitas schwieg.

»Ich habe täglich mit ihr verkehrt.«

»Das sind ja allerliebste Neuigkeiten!« sagte die Regierungsrätin. Diese Bemerkung sollte ironisch klingen; aber die Stimme der jungen Frau hatte bedeutend an Sicherheit verloren, und eine auffallende Blässe bedeckte für einen Augenblick das schöne Gesicht. »Dann wissen Sie ohne Zweifel auch manches pikante Geschichtchen aus der Vergangenheit Ihrer verehrungswürdigen Bekanntschaft zu erzählen?« fragte sie in studiert nachlässigem Tone, während ihre Hand mit dem Kaffeelöffel spielte.

»Die Dame hat nie über ihr vergangenes Leben mit mir gesprochen,« entgegnete Felicitas ruhig. Sie wußte, daß sie einen furchtbaren Sturm heraufbeschworen hatte – es galt jetzt, ihn besonnen, mit kühlem Blute zu erwarten.

»Wie schade!« bedauerte die junge Witwe, ironisch den Lockenkopf hin und her wiegend – die blühende Farbe war bereits in ihre Wangen zurückgekehrt. »Ich bewundere übrigens Ihr vortreffliches Schauspielertalent, Karoline! Sie haben ja diese geheimen Zusammenkünfte reizend zu maskieren gewußt . . . Lieber Johannes, bereust du auch jetzt noch deine vermeintlich falsche Beurteilung dieses Charakters?«

Der Professor war überrascht stehen geblieben, als das junge Mädchen auf der Schwelle erschien. Ihre verteidigenden Worte, herb, geißelnd und doch schwungvoll, sprangen ihr förmlich von den Lippen – diesem scharf logischen Geiste, der sich offenbar unausgesetzt übte, fehlte es doch nie am sofortigen, schlagenden Ausdruck. Die letzte beißende Frage der Regierungsrätin blieb unbeantwortet. Der Blick des Professors hing unverwandt an Felicitas – er lächelte, als er sie, bei aller Selbstbeherrschung, doch unter jenen Nadelstichen aufzucken sah.

»War das Ihr eigentliches Geheimnis?« fragte er hinüber.

»Ja,« antwortete das junge Mädchen, und ihr ernstes Auge leuchtete auf – kam ihr doch, wunderbar genug, bei dem Klange dieser Stimme urplötzlich die Ueberzeugung, daß sie nicht allein stehen werde in dem unausbleiblichen Kampfe.

»Sie wollten später mit der alten Tante zusammenleben, und das war das Glück, das Sie erhofften?« fragte er weiter.

»Ja.«

Wäre die Regierungsrätin nicht zu lebhaft mit der »entlarvten Heuchlerin« auf der Thürschwelle beschäftigt gewesen, sie hätte erschrecken müssen über den vollen Glücksstrahl, der aus den Augen des Professors brach und sein tiefernstes Gesicht in nie gesehener Weise verklärte.

Fragen und Antworten waren bisher mit Blitzesschnelle erfolgt und hatten Frau Hellwig keine Zeit gelassen, sich von ihrer Ueberraschung zu erholen. Starr wie ein Steinbild lehnte sie in ihrem Stuhle; der Strickstrumpf war ihren Händen entglitten und das schneeweiße Knäuel rollte unbeachtet bis in die Mitte des Salons.

»Das ist eine höchst interessante Entdeckung für mich!« rief der Rechtsanwalt, indem er sich Felicitas rasch näherte. »Fürchten Sie ja nicht, daß auch ich in die mutmaßlichen Geheimnisse der Verstorbenen dringen will, das sei fern von mir! Aber vielleicht sind Sie imstande, mir Anhaltspunkte zu geben bezüglich der unbegreiflichen Lücken im Nachlasse –«

Gott im Himmel, sie sollte über das fehlende Silber verhört werden! Sie fühlte, wie ein Beben ihren ganzen Körper durchlief, ihr Gesicht wurde weißer als Schnee – bestürzt schlug sie die Augen nieder; in diesem Moment war sie allerdings das vollendete Bild einer Schuldbewußten.

