Eugenie Marlitt
Das Geheimnis der alten Mamsell
Eugenie Marlitt

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21.

Nach einer Reihe blauer Tage voll Sonnenglanz und Frühlingsluft hing heute ein bleifarbener Regenhimmel über der kleinen Stadt X.; er lag fest auf dem hohen Turme, der, eine Art Wahrzeichen des kleinen Städtchens, weiß, rund und mit einer leuchtend grünen Kuppel wie ein Spargelstengel in die Lüfte stieg. Das alte Kaufmannshaus am Markt nahm in solch trüber Beleuchtung stets den vornehm düsteren, verschlossenen Charakter jener Zeiten wieder an, wo noch die Bilder raubritterlicher Ahnen in seinen Sälen hingen, und der vor einer neuen Zeit geflüchtete Geist des Mittelalters finster und grollend in ihm hauste.

Heute hingen sämtliche Rouleaus herabgelassen hinter den Fenstern der großen Vorderfront. Die Regierungsrätin litt an einer heftigen Migräne und war überhaupt in einer unbeschreiblichen Aufregung; man hatte ihr Zimmer verdunkelt und vermied jedes laute Geräusch. Auch das Frauengesicht, das jahraus, jahrein jeden Morgen pünktlich neben dem Asklepiasstocke am Fenster des Erdgeschosses erschien, ließ sich heute nicht sehen. Der graue Himmel droben war eine schlimme Vorbedeutung für den Tag, der in der That einer der grauesten, mißfarbigsten im Leben der großen Frau werden sollte – es war der Tag der Testamentseröffnung. Mit völliger Uebergehung ihrer Person waren nur ihre beiden Söhne und der Hausknecht Heinrich auf das Justizamt beschieden worden, aber sie vertrat ihren abwesenden Sohn Nathanael und mußte deshalb der Eröffnung beiwohnen.

Gegen Mittag kehrte sie in Begleitung des Professors über den Markt zurück, Heinrich folgte in bescheidener Entfernung . . . Sterbefälle und gefährliche Krankheiten im Kreis ihrer Angehörigen waren einflußlos auf die marmorharten Züge der großen Frau geblieben; ihr starker Geist, der sich nicht beugen ließ, ihre tiefe Frömmigkeit, die sich stets thränenlos dergleichen Heimsuchungen gefügt hatte, waren gar oft mancher schwachen, verzagenden Frauen- und Mutterseele als erhebendes Vorbild hingestellt worden . . . Heute nun hatte die kleine Stadt das ungewohnte Schauspiel, dies Muster unerschütterlicher Charakterstärke aus dem Geleise weichen zu sehen. Auf den Wangen der stattlichen Frau lag eine verräterische Glut innerer Aufregung, ihr feierlich gemessener, stets im Kirchenstil gehaltener Gang zeigte Hast und Eile, und wenn sie auch nur leise in ihren schweigend neben ihr herschreitenden Sohn hineinsprach, so ließ sich doch nicht verkennen, daß es heftige Worte waren, die sie flüsterte.

Die Regierungsrätin hatte trotz ihrer Kopfschmerzen jedenfalls hinter einem der Rouleaus auf der Lauer gestanden und die Zurückkehrenden erwartet, denn als sie die Hausflur betraten, kam die junge Witwe zwar mit erdfahlen Wangen und eingesunkenen Augen, aber trotzdem in äußerst geschmackvoller Morgentoilette die Treppe herab, um nach dem Ergebnis zu fragen. Sie traten zusammen in das Wohnzimmer.

»Nun, gratuliere uns doch, Adele!« rief die große Frau tief erbittert und maliziös auflachend. »Zweiundvierzigtausend Thaler Barvermögen ist da, und die Familie Hellwig, der das Geld von Gott und Rechts wegen gehört, kriegt keinen Groschen! . . . Dies Testament ist das hirnverrückteste Machwerk, das sich denken läßt, aber man darf um Gottes willen mit keinem Finger daran rühren und muß sich dies himmelschreiende Unrecht ruhig gefallen lassen! . . . Da sieht man, wohin es führt, wenn die Männer Schlafmützen sind; wäre ich Chef des Hauses gewesen, mir hätte das nun und nimmer passieren dürfen! . . . Ich begreife nicht, wie mein seliger Mann, ohne die mindeste Sicherheit in der Tasche, die alte Person unter dem Dache so ohne alle Aufsicht hat schalten und walten lassen!«

Der Professor war, die Hände auf den Rücken gelegt, schweigend hin und wieder gegangen. Auf seiner Stirne lag eine düstere Wolke, und unter den gefurchten Brauen hervor zuckten Blitze der Entrüstung nach seiner Mutter hinüber. Jetzt blieb er vor ihr stehen.

