Eugenie Marlitt
Das Geheimnis der alten Mamsell
Eugenie Marlitt

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20.

Felicitas kehrte, nachdem sie den Gottesacker verlassen, nicht in das Haus am Markte zurück. Rosa und Aennchen erwarteten sie im Garten, gegen Abend wollte auch Frau Hellwig kommen, um mit dem Kinde unter den Akazien zu essen . . . Die große Frau hatte ihre äußere Ruhe scheinbar wiedergewonnen, nur war es auffallend, daß sie viel mehr, als sonst, ausging; es hatte fast den Anschein, als sei es ihr Bedürfnis, sich bis zur Ankunft ihres Sohnes zu zerstreuen und vielleicht auch ein wenig auszusprechen.

Die Begegnung mit Felicitas in der Mansarde schien sie völlig ignorieren zu wollen. Auf die Vermutung, daß das Mädchen Verkehr mit der alten Mamsell gehabt habe, war sie augenscheinlich nicht gekommen; sie hatte Felicitas' Eindringen einfach für Neugierde gehalten, die sie unter anderen Umständen freilich nicht straflos hätte hingehen lassen; aber im Hinblick auf die weiteren Vorgänge jenes Abends war es ihr ohne Zweifel wünschenswert, daß das Vorgefallene möglichst rasch vergessen werde.

Felicitas hatte eilig beinahe die ganze kleine Stadt umschritten und blieb nun vor einer Gartenthür stehen. Sie schöpfte tief Atem, dann legte sie rasch entschlossen die Hand auf den Drücker und öffnete die Thür; sie führte in den Nachbargarten, in das Besitztum der Frankschen Familie . . . Das junge Mädchen war jetzt einzig und allein auf sich und seine eigenen Entschlüsse angewiesen. So schmerzzerrissen auch ihre Seele war, auf die Energie ihres im Kampfe hartgewordenen Charakters hatten diese inneren Leiden keinen Einfluß; ihr außerordentlich klarer Kopf stand auch nach dem härtesten Schlage sehr bald dem Unvermeidlichen gegenüber, und nie hatten die Nebel der Gefühlsseligkeit oder Schwärmerei diesen scharfen logischen Gedankengang zu beeinflussen vermocht.

Die zarte, sehr distinguiert aussehende Dame im weißen Häubchen, die Felicitas vor wenigen Tagen angeredet hatte, saß zeichnend in einem schattigen Laubengange. Sie erkannte die Eintretende sofort und winkte ihr eifrig, näher zu kommen.

»Ah, da kommt meine kleine, junge Nachbarin und will einen guten Rat, nicht wahr?« fragte sie mit herzgewinnender Freundlichkeit und ließ das junge Mädchen neben sich niedersetzen. Felicitas sagte ihr, daß sie nach Verlauf von drei Wochen das Hellwigsche Haus verlassen müsse und eine Stelle suche.

»Wollen Sie mir nicht ungefähr sagen, was Sie leisten können, mein Kind?« fragte die Frau und ließ ihre großen, klugen Augen, welche lebhaft an die ihres Sohnes erinnerten, auf Felicitas' Gesicht ruhen; es wurde flammend rot . . . Sie sollte von ihren scheu verschwiegenen Kenntnissen sprechen und sie plötzlich auskramen, wie der Kaufmann seine Waren – es war ihr ein unsäglich peinliches Gefühl, und doch mußte es sein.

»Ich glaube, ganz leidlich im Französischen und Deutschen, in Geographie und Weltgeschichte unterrichten zu können,« antwortete sie zögernd, »auch im Zeichnen habe ich mich geübt; musikalisch ausgebildet bin ich nicht, allein ich weiß, was zu einem tüchtigen, schulgerechten Gesangsvortrage gehört;« – die Augen der Frau Hofrätin vergrößerten sich merklich im Erstaunen – »dann kann ich auch kochen, waschen, bügeln und auf Verlangen auch scheuern.« Die letzten Artikel des Berichtes kamen ungleich rascher von den Lippen des jungen Mädchens, als die anfänglichen.

»Hier, in unserem guten, kleinen X. möchten Sie wohl nicht bleiben?« fragte die Dame lebhaft.

