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Am anderen Morgen – es war noch ziemlich früh – benutzte Felicitas einen freien Augenblick und schlüpfte hinauf zur Tante Cordula, um ihr mitzuteilen, daß Heinrichs Expedition bei der armen Tischlerfamilie geglückt sei. Auf dem Vorplatze des zweiten Stockes kam ihr Heinrich entgegen, er schmunzelte seelenvergnügt und deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück nach der Thür, die er gestern bekränzt hatte. Der Blumenschmuck war verschwunden; ein förmlicher Knäuel von Guirlanden lag am Boden, und an der Wand hin reihten sich verschiedene Blumenvasen.
»Hui, das flog 'runter!« flüsterte Heinrich. »Eins, zwei, drei, da lag das Blümelein Vergißmeinnicht auf der Erde – ich kam gerade dazu, wie er auf der Leiter stand.«
»Wer?«
»Nun, der Professor . . . Er machte ein schreckliches Gesicht, ich hatte aber auch das Dings für alle Ewigkeit festgenagelt – er hat fürchterlich reißen und zerren müssen . . . Aber denke dir nur, Feechen, er gab mir die Hand, wie ich ihm guten Morgen wünschte – das hat mich doch gewundert.«
Felicita's Lippen kräuselten sich – sie war im Begriffe, etwas Herbes zu sagen, aber plötzlich huschte sie um die Ecke in den dunklen Korridor; drin im Zimmer hatten sich rasche Schritte der Thür genähert.
Als sie später aus der Mansarde zurückkehrte und die Treppe hinabgehen wollte, da klang die Stimme der Regierungsrätin aus dem ersten Stock herauf; sie sprach in sanft klagenden Tönen – es gab wohl nicht leicht etwas Melodischeres, als das Organ dieser Frau.
»Die armen Blumen!« klagte sie.
»Wie hast du mir aber auch das anthun können, Adele!« antwortete eine männliche Stimme. »Du weißt doch, daß mir dergleichen Verherrlichungen ein Greuel sind.«
Es war dieselbe kalte Stimme, die einst auf die kleine Fee einen so unauslöschlich schlimmen Eindruck gemacht; nur klang sie tiefer und hatte in diesem Augenblicke eine Beimischung tadelnden Verdrusses. Felicitas bog sich über das Geländer und sah scheu, mit angehaltenem Atem hinab. Da schritt er, vorsichtig die kleine Anna an der Hand führend, langsam Stufe um Stufe hinunter! Es lag nichts, auch gar nichts in dieser Erscheinung, was sich hätte in Einklang bringen lassen mit dem Professortitel. Diese Vertreter des Gesamtwissens hatten für das junge Mädchen den Nimbus des Vornehmen und der Erhabenheit; hier aber suchte sie vergebens nach diesen Eigenschaften. Eine kernige, wie es schien, eisenfest zusammengefügte Gestalt mit eckigen Bewegungen und von, wenn auch sicherer, doch nichts weniger als eleganter Haltung; gerade in ihr lag etwas Hartnäckiges, Unverbindliches; man hätte meinen können, dieser Nacken habe sich noch nie, nicht einmal im Gruße gebeugt. Und wie wenig war der Kopf geeignet, diese Meinung zu widerlegen! Er bog einen Moment das Gesicht aufwärts, dies unschöne Gesicht, das einst der Vorstellung des Kindes vom fernen Johanneskopfe so wenig entsprochen; es war nicht wohlwollender geworden in seinem Ausdrucke. Ein rötlich blonder, sehr starker, krauser Bart bedeckte das Kinn und den unteren Teil der Wangen und fiel fast bis auf die Brust herab, und zwischen den buschigen Augenbrauen, die in diesem Momente wohl auch noch finsterer zusammengezogen wurden im Verdruß über die übel angebrachte Verherrlichung, lagerte eine tiefe Falte. Allein diese nichts weniger als aristokratisch und einnehmend gebildete Außenseite hatte trotzdem etwas Bedeutendes, und zwar durch den unwiderleglichen Ausdruck männlicher Kraft und eines starken Willens.
Und jetzt bog er sich nieder zu der mühsam hinabkletternden Kleinen und nahm sie auf den Arm.
»Komm her, mein Kind, es will doch nicht so recht gehen mit den armen Beinchen,« sagte er. Das klang überraschend mild und mitleidsvoll.