»Wer hat es denn durchgesetzt, daß die alte Tante hinauf unter das Dach verwiesen worden ist?« fragte er ernst und nachdrücklich. »Wer hat den damaligen Chef des Hauses, meinen Vater, in seiner Abneigung gegen sie bestärkt, und wer ist unerbittlich streng gegen eine Annäherung der alten Verwandten an uns Kinder gewesen? . . . Das warst du, Mutter! . . . Wenn du erben wolltest, dann mußtest du ganz anders handeln!«

»Nun, du meinst doch nicht etwa, ich hätte mich zu ihr auf einen guten Fuß stellen sollen? Ich, die ich im Herrn gewandelt bin mein lebenlang, und diese schuldbeladene Person, die den Sonntag entheiligte, die nie im wahren Glauben gelebt hat! – sie wird jetzt wissen, daß sie vor dem Angesicht des Herrn auf ewig verstoßen ist . . . Nein, dazu hätte mich keine Macht der Erde gebracht! . . . Aber sie mußte für unzurechnungsfähig erklärt und unter Kuratel gestellt werden, und dazu hätten deinem Vater tausend Mittel und Wege zu Gebote gestanden.«

Das Gesicht des Professors wurde ganz blaß; er warf einen tief erschrockenen Blick auf seine Mutter, dann nahm er stillschweigend seinen Hut und ging hinaus . . . Er hatte eben in einen Abgrund geblickt . . . Und dieser starre Buchstabenglaube, dieser entsetzliche christliche Hochmut, unter welchem ein bodenloser Egoismus mit dem Anschein vollster Berechtigung wuchern durfte, sie waren ihm viele Jahre lang ein Glorienschein gewesen, der das Haupt seiner Mutter umstrahlt hatte! . . . Das war der Frauencharakter, den er so lange als das Urbild der Weiblichkeit festgehalten! Er mußte sich eingestehen, daß er einst auf demselben Boden gestanden, wie seine Mutter und der Führer seiner Jugend, ja, sie hatten ihm kaum genug gethan in Unduldsamkeit und Glaubensstrenge; auch er war damals ein rastloser Kämpfer gewesen, um diese Partei zu einer mächtigen zu machen, er hatte um Seelen geworben und sie in sein Bereich zu ziehen gesucht, in der starren Ueberzeugung, daß er sie dem ewigen Heil zuführe . . . Und jene arme, schuldlose Waise mit dem Köpfchen voll klarer, idealer Gedanken, mit dem stolzen, rechtschaffenen, tiefsinnigen Gemüt – er hatte sie mit harter Hand gepackt und in jene lichtlose, tödlich kalte Region gestoßen . . . Wie mußte sie gelitten haben, die süße Nachtigall unter – den Raben! . . . Er legte die Hand über die Augen, als ob ihm schwindle, stieg langsam die Treppe hinauf und verschloß sich in sein einsames Studierzimmer.

Während dieser Verhandlungen im Wohnzimmer spielte in der Gesindestube des Hellwigschen Hauses eine ähnliche Szene der Aufregung und Entrüstung. Die alte Köchin lief mit fliegenden Haubenbändern auf und ab, als werde sie gejagt; Heinrich aber stand vor dieser weiblichen Gemütsbewegung unerschütterlich wie der Fels am Meere. Er war im Sonntagsstaat, und sein Gesicht zeigte ein seltsames Gemisch von Freude, Wehmut und Laune.