»Wünschenswert wäre mir allerdings ein längerer Aufenthalt nicht, aber ich habe liebe Gräber hier, allzu rasch möchte ich mich auch nicht von ihnen trennen –«

»Nun, dann will ich Ihnen etwas sagen. Die Gesellschafterin meiner Schwester in Dresden verheiratet sich; diese Stelle wird in sechs Monaten frei, ich werde Sie dort empfehlen, und bis dahin bleiben Sie bei mir. Sind Sie damit einverstanden?«

Felicitas küßte ihr überrascht und dankbar die Hand, aber dann richtete sie sich empor und sah die alte Dame mit einem beweglichen Blick an, es war nicht zu verkennen, daß ihr noch ein Wunsch auf den Lippen schwebte. Die Hofrätin bemerkte es sofort.

»Sie haben noch etwas auf dem Herzen, nicht wahr? . . . Wenn wir eine Zeitlang miteinander leben wollen, dann müssen wir vor allem offen sein, also heraus mit der Sprache!« sagte sie munter.

»Ich möchte Sie bitten, meiner Stellung in Ihrem Hause, sei sie auch die untergeordnetste und von der kürzesten Dauer, eine bestimmte Gestalt zu geben,« antwortete Felicitas rasch und fest.

»Ah, ich verstehe! Sie sind es müde, ein Brot zu essen, das Sie sauer genug verdienen mußten und welches – sprechen wir es aus – trotzdem ein Gnadenbrot genannt worden ist!«

Felicitas bejahte eifrig.

»Nun, in diese drückende Lage sollen Sie bei mir nicht kommen, mein liebes, stolzes Kind. Ich engagiere Sie hiermit als meine Gesellschafterin. Waschen, scheuern, bügeln sollen Sie natürlich nicht, wohl aber manchmal in der Küche nachsehen, denn ich und meine alte Dora werden nachgerade morsch und müde – wollen Sie?«

»Ach, und wie gern!« Zum erstenmal nach Tante Cordulas Tode glitt es wieder wie ein schwaches Lächeln über das ernste Gesicht des jungen Mädchens.

Ein feiner Sonnenstrahl, der durch das wilde Weinlaub des schattigen Ganges spielend auf und ab geglitten war, erlosch plötzlich – es wurde Abend. Felicitas erinnerte sich, daß sie auf ihrem Posten sein müsse, bevor Frau Hellwig in den Garten käme, und bat deshalb um die Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen. Die Hofrätin entließ sie mit einem warmen Händedruck, und nach wenigen Augenblicken stand sie drüben im Garten und hatte die kleine Anna auf dem Arme. Bald darauf kam auch Friederike; sie trug einen schweren Korb voll Geschirr und sah sehr erhitzt aus.

»Vor einer Stunde sind sie angekommen!« rief sie beinahe atemlos und sichtbar ärgerlich, indem sie ihre Last niedersetzte. »'s ist wahr, so kunterbunt wie jetzt ist's noch nie bei uns zugegangen! . . . Die Madame sagt mir, wie noch der Wagen über den Markt 'rüber kommt, es solle nun in der Stadt gegessen werden; ich richte auch im guten Glauben alles vor – da heißt's auf einmal wieder, der Professor wolle partout in den Garten, und da bin ich nun so gut, packe die ganze Wirtschaft zusammen und schleppe sie da heraus.«

Damit rannte sie nach einem Beet und schnitt einige Salatköpfe ab.

»Es hat Spektakel drin gegeben, einen gottheillosen Spektakel!« sagte sie leise, während Felicitas in der Küche neben ihr stand und den Salat putzte. »Die Madame hatte noch nicht einmal recht ›Guten Tag‹ gesagt, da war auch ihr erstes Wort die Testamentsgeschichte . . . Höre, Karoline, so fuchswild wie heute hab' ich unsre Madame in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen! Der junge Herr brachte aber auch närrisches Zeug aufs Tapet; meinte er doch, die alte Tante sei eine Ausgestoßene gewesen, niemand in der Familie hätte sich um ihr Leben und Sterben gekümmert, und da sähe er gar nicht ein, warum sie den Leuten, die sie verachtet hätten, ihr Geld in die Tasche stecken solle – er hätte in seinem ganzen Leben nicht an die Erbschaft gedacht . . . Und mitten hinein, wenn die Madame einen Augenblick verschnaufte, da fragte er allemal, ob auch alles im Hause wohl gewesen sei . . . Er kam mir gar kurios vor, und die arme gnädige Frau, die sah aus, als wenn ihr die Hühner das Brot genommen hätten!«