»Es ist aber auch kein Spielerskind, zu dem er spricht,« dachte Felicitas, und ihr Herz schwoll voll Bitterkeit.
Die Morgenstunden wurden sehr geräuschvoll für das stille Haus; die Glocke an der Hausthür hörte fast nicht auf, zu klingeln. Es gab auch in dieser kleinen Stadt, so gut wie in jeder anderen, Leute genug, die ihre Alltagsgesichter gar zu gern von der Glorie eines berühmten Mannes mit beglänzen lassen, ohne zu bedenken, daß gerade dieser Strahl ihr armes Ich unerbittlich beleuchtet. Diese Besuche kamen übrigens für Felicitas sehr erwünscht, denn obgleich sie nichts sehnlicher erhoffte, als eine rasche Entscheidung, so bebte sie doch vor dem ersten Zusammenstoße, und plötzlich fühlte sie, daß sie noch nicht gesammelt und ruhig genug sei – jede Stunde Zeit schien ihr deshalb ein Gewinn. Allein die Machthaber in der Wohnstube hatten jedenfalls den Wunsch, die Katastrophe möglichst rasch in Szene zu setzen, denn kaum nachdem das Mittagessen abgetragen war, kam Heinrich in die Küche; er betrachtete Felicitas' Anzug aufmerksam, klopfte ein wenig Mehlstaub von ihrem dunklen Aermel und sagte mit einem etwas unsicheren Blicke. »Da am Ohre ist der Zopf ein wenig aufgegangen, Feechen – das steck erst fest, der da drin darf so etwas nicht sehen, das weißt du . . . Du sollst nämlich gleich 'nüber in dem sel'gen Herrn sein Zimmer kommen – dort sind sie . . . na, na, wer wird denn gleich so erschrecken! – bist ja kreideweiß geworden. Tapfer, Feechen – den Kopf kann er dir nicht abreißen!«
Felicitas öffnete die Thür und trat leise in das ehemalige Zimmer des Onkels. Noch lag es schneebleich auf ihren Lippen und Wangen, dadurch erschien aber auch ihr Gesicht für den Augenblick fast geisterhaft still und unbeweglich.
Genau wie vor neun Jahren, an jenem stürmischen Morgen, saß Frau Hellwig im Lehnstuhle, nahe dem Fenster. Neben ihr, den Rücken nach der Thür gewendet und die gefalteten Hände rückwärts gekreuzt, stand er, der dies Geschöpf dort eigenmächtig auf den Weg der Dienstbarkeit gedrängt und nie und nimmer geduldet hatte, daß diese dunkle Linie sich auch nur die kleinste Ausbiegung erlaube, der es stets von weiter Ferne unerbittlich gestraft hatte, ohne je zu fragen. »Bist du auch schuldig?«
Felicitas hatte mit Recht vor dieser ersten Begegnung gezittert, denn jetzt, bei seinem Anblicke, fühlte sie, wie Groll und Erbitterung übermächtig in ihr wurden, und doch war ihr Selbstbeherrschung nie nötiger gewesen, als in diesem entscheidenden Augenblicke.
»Da ist Karoline,« sagte Frau Hellwig.
Der Professor drehte sich um und zeigte ein sehr erstauntes Gesicht. Wahrscheinlich hatte er nie daran gedacht, daß das Spielerskind, welches einst auf derselben Stelle mit dem kleinen Fuße gestampft und sich wie unsinnig gebärdet hatte, auch wachsen und ruhig aussehen könne. Jetzt stand die Erwachsene da, hoch und stolz aufgerichtet, wenn auch ihr Blick am Boden hing.
Er schritt auf sie zu und machte eine Bewegung mit dem rechten Arme – wollte er ihr auch etwa die Hand reichen, wie er bei Heinrich gethan? Ihr Herz drehte sich fast um bei dem Gedanken, die feinen Finger bogen sich krampfhaft nach der innern Handfläche und unbeweglich lagen die Arme am Körper, aber die Wimpern hoben sich, und ein Blick voll tödlicher Kälte traf den ihr gegenüberstehenden Mann – so mißt ein erbitterter Gegner den anderen. Das mochte dem Professor auch sofort klar werden; er wich unwillkürlich zurück und maß scharf die ganze Gestalt vom Kopfe bis zu den Füßen.