»Als leidenschaftlicher Musikfreund und Autographensammler bin ich eigentlich seit der Testamentseröffnung in einer gelinden Aufregung,« fuhr der Rechtsanwalt fort, nachdem er, betroffen durch die auffallende Veränderung im Aeußeren des Mädchens, momentan gezögert hatte. »Das Testament erwähnt ausdrücklich eine Handschriftensammlung berühmter Komponisten – wir suchen sie jedoch vergebens. Es wird von vielen Seiten behauptet, die Verstorbene habe an Geistesstörung gelitten, dieser Teil der Hinterlassenschaft sei ein Hirngespinst, eine Chimäre. Haben Sie je eine solche Sammlung im Besitz der alten Dame gesehen?«

»Ja,« sagte Felicitas aufatmend, aber auch zugleich tief erbittert über diese Behauptung. »Ich habe jedes Blatt gekannt.«

»War sie reichhaltig?«

»Sie umfaßte hauptsächlich alle Namen des vorigen Jahrhunderts.«

»Eine Bachsche Oper – ich halte diese Bezeichnung für einen Irrtum – wird mehrfach in dem Testamente erwähnt; können Sie sich nicht ungefähr auf den Titel dieses Werkes besinnen?« examinierte der Rechtsanwalt in höchster Spannung weiter.

»O ja,« versetzte das junge Mädchen rasch. »Auch darin hat sich die Verstorbene nicht geirrt. Es war eine Operette. Johann Sebastian Bach hat sie für die Stadt X. komponiert, und sie ist im alten Rathaussaale aufgeführt worden. Der Titel lautet: ›Die Klugheit der Obrigkeit in Anordnung des Bierbrauens‹.«

»Nicht möglich!« rief der junge Mann, er prallte förmlich zurück im Uebermaß des Erstaunens. »Diese Komposition, die für die musikalische Welt eine Art Mythe ist, sollte in der That existieren?«

»Es war sogar die von Bach eigenhändig geschriebene Partitur,« fuhr Felicitas fort. »Er hatte sie einem gewissen Gotthelf von Hirschsprung geschenkt, und durch Erbschaft war sie später in die Hände der Verstorbenen gekommen.«

»Das sind ja unschätzbare Enthüllungen! – Und nun beschwöre ich Sie auch, mir zu sagen, wo diese Sammlung sich befindet.«

Da stand sie plötzlich vor einer Klippe. Empört darüber, daß nun auch noch Tante Cordulas klarer Geist angezweifelt wurde, hatte sie alles aufgeboten, die abscheuliche Verleumdung zu widerlegen. Im Verteidigungseifer war ihr nicht eingefallen, zu welchem Ausgangspunkte ihre Beweisführungen notwendig kommen mußten . . . Jetzt mußte sie auf diese peinliche Frage direkt antworten . . . sollte sie geradezu lügen? Das war unmöglich!

»Soviel ich weiß, existiert sie nicht mehr,« sagte sie leiser, als sie bisher gesprochen.

»Sie existiert nicht mehr? Damit wollen Sie doch wohl nur sagen, daß sie nicht mehr im Zusammenhang vorhanden ist?«

Felicitas schwieg. Sie wünschte sich meilenweit fort aus dem Bereiche dieses leidenschaftlichen Drängers.

»Oder wie!« fuhr er bestürzt fort, »wäre sie in Wirklichkeit vernichtet? Dann müssen Sie mir auch erklären, wie das geschehen konnte.«

Das war eine qualvolle Lage. Dort saß die Frau, die durch ihre Aussage kompromittiert wurde . . . Wie oft war in Augenblicken leidenschaftlicher Aufregung ein häßliches Rachegefühl gegen ihre herzlose Peinigerin in ihr aufgeflammt! Sie hatte dann gemeint, es müsse süß sein, dies abscheuliche Weib auch einmal leiden zu sehen . . . Jetzt stand sie vor einem solchen Moment – sie konnte die große Frau beschämen, sie einer ungesetzlichen That überführen . . . Wie wenig hatte sie sich selbst, den Adel ihrer Natur gekannt – sie war vollständig unfähig, sich zu rächen! . . . Verstohlen sah sie hinüber nach ihrer Feindin, ein wahrhaft tigerartiger Blick begegnete dem ihren – das beirrte sie nicht.

»Ich war nicht zugegen, als die Sammlung vernichtet worden ist, und kann deshalb auch nicht das Geringste aussagen,« erklärte sie so fest und entschieden, daß man sofort erkennen mußte, sie werde sich nie zu irgend einer Mitteilung herbeilassen . . . Diese Handlungsweise sollte ihr teuer zu stehen kommen, denn jetzt brach das Gewitter los, das bis dahin dumpf grollend über ihrem Haupte geschwebt hatte. Frau Hellwig war aufgestanden, sie stützte beide Hände auf den Tisch, und ihre Augen funkelten wahrhaft dämonisch aus dem farblosen Gesichte.