Felicitas erwiderte, wie sie es gewohnt war, kein Wort auf die Ausplaudereien der alten Köchin. Sie zog sich später mit einer Handarbeit unter den Nußbaum zurück, während Aennchen auf der Wiese neben ihr spielte. Von ihrem Platze aus konnte sie durch eine schmale Spalte der kulissenartig sich vorschiebenden Taxuswände gerade auf die Gartenthür sehen. Dieses feine gußeiserne Gitter, das auf beiden Seiten wildblühende Rosensträucher einfaßten, während es hinter ihm in der vorüberlaufenden prächtigen Lindenallee dunkelgrün dämmerte, hatte stets für das junge Mädchen einen geheimnisvollen Reiz gehabt . . . Sie hatte viele Menschen durch diese Thür kommen und gehen sehen; freundliche, traute Gesichter, denen sie einst jubelnd entgegengelaufen war; aber auch Gestalten, die ihr das Herz beklemmt, und hinter denen sie gern und aufatmend das eigentümlich schnurrende Geräusch der zufallenden Thür gehört hatte . . . Noch nie aber war ihr ein so jäher Schreck, fast ein stechender Schmerz, durch die Glieder gefahren, als in diesem Augenblick, wo sich das Gitter knarrend vorwärtsschob, während Frau Hellwig, am Arme ihres Sohnes und gefolgt von der Regierungsrätin, in den Garten trat . . . Was hatte sie von jenen Menschen zu fürchten? Frau Hellwig ignorierte möglichst ihre Existenz, und jener Mann dort hatte es ja auch aufgegeben, die Taschenspielerstochter zu seinen Ansichten zu bekehren, nach welchen sie eine Ausgestoßene, Geächtete des Menschengeschlechts war und blieb.

Friederike hatte gesagt, er sei ihr »gar kurios« vorgekommen, und Felicitas mußte ihr zum mindesten zugeben, daß etwas Auffallendes in seinem Wesen liege. Der Begriff »Hast« ließ sich mit seinen nachlässigen Bewegungen und der außerordentlich indifferenten Haltung im gewöhnlichen Leben eigentlich gar nicht in Verbindung bringen, und doch hätte das junge Mädchen in diesem Moment sein Gebaren mit dem besten Willen nicht anders zu bezeichnen gewußt . . . Er strebte sichtbar ungeduldig vorwärts zu kommen – bei Frau Hellwigs schwerfällig gemessenem Gange ein Ding der Unmöglichkeit – und ließ mit hochgehobenem Kopfe seine Augen suchend über den Garten gleiten – das galt jedenfalls seiner kleinen Patientin.

Rosa kam über den Kiesplatz gesprungen, um Aennchen zu holen, und Felicitas folgte den beiden bis hinter die erste Taxuswand, um das Wiedersehen zwischen Mutter und Kind zu beobachten. Die Regierungsrätin schlang freilich ihre Arme um das kleine Mädchen und tätschelte seine Wangen, aber währenddem schalt sie Rosa heftig aus, daß sie die Schlüssel zur Wohnung mitgenommen und sie gezwungen habe, in dem »entsetzlichen Kleid« durch die Stadt zu gehen. Die duftige Reisetoilette hatte in der That zum Teil ihre zarte Bläue eingebüßt und hing schlaff, welk und mit einem sehr mißfarbenen Saume über der Krinoline.

»Nun, ich werde mir diese ganze Partie bis zum Schlußmoment zu den unerquicklichsten Ereignissen meines Lebens notieren!« sagte die junge Dame verdrießlich und schmollend, während sie sich einen Riß in dem verdorbenen Kleide mit einer Nadel zusammensteckte. »Wäre ich bei dir geblieben, Tantchen, in deinem stillen Zimmer! Tausend Unbequemlichkeiten, sag' ich dir – wohin wir uns auch wenden mochten, stets einen Gewitterregen auf den Fersen, und dazu die unglaublich schlechte Laune meines Herrn Kousin Isegrim! . . . Du machst dir keinen Begriff, Tantchen, wie rücksichtslos und – liebenswürdig er gewesen ist! Er hätte am liebsten gesehen, wir wären schon am ersten Tage wieder umgekehrt. Und was für Mühe haben wir uns gegeben, sein bösartig finsteres Gesicht freundlicher zu machen! Fräulein von Sternthal hatte sich mit solchem Eifer in ihre Aufgabe versenkt, daß ich jeden Augenblick erwartete, sie werde eine Liebeserklärung in Szene setzen. – Nun, sag selber, Johannes, war sie nicht die Bereitwilligkeit und Zuvorkommenheit selbst?«