»Du mußt nicht etwa denken, daß ich neidisch bin, Heinrich, das wär' ja unchristlich!« rief Friederike. »Ich gönn' dir's wirklich! . . . Zweitausend Thaler!« Sie schlug die Hände zusammen, rang sie und ließ sie zusammengefaltet wieder sinken. »Du hast mehr Glück als Verstand, Heinrich! . . . Du lieber Gott, was hab' ich mich geplagt mein lebenlang, wie bin ich fleißig in die Kirche gegangen, im Winter, in der strengsten Kälte, wie hab' ich zum lieben Gott gebetet, er solle mich doch auch einmal so glücklich machen – nichts, gar nichts hat mir's geholfen, und dem Menschen da fällt so ein unmenschliches Glück zu! . . . Zweitausend Thaler, das ist ja ein Heidengeld, Heinrich! . . . Aber eines will mir dabei noch nicht recht in den Kopf – kannst du denn das Geld auch mit gutem Gewissen annehmen? Eigentlich durfte dir die alte Mamsell keinen Pfennig vermachen, denn was da ist, gehört von Gott und Rechts wegen unserer Herrschaft . . . Wenn man's recht bei Licht besieht, stiehlst du ja förmlich das Geld, Heinrich; ich weiß doch nicht, was ich an deiner Stelle thäte –«

»Ich nehm's, ich nehm's, Friederike,« sagte Heinrich in völliger Gemütsruhe.

Die alte Köchin lief in die Küche und schlug krachend die Thür hinter sich zu.

Das Testament der alten Mamsell, das so heftige Stürme im alten Kaufmannshause hervorrief, war bereits vor zehn Jahren auf dem Justizamte niedergelegt worden. Es lautete, von der Testatorin selbst aufgesetzt, nach dem üblichen Eingange, im wesentlichen folgendermaßen:

»1. Im Jahre 1633 hat Lutz von Hirschsprung, ein Sohn des von schwedischen Soldaten ermordeten Adrian von Hirschsprung, die Stadt X. verlassen, um sich anderweitig anzusiedeln. Dieser Seitenlinie des hier erloschenen alten thüringischen Rittergeschlechts vermache ich:

  1. dreißigtausend Thaler aus meinem Barvermögen,
  2. das goldene Armband, in dessen Mitte einige altdeutsche Verse, umgeben von einem Blumenkranze, eingraviert sind,
  3. das Bachsche Opernmanuskript; es ist meiner Handschriftensammlung berühmter Komponisten einverleibt, liegt in der Mappe Nr. 1 und trägt den Namen: Gotthelf von Hirschsprung.

Ich ersuche hiermit die wohllöbliche Justizbehörde, sofort einen nötigenfalls wiederholten öffentlichen Aufruf an etwaig existierende Abkömmlinge besagter Seitenlinie ergehen zu lassen. Sollte sich jedoch binnen Jahresfrist kein Ansprucherhebender melden, so ist es mein Wunsch und Wille, daß das Kapital von dreißigtausend Thalern, nebst Erlös von dem zu verkaufenden Armbande und dem ebenfalls zu veräußernden Opernmanuskripte, dem wohllöblichen Magistrate der Stadt X. übergeben werde, und stifte ich hiermit genanntes Kapital als Fonds zu folgendem Zwecke:

2. Die Zinsen des sicher anzulegenden Kapitals sollen für alle Zeiten alljährlich zu gleichen Teilen an acht Lehrer der gesamten öffentlichen Unterrichtsanstalten in X. verabfolgt werden, und zwar in der Weise, daß in regelmäßiger Abwechselung keiner der Herren bevorzugt oder übergangen werde. Direktoren und Professoren haben keinen Anspruch.

Ich gründe diese Stiftung in dem festen Glauben, daß ich ebenso gemeinnützig testiere, als wenn ich eine öffentliche wohlthätige Anstalt ins Leben rufe. Noch ist der Lehrerstand das Stiefkind des Staates, noch sind die Männer, deren Wirken einen gewaltigen Stein in der Basis der Volkswohlfahrt bildet, quälenden pekuniären Sorgen ausgesetzt, während an ihren geistigen Anstrengungen Millionen sich bereichern. Möchten auch andere ihre Augen auf diesen Schatten in unserer hellen, fortschreitenden Zeit richten und einen Beruf heben und stützen, dessen hohe Bedeutung noch von so vielen unterschätzt wird!