»Elendes Geschöpf, glaubst du, mich schonen zu müssen?« rief sie mit zornbebender Stimme. »Du unterstehst dich zu denken, ich hätte Ursache, irgend eine meiner Handlungen vor der Welt zu verbergen, und du müßtest die Hehlerin machen, du?« – Sie wandte verachtungsvoll den Kopf weg und richtete ihre grauen Augen mit der wiedergewonnenen Kälte und stolzen Ueberlegenheit auf den Rechtsanwalt. »Eigentlich bin ich gewohnt, nur Gott, meinem Herrn, Rechenschaft abzulegen von meinen Thaten,« sagte sie. »Was ich thue, geschieht in seinem Namen, zu seiner Ehre und zur Aufrechterhaltung seiner heiligen Kirche. Aber Sie sollen trotzdem erfahren, mein lieber Frank, was aus jenen ›unschätzbaren‹ Papieren geworden ist, lediglich aus dem Grunde, damit die Person dort nicht einen Augenblick in dem Wahne bleibt, ich hätte irgendwie Gemeinschaft mit ihr . . . Die verstorbene Cordula Hellwig war eine Gottesleugnerin, eine verlorene Seele – wer sie verteidigt, der beweist nur, daß er denselben Weg wandelt. Statt zu beten um den verlorenen Frieden, betäubte sie die Stimme ihres Gewissens mit dem Gifte weltlicher Musik voll sträflicher Sinnenlust. Selbst am Sonntag entweihte sie mein stilles Haus mit ihrem sündhaften Treiben; tagelang saß sie vor den unseligen Büchern, und je mehr sie sich hinein vertiefte, desto halsstarriger und unzugänglicher wurde sie für mein Bestreben, sie zu retten . . . Seit jener Zeit kenne ich keinen sehnlicheren Wunsch, als diese nichtswürdige Menschenerfindung, an der Gott keinen Teil hat, und welche die Seelen vom Wege des wahren Heils verlockt, von der Erde vertilgen zu können – ich habe die Papiere verbrannt, mein lieber Frank!«

Diese letzten Worte sprach sie mit erhobener Stimme und dem Ausdruck eines unsäglichen Triumphes.

»Mutter!« rief der Professor entsetzt und eilte auf sie zu.

»Nun, mein Sohn?« fragte sie zurück mit einer Gebärde der Unnahbarkeit. Ihre ganze Gestalt streckte sich – sie stand dort wie in Erz gepanzert. »Du willst mir offenbar den Vorwurf machen, daß ich dich und Nathanael um dies kostbare Erbteil gebracht habe,« fuhr sie mit unbeschreiblichem Hohne fort. »Beruhige dich, ich habe längst beschlossen, die paar Thaler aus meiner eigenen Kasse zu ersetzen – ihr seid da jedenfalls im Vorteil.«

»Die paar Thaler?« wiederholte der Rechtsanwalt; er bebte vor Zorn und Entrüstung. »Madame Hellwig, Sie werden das Vergnügen haben, Ihren Herren Söhnen bare fünftausend Thaler hinausbezahlen zu müssen!«

»Fünftausend Thaler?« lachte Frau Hellwig auf. »Das ist lustig! Diese elenden, beschmutzten Papiere! . . . Machen Sie sich nicht lächerlich, lieber Frank!«

»Diese elenden, beschmutzten Papiere werden Ihnen teuer zu stehen kommen, wiederhole ich!« versetzte der junge Mann, indem er sich zu beherrschen suchte. »Ich werde Ihnen morgen eine eigenhändige Notiz der Verstorbenen vorlegen, die den Wert der Handschriftensammlung auf volle fünftausend Thaler angibt – das Bachsche Manuskript nicht mitgerechnet; verstehen Sie mich recht, Madame Hellwig – in welch bösen Handel Sie sich durch die Vernichtung dieses in der That unschätzbaren Werkes, den Hirschsprungschen Erben gegenüber, verwickelt haben, das läßt sich noch gar nicht absehen!« Er schlug sich im Uebermaß der Empörung mit der Hand gegen die Stirn. »Unglaublich!« rief er. »Johannes, in diesem Augenblick erinnere ich dich an meine Behauptung, die ich vor wenig Wochen aufgestellt habe – schlagender konntest du nicht überführt werden!«

Der Professor antwortete nicht. Er war an ein Fenster getreten und wandte das Gesicht nach dem Garten. Inwieweit ihn die Beweisführung seines tieferregten Freundes traf, das ließ sich nicht ermitteln.