Was der Professor antwortete, konnte Felicitas nicht verstehen. Sie war bereits unter den Nußbaum zurückgekehrt und arbeitete weiter, in der Hoffnung, daß man sich nicht um sie kümmern werde . . . Das sah bös und drohend aus da drüben! Noch lag die grelle Röte einer heftigen Aufregung auf den Wangen der Frau Hellwig, und die schlechte Reiselaune ihrer Sohnes war keinesfalls verbessert worden durch die Empfangsszene.

Eine Zeitlang schien es, als sollte die einsame Näherin unter dem Nußbaume in ihrer Zurückgezogenheit unangefochten bleiben; aber einmal schlüpfte ihr Blick durch die Lücke der Taxushecke und fiel zugleich auf die Gestalt des Professors. Er kam ruhig schlendernd, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, über den Kiesplatz; seine Züge hatten jedoch, ganz im Gegensatze zu seiner nachlässigen Haltung, etwas Erregtes, Gespanntes, und sein Blick drang unruhig in die verschiedenen Gänge zwischen den verschnittenen, grünen Wänden.

Felicitas saß bewegungslos und beobachtete ihn; unwillkürlich hatte sie die Rechte auf ihr klopfendes Herz gelegt – ihr war fast unheimlich zu Mute – sie fürchtete sich vor dem Moment, wo sein Blick auf sie fallen mußte . . . Noch langsamer als zuvor schritt er auf dem schmalen Kieswege weiter, der den großen Wiesenfleck umfaßte. Sein Haupt war unbedeckt – war es der eigentümliche, völlig ungewohnte Ausdruck, oder hatte seine Gesichtsfarbe den kräftigen Ton verloren – der Kopf erschien dem jungen Mädchen verändert.

Er griff in die Zweige eines Apfelbaumes, zog sie zu sich nieder und betrachtete die sich ansetzenden Früchte scheinbar mit ungeteiltem Interesse – er sah jedenfalls das Mädchen unter dem Nußbaume nicht. Die Zweige schnellten wieder empor, und er setzte seinen Weg fort. Jetzt stand er in gleicher Richtung mit Felicitas; er bückte sich rasch und pflückte irgend ein am Wiesenrande befindliches Etwas.

»Ach, sehen Sie doch, Felicitas, ein vierblätteriges Kleeblatt!« rief er hinüber, ohne aufzublicken. Das klang so ruhig und zuversichtlich, als sei sein Verkehr mit ihr noch nie unterbrochen oder getrübt gewesen, als sei es selbstverständlich, daß sie da drüben unter dem Nußbaume sitze; aber es lag auch zugleich eine gebieterische Notwendigkeit in dieser Anrede, er fesselte das Mädchen gewissermaßen an die Stelle, wo es sich jetzt erhob.

»Die Leute sagen, diese vier Blättchen bringen dem Finder Glück,« fuhr er fort, indem er rasch über die Wiese herkam. »Nun, ich werde ja gleich sehen, inwieweit es leidiger Aberglaube ist!«

Er stand vor ihr. Jetzt lag auch etwas Straffes, die ganze Energie des willensstarken Mannes in seiner Haltung. Das Kleeblatt entfiel seinen Händen, er streckte sie beide Felicitas entgegen.

»Guten Abend!« sagte er – es waren bebende Laute, in denen diese zwei einfachen Worte gesprochen wurden. Hätte er einst vor Jahren diesen Ton angeschlagen, dann wäre er dem neunjährigen Kinde gegenüber, das mit aller Heftigkeit eines leidenschaftlichen Herzens Liebe und Teilnahme verlangte, gerechtfertigt gewesen – für diese verfinsterte, von ihm so lange gemißhandelte Mädchenseele jedoch blieb der süßvertrauliche Gruß, in welchem sich unverkennbar die Wonne des Wiedersehens abspiegelte, geradezu unverständlich. Gleichwohl hob sie die Hand – sie, die Paria, die seine Hand in der höchsten Todesnot zurückstoßen wollte, sie legte, von einer unerklärlichen Macht getrieben, für einen Moment leise ihre Rechte in die seine. Es war das eine Art von Wunder, und er faßte es wohl selbst so auf – eine einzige unachtsame Bewegung konnte es verscheuchen auf Nimmerwiederkehr . . . Mit der ganzen Selbstbeherrschung, die der Arzt sich errungen, ging er sofort in einen anderen Ton über.