3. Mein sämtliches Silberzeug und alles, was ich an Schmuck besitze, mit Ausnahme obigen Armbandes, fällt an den derzeitigen Chef des Hauses Hellwig zurück, als alter Familienbesitz, der nicht in fremde Hände kommen soll, desgleichen alles, was ich an Betten, Wäsche und Möbeln hinterlasse.

4. Meine Handschriftensammlung berühmter Komponisten, mit Ausnahme des berühmten Bachschen Opernmanuskriptes, soll von Gerichts wegen verkauft werden. Den Betrag der Verkaufssumme bestimme ich meinen beiden Großneffen, Johannes und Nathanael Hellwig, in Anbetracht, daß ich stets beklagt habe, ihnen nie zu Weihnachten etwas bescheren zu dürfen.«

Es folgten noch Legate an viele arme Handwerker und dergleichen mehr im Betrage von zwölftausend Thalern, worunter Heinrich mit zweitausend und die Aufwartefrau mit eintausend Thalern bedacht waren.

Heinrich hatte Felicitas den Inhalt des Testamentes mitgeteilt, so gut er es eben vermochte. Der Ort, wo die alte Mamsell das Silber aufbewahrt hatte, war also nicht näher bezeichnet, das ging aus seiner Mitteilung hervor. Das junge Mädchen frohlockte. Wenn das Geheimfach nicht durch irgend einen Zufall entdeckt wurde, dann war es in ihre Hände gegeben, den grauen Kasten zu vernichten, ohne daß ihn das Auge irgend eines anderen Sterblichen erblickte.

»Siehst du, Feechen, das verwinde ich in meinem ganzen Leben nicht!« sagte Heinrich traurig – sie saßen allein zusammen in der Gesindestube – »du sollst nun einmal zu nichts kommen in der Welt! Hätte die alte Mamsell nur noch vierundzwanzig Stunden gelebt, da war das alte Testament jetzt umgestoßen, und du hättest das unmenschlich viele Geld gekriegt – sie hatte dich gar lieb.«

Felicitas lächelte. Der ganze Jugendmut, der sich seiner Kraft bewußt ist, dem nichts ferner liegt, als das Ringen um schnöden Gelderwerb, die Sorge um hilflose, alte Tage – lag in diesem Lächeln.

»Es ist ganz gut so, Heinrich,« entgegnete sie. »Alle die Armen, die bedacht worden sind, brauchen das Geld viel nötiger als ich, und bei der Verfügung über das Hauptkapital hat die Tante jedenfalls ihre sehr gewichtigen Gründe gehabt, die sie ohne Zweifel auch bei Abfassung eines späteren Testaments festgehalten haben würde.«

»Ja, ja, mit den Hirschsprungs muß es doch sein eigenes Bewenden gehabt haben!« meinte Heinrich nachdenklich. »Der alte Hirschsprung, auf den kann ich mich noch ganz gut besinnen; er war ein Schuhmacher und hat mir meine allerersten Stiefel gemacht – so was vergißt sich nicht. Er wohnte oben in der Gasse, gleich neben unserem Hause, und da hat's denn die Nachbarschaft gemacht, daß sein Junge und die alte Mamsell als Kinder miteinander gespielt haben. Der Junge ist später ein Student geworden und soll der alten Mamsell ihr Liebster gewesen sein – so sagen die Leute. Sie erzählen auch noch immer – und das wurmt mich am allermeisten – die Liebschaft eben wär' dem alten Herrn Hellwig, ihrem Vater, sein Grab gewesen. Er hätte sie nicht leiden wollen, und einmal wär' er mit der alten Mamsell so hart zusammengekommen, und sie hätte ihn dermaßen geärgert, daß er auf der Stelle tot umgefallen sei – wenn's wahr ist, ich glaub's nicht! . . . Gleich nachher soll die alte Mamsell nach Leipzig gereist sein; der Student hat das Nervenfieber gehabt, und sie ist bei ihm geblieben und hat ihn gepflegt bis zum letzten Augenblick. Darüber sind die Verwandten vollends wütend geworden; sie haben sie ein liederliches Weibsbild geschimpft, sie ist verstoßen worden, und das haben die Leute in X. gleich nachgemacht, und kein Mensch hat sie auch nur angesehen, wie sie endlich wiedergekommen ist. – Mag das nun alles sein, wie's will – es kommt mir doch kurios vor, daß da Leute erben sollen, die vor vielen, vielen Jahren ausgewandert sind – die waren ja mit dem Studenten schon längst gar nicht mehr verwandt – das mache mir einer klar!«

Am darauffolgenden Tage wurden in der Mansardenwohnung die Gerichtssiegel abgenommen.