Einen Moment schien es, als ob Frau Hellwig begriffe, daß sie mutwillig ein unabsehbares Gefolge von Unannehmlichkeiten sich selbst heraufbeschworen habe; ihre Haltung verlor plötzlich das starre Gepräge der Unfehlbarkeit und unerschütterlichen Zuversicht, und das spöttische Lächeln, das sie zu behaupten suchte, war nur noch eine Verzerrung der Lippen. Aber wie hätte je der unerhörte Fall eintreten können, daß die große Frau in die Lage gekommen wäre, irgend einen Schritt zu bereuen? Sie handelte ja stets im Namen des Herrn, da war kein Irrtum, kein Fehlgehen möglich. Sie faßte sich rasch.

»Ich erinnere Sie an Ihren eigenen Ausspruch von vorhin, Herr Rechtsanwalt,« sagte sie kalt und förmlich; »man bezichtigt die Verstorbene mit vollem Recht der Geistesstörung – es dürfte mir nicht schwer werden, genügende Beweise dafür zu bringen . . . Wer will mich denn überführen, daß jene geradezu lächerliche Wertangabe nicht im Wahnsinn niedergeschrieben worden ist?«

»Ich!« rief Felicitas rasch und entschieden, wenn auch ihre Stimme im Widerstreite der Empfindungen bebte. »Diese Angriffe werde ich von der Toten abzuwehren suchen, solange ich kann, Madame Hellwig! Nie mag es wohl ein gesünderes, lichtvolleres Denkvermögen gegeben haben, als sie besessen hat – meine Aussage wird freilich nicht in Betracht kommen; aber wenn es Ihnen auch gelingt, jeden Beweis für die ungetrübte Geistesklarheit der Verstorbenen umzustoßen, so sind doch noch die Mappen da, in denen die Sammlung gewesen ist – ich habe sie gerettet. Jede derselben enthält auf der inneren Seite das vollständige Inhaltsverzeichnis; bei jedem einzelnen Autographen ist mit strenger Genauigkeit angegeben, wann, von wem und zu welchem Preise derselbe angekauft worden ist.«

»Ei, da habe ich mir ja einen vortrefflichen Gegenzeugen großgefüttert!« stieß Frau Hellwig hervor. »Aber jetzt werde ich mit dir ins Gericht gehen! . . . Also du hast es gewagt, mich jahrelang mit beispielloser Frechheit zu hintergehen? Du hast mein Brot gegessen, während du mich hinter meinem Rücken verhöhntest? Von Thür zu Thür hättest du betteln gehen müssen, wenn ich nicht war! Fort aus meinen Augen, du ehrlose Betrügerin!«

Felicitas wich nicht von der Schwelle. Es sah aus, als wachse die zarte Gestalt unter den Vorwürfen, die zu ihr hinübergeschleudert wurden; ihr Gesicht war totenbleich; nie aber hatte es so entschieden den unbeugsamen, furchtlosen Geist des Mädchens ausgedrückt, als in diesem Augenblick.