»Hat Ihnen Aennchen viel Last gemacht?« fragte er freundlich und teilnehmend.

»Im Gegenteil – die Anhänglichkeit des Kindes rührt mich – ich pflege es gern.«

»Aber Sie sind bleicher als sonst – und da der bitter schwermütige Zug um Ihren Mund ist schärfer ausgeprägt als je . . . Sie sagten vorhin, die Anhänglichkeit des Kindes rühre Sie – andere Leute sind auch anhänglich, Felicitas! Ich werde Ihnen das sogleich beweisen. Sie haben gewiß nicht ein einziges Mal an die Menschen gedacht, die der kleinen Stadt X. entflohen waren, um sich Seele und Willen in der kräftigen Waldluft zu stählen?«

»Ich hatte weder Zeit noch Anknüpfungspunkte dazu,« entgegnete sie stark errötend, aber mit finsterem Ausdruck.

»Das setzte ich voraus. Ich aber bin menschenfreundlicher gewesen, ich habe an Sie gedacht – Sie sollen auch erfahren, wann und wo . . . Ich sah eine Edeltanne ganz allein auf einer Felsenzacke stehen – es sah aus, als sei sie in dem Nadelwalde zu ihren Füßen verwundet und gekränkt worden, und sie habe sich auf die einsame Höhe geflüchtet. Dort stand sie fest und finster, und meine Phantasie lieh ihr ein Menschengesicht mit wohlbekanntem, stolzverächtlichem Ausdrucke. Da kam ein Gewitter, der Regen peitschte ihre Zweige und der Sturm schüttelte sie unbarmherzig, aber nach jedem Stoße richtete sie sich auf und stand fester als zuvor.«

Felicitas hatte die Augen halb scheu, halb trotzig zu ihm aufgeschlagen . . . Wie seltsam verändert war er zurückgekehrt! Der Mann mit den kalten, stahlgrauen Augen, der ehemalige Pietist und Mystiker, der eingefleischte Konservative, dem Gesetz und Regel jeden Funken poetischer Freiheit erstickt haben mußten, er, der Pedant, den der Gesang der menschlichen Stimme belästigte, er erzählte ihr mit seiner tiefen Stimme, die der ernsten Wissenschaft mit so mächtigem Erfolge diente, eine Art Märchen, ein selbsterfundenes, dessen Sinn sie nicht mißverstehen konnte.

»Und denken Sie,« fuhr er fort, »da stand ich nun drunten im Thale, und meine Begleiter schalten den unpraktischen Professor, weil er sich vollregnen lasse, während er doch unter Dach und Fach flüchten konnte. Sie wußten ja nicht, daß ihn, den trockenen, nüchternen Doktor, plötzlich eine Vision gepackt hatte, die sich weder durch kalte Regenschauer noch durch den Sturm verscheuchen ließ . . . Er sah nämlich, wie ein Mutiger den Wald verließ, den Felsen hinaufkletterte, droben die Arme um die Tanne legte und sagte: ›Du bist mein!‹ . . . Und was geschah weiter?« –

»Ich weiß es,« unterbrach ihn das Mädchen in tiefen, grollenden Tönen; »die Einsame blieb sich selbst getreu und brauchte ihre Waffen.«

»Auch als sie einsah, daß er sie fest und sicher an sein Herz nehmen werde, Felicitas? Als sie erkannte. daß sie an diesem Herzen getrost ausruhen könne von allen Stürmen, daß er sie zärtlich behüten werde, wie seinen Augapfel, sein ganzes Leben lang?«

Der Erzähler hatte sich offenbar mit einer Art von Leidenschaft in das Geschick seiner zwei Visionsgestalten versenkt, denn er sprach mit zuckenden Lippen, und in seiner Stimme wurden alle jene Klänge wach, die Felicitas' Herz am Krankenbett des Kindes erschüttert hatten – jetzt verhallten sie machtlos.