Es waren unheimliche Tage, die auf den Akt der Entsiegelung folgten. Die einförmig graue, unbewegliche Wolkenschicht am Himmel schien unerschöpflich. Tag und Nacht plätscherte es auf Dächer und Straßenpflaster, und aus den Drachenköpfen am alten Kaufmannshause schossen die Wasserstrahlen in mächtigen Bogen hinunter auf den Marktplatz. Sie sahen grimmiger aus als je, diese metallenen, weit aufgerissenen Rachen am Dache; der mißfarbene Gischt, der drunten zwischen den Pflastersteinen zerschellend aufspritzte, schien eitel Gift und Galle; sie hatten aber auch viele Jahre hindurch gesehen, wie die Schätze im alten Hause sich mehrten und aufspeicherten, wie stets ein Geldstrom hineingeflogen war, von dem die Welt nur ein schwaches, streng überwachtes Bächlein zurückempfing, und nun geschah das Unerhörte – ein bedeutendes Vermögen ging aus diesem Hause hinaus ins Weite, und weder die eisenfesten Mauern, noch die Frau mit den eisenharten Zügen neben dem Asklepiasstock vermochten es zurückzuhalten. Felicitas hatte sich während der Regentage in die Kammer neben der Gesindestube zurückgezogen. Sie war, ohne Zweifel auf den ausdrücklichen Befehl des Professors, noch immer von der schweren Hausarbeiten dispensiert. Dagegen saß sie in hohe Stöße alten Leinenzeugs förmlich vergraben; sie mußte ausbessern, denn ganz umsonst sollte sie ihr Brot doch nicht essen.

Draußen im Hofe rauschte eintönig der ferne Brunnen, der Regen fiel unermüdlich in regelmäßigen Taktschlägen klatschend auf die breiten Blätter des Huflattichs, der in einer feuchten Ecke wucherte; bisweilen scholl das Krähen der Hähne aus dem Geflügelhof herüber, oder der graue Ton, den das farblose, matte Tageslicht über alle Gegenstände hauchte, wurde unterbrochen durch einzelne hereinfliegende Tauben, die auf den triefenden Simsen ihr hellleuchtendes Gefieder vollregnen ließen. Licht, Geräusch und Bewegung, alles erschien gedämpft und gedrückt, und diese Apathie erstreckte sich scheinbar auch über das bleiche Mädchen im Bogenfenster. Zwar hob und senkte sich die Hand mit dem Fingerhut unablässig und taktmäßig, aber das herrliche Profil neigte sich in fast eherner Unbeweglichkeit über die Arbeit. Das Leben mit seinen furchtbaren Erschütterungen hatte bis jetzt vergebens versucht, den Stempel des Leidens und der Ergebung in diese Züge zu graben – sie waren nur immer bleicher geworden, es hatte den Anschein, als wollten sie in dem Ausdruck eines ungebrochenen Geistes, einer zähen Widerstandsfähigkeit allmählich erstarren.