In diesem Moment wurde an die Thür geklopft, und gleich darauf steckte die Regierungsrätin ihr blondes, lachendes Köpfchen herein.
»Ist's erlaubt?« bat sie mit schmeichelnder Stimme, und ehe geantwortet werden konnte, stand sie mitten im Zimmer.
»Ah, ich komme wohl gerade recht zum peinlichen Verhör?« fragte sie. »Meine liebe Karoline, jetzt werden Sie wohl einsehen lernen, daß es auch noch einen andern Willen gibt, als den Ihrigen, und für den armen Wellner kommt endlich die Entscheidung.«
»Ich bitte dich, Adele, lasse jetzt Johannes reden!« rief Frau Hellwig ziemlich kurz und ungnädig.
»Nun, bleiben wir vorläufig bei diesem einen Punkte stehen,« sagte der Professor. Er kreuzte die Arme über der Brust und lehnte sich an einen Tisch. »Wollen Sie mir sagen, weshalb Sie den ehrenvollen Antrag des Mannes zurückweisen?«
Sein ruhiges, leidenschaftslos Auge ruhte prüfend auf dem jungen Mädchen.
»Weil ich ihn verachte. Er ist ein elender Heuchler, der die Frömmigkeit als Deckmantel für seine Habgier und seinen Geiz benutzt,« entgegnete sie fest und sicher; es galt jetzt durch ruhige, rücksichtslose Offenheit die Schläge zu parieren.
»Gott, welche Verleumdung!« rief die Regierungsrätin. Sie schlug in schmerzlichem Unwillen die weißen Hände zusammen, und ihre großen, blauen Augen suchten anklagend den Himmel. Frau Hellwig aber stieß ein kurzes, rauhes Lachen aus.
»Da hast du ja gleich ein Pröbchen von der Art und Weise deiner sogenannten Mündel, Johannes!« rief sie. »Dies Mundwerk ist stets fertig mit Verachtung und dergleichen – ich kenne das! . . . Mach's kurz! Du kommst nicht um ein Haar breit weiter mit ihr, und ich habe keine Lust, ehrbare Leute, die in meinem Hause aus und ein gehen, lästern zu hören!«
Der Professor antwortete nicht. Während er mit der Hand langsam über den Bart strich – es war eine merkwürdig schöne schmale Hand – hing sein Blick an der Regierungsrätin, die noch wie ein betender Seraph dastand. Es schien fast, als habe er nur ihren Ausruf gehört, seine Lippen verzogen sich ein wenig – wer vermochte in dieser eigenartigen Physiognomie zu lesen?
»Du hast ja gewaltige Charakterstudien in den wenigen Wochen deines Hierseins gemacht, Adele!« sagte er. »Wenn man in der Weise als Anwalt auftreten kann –«
»Um Gott, Johannes,« unterbrach ihn die junge Witwe lebhaft, »du wirst doch nicht denken, daß ein besonderes Interesse –« sie schwieg plötzlich, und ein tiefes Rot schoß in ihre Wangen.
Jetzt blitzte es entschieden wie Spott aus dem Auge des Professors.
»Sämtliche Damen, die bei der Tante aus und ein gehen, stimmen darin überein, daß Wellner ein Ehrenmann ist,« setzte sie nach einer Pause der Sammlung entschuldigend hinzu. »Die Missionsgelder gehen durch seine Hände und die Gläubigen finden keinen Tadel an ihm –«
»Und darauf schwörst du nun natürlicherweise,« ergänzte der Professor kurz abbrechend. »Ich kenne den Mann nicht,« wandte er sich zu Felicitas, »und kann deshalb nicht wissen, inwieweit Ihre Anklage gerechtfertigt ist.«
»Johannes!« unterbrach ihn Frau Hellwig gereizt.