»Die Einsame wird erfahrungsreich genug gewesen sein, zu wissen, daß er ihr ein Märchen erzählte,« versetzte sie hart. »Sie sagen selbst, sie habe den Sturmstößen getrotzt – nun wohl, sie hatte sich selbst gestählt und brauchte keine andere Stütze!«

Es war ihr nicht entgangen, wie ihm allmählich die Farbe aus dem Gesicht wich – er sah für wenige Sekunden erdfahl aus. Es schien fast, als wolle er sich abwenden und gehen, aber näherkommende Schritte wurden laut. Er blieb dicht neben Felicitas stehen und erwartete ruhig seine Mutter, die am Arme der Regierungsrätin zwischen den Taxuswänden hervortrat.

»Nun, das nimm mir aber nicht übel, Johannes,« schalt sie, »da stehst du, hältst die Karoline von der Arbeit ab und lässest uns unverantwortlich mit dem Abendbrot warten! Glaubst du denn, ich liebe es, wenn die Eierkuchen zu Leder werden?«

Die Regierungsrätin ließ den Arm der Tante los und schritt über die Wiese. Sie sah bei weitem nicht so hübsch aus wie gewöhnlich; die blonden Locken hingen wild und aufgelöst an den Wangen herab, welche in einem unschönen Rot glühten, aus den Taubenaugen aber sprühte es unheimlich.

»Ich habe Ihnen noch nicht einmal danken können, Karoline, daß Sie Aennchen während meiner Abwesenheit beaufsichtigt haben,« sagte sie. Das sollte freundlich klingen, aber die sanfte Stimme verschärfte sich, sie klang höher als gewöhnlich und war dadurch schneidend. »Sie stehen ja aber auch hier wie eine Einsiedlerin unter dem abgelegenen Nußbaume – wie soll man Sie da finden?« fuhr sie fort. »Haben Sie diese interessante, zurückgezogene Rolle öfter gespielt? . . . Ich würde es dann freilich um so leichter begreifen, daß ich Aennchen so unverantwortlich vernachlässigt wiederfinden muß. Ich habe Rosa bereits sehr gescholten; das Haar hat nicht die mindeste Pflege gehabt, ihre Haut ist so sonnenverbrannt, daß man sie für ein Kaffernkind halten möchte, und ich fürchte, sie ist überfüttert worden.«

»Hast du nicht noch einen Vorwurf für die Pflegerin, Adele? Besinne dich!« mahnte der Professor in vernichtendem Hohne. »Vielleicht ist sie auch schuld, daß dein Kind an den Skropheln leidet, möglicherweise hat sie die vielen Gewitterregen über den Thüringer Wald geschickt, die dir die Laune verdorben haben, wer weiß« – er hielt inne und wandte sich mit einer fast verächtlichen Gebärde ab.

»Ja, es ist besser, du redest nicht aus, Johannes,« klagte die junge Witwe, mit einem krampfhaften Weinen kämpfend. »Ich muß fast annehmen, du weißt nicht mehr, was du mir gegenüber sprichst. Ich habe Sie nicht beleidigen wollen, Karoline,« wandte sie sich an das Mädchen, »und damit Sie sehen, daß ich nicht den mindesten Groll gegen Sie hege oder Ihnen gar mein Vertrauen entzogen habe, will ich Sie bitten, heute abend Aennchen noch einmal zu überwachen – ich fühle mich sehr angegriffen und reisemüde.«

»Daraus wird nichts!« entschied der Professor hart. »Die Zeit der grenzenlosen Aufopferung ist vorüber. Du verstehst es vortrefflich, Adele, die Kräfte anderer auszunützen; von nun an wirst du dein Kind selbst wieder unter deine Obhut nehmen.«

»Gut – ist mir auch recht!« rief Frau Hellwig herüber. »Dann mag das Mädchen heute abend tüchtig jäten; von Heinrich und Friederike kann ich's ohnehin billigerweise nicht mehr verlangen – sie werden zu alt.«

Ein tiefes Rot lief wie eine Flamme über das Gesicht des Professors. So schwer auch seine eigenartigen Züge sich entziffern ließen, in diesem Moment zeigten sich unverkennbar Scham und Verlegenheit. Vielleicht noch nie war in ihm das Empörende der Stellung, in die er selbst dies junge, reichbegabte Wesen gedrängt hatte, so zum Bewußtsein gekommen, wie jetzt. Felicitas verließ sofort ihren Platz unter dem Nußbaume; sie wußte, die wenigen Worte der Frau Hellwig waren ein Befehl für sie, dem sie ohne weiteres Folge leisten mußte, wenn sie nicht eine Flut spitziger Bemerkungen hören wollte. Aber der Professor trat ihr in den Weg.