Allein unter dem groben, dunklen Stoffe, der die zarte Büste umschloß, klopfte ein tief beunruhigtes Herz, und während die Hand mechanisch allerlei Schäden zudeckte und ausglich, zermarterte sich der Geist über die mögliche Lösung schwerer Aufgaben und der damit verbundenen Konflikte . . . Auch die Behörde hatte vergebens nach dem Silberzeug und dem Schmuck der alten Mamsell gesucht. Anfänglich war dies Ergebnis von beschwichtigender Wirkung auf das angstvoll erregte Gemüt des jungen Mädchens gewesen; seit jenem Augenblick jedoch ging Heinrich verstört und in unbeschreiblicher Aufregung umher; Frau Hellwig hatte der Kommission gegenüber mit sehr zweideutigen Blicken nach dem Hausknecht betont, daß er und die Aufwartefrau seit vielen Jahren allein bei der alten Mamsell aus und ein gegangen, und auf diese einer Anklage sehr ähnliche Aussage der gestrengen Frau hatte man den ehrlichen Burschen ohne weiteres und in durchaus nicht schonungsvoller Weise ins Verhör genommen. Er war außer sich . . . Welche Qual für Felicitas, den bitteren Jammer dieses alten, treuen Freundes mit ansehen zu müssen, ohne daß auch nur eine Andeutung des Geheimnisses über ihre Lippen schlüpfen durfte! So ruhig und besonnen er sich sonst auch in allen Lebenslagen erwiesen, dieser Verdächtigung stand er geradezu fassungslos gegenüber, das junge Mädchen fürchtete mit Recht, er werde in dem unwiderstehlichen Drange, die abscheuliche Beschuldigung abzuschütteln, hastig und unvorsichtig sein, und hier war gerade die äußerste Vorsicht und Beharrlichkeit nötig, um das Geheimnis der alten Mamsell zu retten.

Es war jetzt doppelt schwierig, in die Mansardenwohnung zu gelangen. Der Professor hatte am Tage der Entsiegelung aufs höchste überrascht die Zimmer der geheimnisvollen alten Tante durchschritten und dieselben sofort als Chef des Hauses förmlich mit Beschlag belegt. Möglich, daß ihm angesichts der originellen und sinnigen Ausstattung der Räume plötzlich ein Licht aufgegangen war über den Geist und das Wesen der einsamen Verbannten. Nicht ein Möbel durfte von seiner Stelle gerückt werden, und er war zornig geworden, als die Regierungsrätin vor seinen Augen eine Nadel aus einem Stecknadelkissen gezogen hatte.

Es schien, als wolle er den Rest seines Aufenthaltes im mütterlichen Hause da oben unter dem Dache zubringen. Er kam nur zur Essenszeit in das Wohnzimmer des Erdgeschosses und dann stets mit einem »brummigen Gesicht«, wie Friederike sagte. Aber auch die Regierungsrätin hatte eine Art Leidenschaft für das »reizend stille Asyl« erfaßt; sie erbat es sich als eine besondere Gunst von ihrem Vetter, sich öfter in der Mansardenwohnung aufhalten zu dürfen. Rosa mußte die Fußböden reinigen, und die junge Witwe wischte mit höchsteigenen zarten Händen den Staub von den Möbeln. Tante Cordulas Zimmer standen somit nicht einen Augenblick unbewacht; zudem hatte der Professor das altväterische, unbequeme Schloß an der gemalten Thür entfernen und durch ein neues ersetzen lassen – Felicitas' Schlüssel war völlig unbrauchbar geworden – sie war jetzt lediglich auf den Weg über die Dächer angewiesen.

Bei dem Gedanken, daß sie gezwungen sei, wie ein lichtscheuer Verbrecher in festverschlossene Räume zu dringen, schüttelte sie sich stets vor Abscheu und Aufregung; dies Lauern auf den ersten unbewachten Moment, wo der ahnungslose Bewohner sich entfernt haben würde, war ihr entsetzlich. Nichtsdestoweniger behielt sie ihr Ziel fest im Auge, und es konnte sie plötzlich ein heißer Angstschauer überlaufen, wenn ihr einfiel, daß die Zeit, welche ihr noch zur Erfüllung ihrer Aufgabe verblieb, bereits auf zwei Wochen zusammengeschmolzen war.

Endlich waren die Regentage vorüber. Ein Stück klaren, blauen Himmels hing über dem Viereck des Hofes, der Lattich trocknete seine gründlich gewaschenen Blätter in einem herbkräftigen, frischen Lufthauche, emsig flogen die Schwalben, deren zahllose Nester an den Dächern und Fenstersimsen der Gebäude hingen, aus und ein, und ihr kleiner blauer Rücken funkelte förmlich in dem neuen warmen Sonnenlichte. Das war ein Tag, der ins Freie lockte. Vielleicht wurde heute draußen im Garten gegessen, und dann – war der Weg über die Dächer frei. Diese Hoffnung Felicitas' erfüllte sich jedoch nicht. Gleich nach Tische kam Rosa an das Bogenfenster und brachte ihr die Weisung, mit Aennchen in den Garten zu gehen, der Herr Professor habe es dem Kinde versprochen. Später werde die Herrschaft nachfolgen und das Abendbrot draußen einnehmen.