»Den Vorwurf, daß ich Sie hintergangen habe, verdiene ich!« sagte sie mit bewunderungswürdiger Fassung. »Ich habe vorsätzlich geschwiegen und hätte mich lieber zu Tode mißhandeln lassen, ehe auch nur eine Andeutung über meine Lippen gekommen wäre – das ist wahr! Trotzdem stand dieser Vorsatz auf sehr schwachen Füßen – ein gutes, herzliches Wort aus Ihrem Munde, ein wohlwollender Blick allein hätten ihn umzustoßen vermocht, denn nichts widerstrebt mir mehr, als ein scheues Verbergen meiner Handlungen . . . Ein sündhafter Betrug aber war es nicht! Wer würde wohl die ersten Christengemeinden Betrüger nennen, weil sie in Zeiten der Verfolgung heimlich und gegen das Verbot zusammenkamen? – Auch ich mußte meine Seele retten!« Sie schöpfte tief Atem und ihre braunen Augen richteten sich mit einem energischen Ausdruck auf das Gesicht der großen Frau. »Ich wäre in bodenlose Nacht versunken ohne das Asyl und den Schutz, den ich in der Dachstube gefunden habe . . . An den ewig zürnenden und strafenden Gott, zu welchem Sie beten, Madame Hellwig, der eine Hölle neben sich duldet, und welcher seine Kinder zum Bösen verführt, um sie zu prüfen und dann strafen zu können, an dieses unversöhnliche höchste Wesen konnte ich nicht glauben . . . Die Verstorbene hat mich zu dem Einzigen hingeleitet, der ganz Liebe und Erbarmen, Weisheit und Allmacht ist, und der allein herrscht im Himmel und auf der Erde . . . Der Trieb zum Lernen, die Wißbegierde lag unbesiegbar in meiner Kinderseele – hätten Sie mich verhungern lassen, Madame Hellwig, es wäre nicht so grausam gewesen, als Ihr unermüdliches Bestreben, meinen Geist zu knebeln, ja, ihn systematisch zu töten . . . Verhöhnt habe ich Sie nicht hinter Ihrem Rücken, aber Ihre Absichten habe ich vereitelt – ich bin die Schülerin der alten Mamsell gewesen!«

»Hinaus!« rief Frau Hellwig, ihrer nicht mehr mächtig, und zeigte nach der Thür.

»Noch nicht, Tantchen!« bat die Regierungsrätin dringend und erfaßte den ausgestreckten Arm der großen Frau. »Du wirst doch einen so kostbaren Augenblick nicht unbenutzt vorübergehen lassen! . . . Herr Rechtsanwalt, Sie haben vorhin Ihrer Pflicht als ›leidenschaftlicher Musikfreund‹ vortrefflich genügt; hiermit ersuche ich Sie, mit demselben Eifer zu inquirieren, wo die fehlenden Schmuck- und Silbergegenstände stecken – hat Eine die Hand dabei im Spiele gehabt, so ist es Jene dort!«

Der Rechtsanwalt näherte sich dem jungen Mädchen, das sich krampfhaft mit der Linken an die Thürbekleidung festhielt, er bot ihr mit einer Verbeugung den Arm und sagte freundlich ernst: »Wollen Sie mir erlauben, Sie in das Haus meiner Mutter zu führen?«

»Hier ist Ihr Platz!« klang es plötzlich laut und entschieden von den Lippen des bis dahin lautlos schweigenden Professors. Er stand hochaufgerichtet neben Felicitas und hielt ihre Rechte fest in seiner Hand.

Der junge Frank wich unwillkürlich zurück – beide Männer maßen sich einen Augenblick schweigend; in dem seltsamen Blick, den sie austauschten, lag durchaus nichts mehr von dem Gefühl ruhiger Freundschaft.

»Ah, bravo, zwei Ritter auf einmal, das ist ja ein reizendes Bild!« rief die Regierungsrätin auflachend – eine Tasse flog zerschmetternd auf den Boden; in jedem anderen Augenblicke würde Frau Hellwig diese »Unachtsamkeit« der jungen Witwe bitter gerügt haben, aber jetzt stand sie bewegungslos vor Grimm und Ueberraschung.

»Es scheint, ich komme heute oft in den Fall, an die Vergangenheit appellieren zu müssen,« unterbrach der Rechtsanwalt, bitter gereizt, die momentane Stille. »Du wirst dich erinnern, Johannes, daß du dich deiner Autorität mir gegenüber vollständig entäußert und mich zu dem jetzigen Schritte ermächtigt hast?«

»Ich leugne nicht ein Jota davon,« antwortete der Professor kalt. »Wünschest du eine bündige Erklärung für diese meine Inkonsequenz, so stehe ich dir jederzeit zu Diensten – nur hier nicht.«

Er zog Felicitas von der Schwelle fort und trat mit ihr in den Garten.

»Gehen Sie jetzt in die Stadt zurück, Felicitas,« sagte er, und seine einst so eisig kalten, stahlgrauen Augen ruhten mit unbeschreiblicher Innigkeit auf dem Gesicht des jungen Mädchens. »Das soll Ihr letzter Kampf gewesen sein, arme kleine Fee! . . . Nur noch eine einzige Nacht sollen Sie unter dem Dache meiner Mutter zubringen – von morgen ab beginnt ein neues Leben für Sie!«

Er zog ihre Hand, die er noch festhielt, wie unbewußt näher an sich heran, dann ließ er sie fallen und trat in das Haus zurück.


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