»Ich glaube, ich habe hier auch noch ein Wort als Vormund mitzusprechen,« sagte er scheinbar sehr ruhig, »und als solcher wünsche ich nicht, daß Sie dergleichen Arbeiten verrichten.«

»So – willst du sie etwa in den Glasschrank setzen?« fragte Frau Hellwig, indem sie nun auch ihren großen Fuß auf die Wiese setzte und rascher als gewöhnlich sich vorwärts bewegte. »Sie ist genau nach deiner Vorschrift erzogen, ganz genau! . . . Soll ich dir vielleicht deine Briefe vorzeigen, in denen du immer und immer wieder, ja wirklich bis zum Ueberdruß, wiederholst, daß sie dienen solle und müsse, daß sie nicht streng und scharf genug in der Zucht gehalten werden könne?«

»Es fällt mir nicht ein, auch nur ein Jota von dem verleugnen zu wollen, was auf mein ausdrückliches Verlangen geschehen ist,« entgegnete der Professor mit dumpfer, aber fester Stimme, »ebensowenig kann ich mein Verfahren bereuen – es ist damals aus reiner, voller Ueberzeugung, aus dem aufrichtigen Wunsch, das allein Zweckmäßige und Vernünftige zu thun, hervorgegangen, aber ich werde mich auch nie der Schwäche schuldig machen, einen erkannten Irrtum eigensinnig festzuhalten, lediglich der Konsequenz halber, und deshalb erkläre ich hiermit, daß ich jetzt anders denke und folglich auch anders handeln werde.«

Die Regierungsrätin bückte sich bei den letzten Worten. Sie pflückte eine einsame Kleeblume, welche die Sichel verschont hatte, und zerzupfte sie in Atome. Frau Hellwig aber lachte spöttisch auf.

»Mache dich nicht lächerlich, Johannes!« sagte sie in eisigem Hohne. »In deinen Jahren fängt man nicht noch einmal von vorn an mit seinen Grundsätzen, da müssen sie fest und hart sein, sonst wird's eine Stümperei fürs ganze Leben . . . Du hast übrigens nicht allein in der Sache gehandelt – ich war auch dabei, und ich sollte meinen, mein ganzes Leben beweise es, daß ich mit Gottes Gnade stets das Richtige gethan habe . . . Es sollte mir leid thun, wenn jetzt noch die Hellwigsche Schwäche auch in deinem Charakter zum Durchbruch käme, dann – das sage ich dir rundheraus – wären wir geschiedene Leute . . . Solange das Mädchen noch in meinem Hause ist, bleibt sie mein Dienstbote, der nicht einen Augenblick auf der faulen Bärenhaut liegen darf, und damit basta! . . . Nachher mag sie meinetwegen nichtsnutzig werden, die große Dame spielen und ihre Hände in den Schoß legen!«

»Das wird sie nie, Madame Hellwig!« sagte Felicitas, indem sie mit einem flüchtigen Lächeln ihre schöngeformten, aber braunen und hartgearbeiteten Hände betrachtete; »Arbeit gehört mit zu ihren Lebensbedingungen . . . Wollen Sie die Güte haben, mir die Beete zu bezeichnen, damit ich anfangen kann?«

Der Professor, welcher der herben Standrede seiner Mutter gegenüber seine gelassene Haltung angenommen hatte, wandte sich jäh um nach Felicitas, und ein tief erbitterter Blick traf ihr Auge.

»Ich verbiete es Ihnen hiermit nochmals!« befahl er mit finster gerunzelten Brauen rauh und entschieden. »Und wenn meine Einsprache als Vormund Ihren unbezähmbaren Trotz nicht zu beugen vermag, so appelliere ich jetzt als Arzt an Ihre Vernunft . . . Sie haben sich bei Aennchens Pflege überangestrengt, Ihr ganzes Aussehen beweist es. Binnen kurzem wollen Sie das Haus meiner Mutter verlassen – es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, daß Sie wenigstens einen gesunden Körper in Ihren künftigen Wirkungskreis mitbringen.«