Da schritt nun Felicitas, die kleine Anna an der Hand, »auf Befehl« durch den einsamen Garten. Statt der Dachziegel oder des Bretterfußbodens der luftigen Galerie hatte sie den Kies der sonnenbeschienenen Gartenwege unter den Füßen . . . Während der Regenzeit hatten Tausende von Rosen ihre Kelche geöffnet. Auf dem eleganten Rasenrunde des Vordergartens standen hohe Stockrosen, der dunkle Samt ihrer Blüten schwebte hoch und unnahbar über den demütigen Gräsern, wie ein Königspurpur über dem Volke, aber im Gras- und Gemüsegarten, da war das niedrige Zentifoliengesträuch minder vornehm, die prachtvollen, strotzenden Kelche mit dem glühroten süßen Munde wiegten sich zutraulich neben dem dickköpfigen Kohlrabi, und ihr berauschender Duft floß mit dem kräftigen, aber gemeinen Geruch der Dill- und Schnittlauchbeete ineinander.

Felicitas strich mit gesenktem Haupte an der Blütenpracht vorüber, und das gutmütige Kind schwankte schwerfällig nebenher; der kleine Mund schwieg, kein Geplauder störte das Nachsinnen des jungen Mädchens. Sie dachte mit einer Art von wildem, brennendem Schmerz an die Rosenzeit vergangener Jahre – da hatten die Rosen doch anders geleuchtet und geduftet, als Tante Cordulas klare, liebestrahlende Augen noch nicht erloschen waren, als sie noch in stillen Sonntagnachmittagsstunden, neben der bewegungslos aufhorchenden Schülerin im Vorbau sitzend, mit ihrer ausdrucksvollen Stimme begeistert aus den Klassikern vorlas, während von der Galerie die betäubenden Duftwogen hereinquollen und weit draußen das grüne Thüringer Land sich hinstreckte . . . Da war auch allmählich das süße Heimatgefühl in der Seele des jungen Mädchens gewachsen, sie hatte sich zu Hause gewußt in den friedlichen, trauten Räumen, beschützt und geleitet von einer treumütterlichen Liebe; sie war, wenn auch nur auf einige Stunden, frei gewesen, ungefesselt in ihren Bewegungen, in den Anschauungen und Betrachtungen, die sich auf ihre Lippen drängten – darum wohl auch hatten die Rosen anders geleuchtet und geduftet, und die Welt war sonniger gewesen . . .

Sie hob den Kopf und sah über den Zaun in den Nachbargarten. Dort schimmerte das weiße Häubchen der Hofrätin Frank. Die alte Dame saß mit ihrem Sohne am Kaffeetische, er las ihr vor, während sie, behaglich in einen Fauteuil zurückgelehnt, die blitzenden Stricknadeln durch ihre Finger gleiten ließ. Das sah auch heimisch und friedlich aus. Felicitas sagte sich selbst, daß sie auch unter jenen Menschen in einem gewissen Grade frei sein werde, daß sie im Verkehr mit ihnen, die so human und hochgebildet, geistig fortschreiten müsse, auf keinen Fall war sie in den neuen Verhältnissen der Automat, der »auf Befehl« gehen und die Hände rühren mußte, während Augen und Lippen nie das Vorhandensein eines lebhaften, selbständigen Geistes verraten durften.

Trotz dieser Gedanken wurde es nicht heller in ihr. Es hatte schon vor Tante Cordulas Tode ein Etwas in ihrer Seele gelegen, über das sie selbst nicht klar werden konnte – eine dunkle Qual, die bei näherer Besichtigung zurückwich wie ein Phantom – nur eines stand fest: diese Stimmung hing mit der Anwesenheit ihres einstigen Peinigers zusammen. Wohl war sie vor seiner Ankunft der Ueberzeugung gewesen, seine persönliche Erscheinung werde ihren Groll, ihre Erbitterung noch verschärfen, aber daß diese Empfindungen so mächtig und in fast rätselhafter Weise verdunkelnd auf ihr ganzes übriges Seelenleben zurückwirken würden, das hatte sie nicht geahnt.