»Bitte, Mutter, wir wollen das später allein erörtern,« sagte er ruhig und beschwichtigend. »Zwingen wird Sie natürlich niemand,« fuhr er zu dem jungen Mädchen gewendet, fort. »Ich habe Ihnen allerdings bis hierher nie das Recht eingeräumt, in irgend einer Angelegenheit selbst zu entscheiden, einmal, weil ich Sie unter einer Führung wußte, der ich mein unbedingtes Vertrauen schenke, und dann, weil Sie ein Charakter sind, der sich gern gefährlicher Uebergriffe schuldig macht und sich stets gegen das auflehnt, was zu seinem wahren Wohl geschieht . . . In dieser Frage jedoch hört meine Macht auf. Ich kann Ihnen sogar in mancher Beziehung nicht unrecht geben, denn Sie sind jung, und er steht, wie ich höre, in vorgerücktem Alter – das taugt nicht. Ein zweiter Stein des Anstoßes ist die Standesverschiedenheit; für den Augenblick wird er wohl über Ihre Herkunft hinwegsehen – später tritt in solchen Dingen gewöhnlich ein Rückschlag ein, Störung des Gleichgewichts rächt sich stets.«
Wie klang das vernünftig und – herzlos! Er war in diesem Momente genau der Verfasser aller jener schriftlichen Maßregeln, die nie den verfemten Boden aus dem Auge verloren, dem das Spielerskind entsprossen. Er verließ seinen bisherigen Platz und trat vor das junge Mädchen, dessen Lippen in einem bitteren Lächeln zuckten.
»Sie haben uns schwer zu schaffen gemacht,« sagte er und hob den Zeigefinger. »Sie haben es durchaus nicht verstanden und, wie ich annehmen muß, auch nicht gewollt, die Zuneigung meiner Mutter zu gewinnen . . . So wie die Sachen liegen, werden Sie selbst nicht wünschen, länger hier im Hause zu bleiben.«
»Ich ginge am liebsten in dieser Stunde noch.«
»Das glaube ich Ihnen gern, Sie haben ja stets deutlich genug gezeigt, daß Ihnen unsere strenge und gewissenhafte Fürsorge unerträglich ist.« Sein Ton hatte jetzt doch eine Beimischung von Aerger und Gereiztheit. »Es ist eben eine völlig verlorene Mühe unsererseits gewesen, die Zugvogelnatur in Ihnen unterdrücken zu wollen . . . Nun, Sie sollen haben, was Sie wünschen, aber ich halte meine Aufgabe noch nicht für beendet – ich will erst noch den Versuch machen, Ihre Angehörigen aufzufinden.«
»Du warst früher anderer Ansicht über diesen Punkt,« warf Frau Hellwig spöttisch ein.
»Die hat sich im Laufe der Dinge geändert, wie du siehst, Mutter,« erwiderte er ruhig.
Felicitas schwieg und sah vor sich nieder. Sie wußte, daß dieser Schritt ohne Erfolg bleiben würde – Tante Cordula hatte ihn längst gethan. Vor vier Jahren war durch die Redaktion einer der ersten Zeitungen ein Aufruf an den Taschenspieler d'Orlowsky und die Verwandten von dessen Ehefrau ergangen, er hatte alle namhaften Blätter durchlaufen, aber bis zur Stunde war niemand erschienen. Das konnte das junge Mädchen freilich nicht sagen.
»Ich werde heute noch die nötigen Schritte thun,« fuhr der Professor fort, »und glaube, daß ein Zeitraum von zwei Monaten völlig genügt, um Aufschluß zu gewinnen . . . Bis dahin stehen Sie noch unter meiner Vormundschaft und im dienstlichen Verhältnisse zu meiner Mutter. Sollte sich jedoch, wie ich fürchte, keines Ihrer Anverwandten auffinden lassen, dann –«
»Dann bitte ich um meine sofortige Freiheit nach Ablauf der gestellten Frist!« unterbrach ihn Felicitas rasch.
»Nein, das klingt denn doch zu abscheulich!« rief die Regierungsrätin entrüstet. »Sie thun ja wirklich, als hätte man Sie in diesem Hause des Friedens und der christlichen Barmherzigkeit gemartert und gekreuzigt! . . . Undank!«
»Sie meinen also, umseren ferneren Beistand entbehren zu können?« fragte der Professor, ohne den Zorneserguß der jungen Witwe zu beachten.
»Ich muß dafür danken.«
»Nun gut,« sagte er nach einem Moment des Schweigens kurz, »nach Verlauf von zwei Monaten soll Ihnen freistehen, zu thun und zu lassen, was Sie wollen!« Er wandte sich ab und schritt nach dem Fenster.
»Du kannst gehen!« gebot Frau Hellwig rauh.
Felicitas verließ das Zimmer.
»Also noch ein achtwöchentlicher Kampf!« flüsterte sie, während sie durch die Hausflur schritt. »Es wird ein Kampf auf Leben und Tod werden.«