»Nun, das ist doch noch ein Grund, der sich hören läßt,« meinte Frau Hellwig. Für ihr Ohr, das bisher vergebens auf einen Tadel ihres Sohnes gewartet hatte, klangen die Worte »unbezähmbarer Trotz« offenbar wie Musik. »Sie mag meinetwegen für heute nach Hause gehen,« setzte sie hinzu, »obgleich ich eigentlich nicht recht begreife, wie das bißchen Pflege sie elend gemacht haben soll. Sie ist jung und hat ihr gutes Essen dabei gehabt . . . Da sieh dir andere Mädchen in ihren Verhältnissen an, Johannes, die müssen Tag und Nacht arbeiten und haben doch rote Backen!«

Sie nahm den Arm der jungen Witwe und ging über die Wiese zurück, in der Meinung, daß ihr Sohn folge; auch die Regierungsrätin vermied es, offenbar aus Trotz und Groll, sich nach ihm umzusehen. Anfänglich hatte es auch den Anschein, als wolle er mitgehen, allein schon nach wenigen Schritten wandte er sich um, und während der letzte Schimmer des verunglückten blaßblauen Reisekleides hinter der nächsten Taxushecke verschwand, schritt er langsam wieder auf den Nußbaum zu. Er blieb einige Sekunden lang schweigend neben Felicitas stehen, die eben die Bänder ihres runden Strohhutes unter dem Kinn zusammenband . . . Plötzlich bog er sich nieder und sah unter die breite Hutkrempe, welche Stirn und Augen des Mädchens vollkommen bedeckte. Noch war die Erbitterung in seinen Zügen vorherrschend; als jedoch ihr Auge dem seinen begegnete, da schmolz sein Blick.

»Sie fühlen wohl gar nicht, daß Sie mir heute sehr weh gethan haben?« fragte er kopfschüttelnd und so weich, als ob er zu einem Kinde spräche.

Sie schwieg.

»Felicitas, es ist mir nicht möglich, zu denken, daß Sie zu jenen Frauen gehören sollten, denen die Bitte um Verzeihung aus einem Männermunde ein ersehnter Genuß ist,« sagte er jetzt sehr ernst und nicht ohne eine Beimischung von Schärfe.

Sie fuhr empor. Ihr weißes Gesicht mit dem wahrhaft keuschen, mädchenhaft reinen Ausdruck errötete bis über die Stirn.

»Eine solche Bitte hat in meinen Augen stets etwas Peinliches für den Gekränkten,« antwortete sie nach einer Pause in sanfterem Tone, als sie gewohnt war, ihm gegenüber zu sprechen; »von solchen aber, denen in der Welteinrichtung eine besondere Würde zugestanden ist, möchte ich sie um keinen Preis hören . . . Kinder sollen die Eltern um Verzeihung bitten, aber ich kann mir den Fall nicht umgekehrt denken. Ebensowenig –« sie schwieg, während abermals die zarte Röte über ihr Gesicht flog.

»Ebensowenig wollen Sie den Mann gedemütigt vor sich sehen, nicht wahr, Felicitas?« ergänzte er rasch den unterbrochenen Satz, in seiner Stimme klang es wie Frohlocken. »Aber eine so hochherzige Anschauungsweise hat auch ihre Konsequenzen,« fuhr er nach einem momentanen Schweigen fort. »Und nun seien Sie einmal recht gut und ruhig und überlegen Sie, ob es nicht die Pflicht des Weibes ist, dem Manne hilfreich die Hand zu bieten, wenn er einen Irrtum ausgleichen möchte! . . . Halt, jetzt will ich keine Antwort hören! Ich sehe schon an Ihrem Auge, daß sie ganz anders ausfallen würde, als ich wünsche . . . Ich will geduldig warten – einmal kommt doch vielleicht eine Zeit, wo die böse Tanne auf dem Felsen ihre Waffen nicht braucht!«

Er ging. Ihr Auge haftete auf dem Boden, an dem Kleeblatte, das seinen Händen entglitten war, und das er als Symbol des Glückes gepflückt hatte. Es lag, die vier Blättchen sauber ausbreitend, wie hingemalt auf den Stoppeln des Wiesengrases – aufnehmen durfte sie es nicht – sie hatte ja nichts mit seinem Glücke zu schaffen – aber – sie umschritt in einem weiten Bogen den kleinen grünen Propheten – zertreten wollte sie es auch nicht!


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