Dann und wann drang die erhobene Stimme des Vorlesers über den Zaun herüber – es lag viel Wohllaut in den Klängen, aber sie besaßen doch nicht das Markige, die Modulation, welche das einst so eintönige Organ des Professors mit den Jahren in so auffallender Weise angenommen hatte . . . Felicitas schüttelte unwillig den Kopf und warf ihn zurück – woher kam ihr nur der Vergleich? . . . Sie zwang ihre Gedanken sofort in eine andere Bahn, auf ein Thema, das allerdings nahe lag, und welches seit der Testamentseröffnung sehr oft Gegenstand ihres Nachdenkens war. Das Gericht hatte den Rechtsanwalt Frank zum Kurator für die mutmaßlich existierenden Hirschsprungschen Erben ernannt. Seit zwei Tagen bereits durchlief ein Aufruf die Zeitungen; Felicitas harrte mit einer fast leidenschaftlichen Spannung auf den Erfolg – ihr brachte er möglicherweise bittere Schmerzen. Meldete sich die Familie Hirschsprung in Kiel auf diesen Aufruf, der eine reiche Erbschaft verhieß, so bestätigte sich die Vermutung, daß die Spielersfrau eine Ausgestoßene gewesen war . . . Was aber mußten das für Menschen sein, in deren Augen ein Familienglied selbst durch ein so tragisches, erschütterndes Ende nicht hatte entsühnt werden können! Felicitas knüpfte deshalb nicht einen einzigen hoffenden Gedanken an das mögliche Auftreten naher Anverwandten; sie wollte ihnen gegenüber auch nie das Dunkel der Verborgenheit verlassen, dennoch schlug ihr Herz heftig bei der Vorstellung, daß ein Tag kommen könne, wo die grausamen Großeltern ahnungslos dem schweigenden Enkelkinde begegnen würden.

Die Hofrätin Frank hatte Felicitas am Zaune bemerkt. Sie stand auf und kam in Begleitung ihres Sohnes herüber. Beide begrüßten das junge Mädchen sehr herzlich, und der Rechtsanwalt sprach seine Freude darüber aus, demnächst als Hausgenosse mit ihr verkehren zu dürfen. Damit leitete er leicht und ungezwungen ein längeres Gespräch ein. Den formgewandten Weltmann überkam es fast wie eine ungewohnte Verlegenheit dem tiefernsten Mädchen gegenüber, das so ruhig und unbefangen in sein Auge sah und in merkwürdig klarer und bestimmter Weise ungewöhnliche Gedanken zum Ausdruck brachte. Sie unterhielten sich lange und eingehend, und das Gespräch berührte die verschiedenartigsten Themen. Schließlich erkundigte sich die Hofrätin nach Aennchen. Felicitas nahm das Kind auf den Arm und deutete mit frohem Lächeln auf den Anhauch einer frischen, gesunden Röte, welche die früher so fahlen Wangen der Kleinen bedeckte.

Beim Auseinandergehen reichte die alte Dame Felicitas die Hand; auch ihr Sohn streckte die Rechte über den Zaun herüber, und das junge Mädchen legte unbedenklich und freundlich die ihre hinein . . . In dem Augenblick knarrte die Gartenthür und der Professor trat auf die Schwelle. Er blieb einige Sekunden wie angewurzelt stehen, dann griff er langsam nach dem Hute und grüßte herüber – Felicitas sah, wie ihm eine jähe, tiefe Röte über das Gesicht flog . . . Der Rechtsanwalt öffnete die Lippen, um ihn anzurufen, aber er wandte rasch den Kopf nach der entgegengesetzten Seite und ging in das Gartenhaus.

»Nun, das war wieder einmal ein echter, zerstreuter Professorengruß!« sagte der junge Frank lachend zu seiner Mutter. »Der gute Johannes hat offenbar irgend einen unglücklichen Patienten in effigie unter dem Messer, und in solchen Augenblicken kennt er seine besten Freunde nicht.«

Mutter und Sohn kehrten an den Kaffeetisch zurück, und Felicitas suchte Schutz und Schatten im Grasgarten.


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