Eugenie Marlitt
Das Geheimnis der alten Mamsell
Eugenie Marlitt

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6.

Unter dem grünverhangenen, nach der Hausflur mündenden Fenster, da, wo vor fünf Jahren die schöne unglückliche Frau des Taschenspielers die Pein tiefer Demütigung erlitten hatte, stand der Sarg mit Hellwigs sterblichen Ueberresten. Man hatte die Hülle des ehemaligen Kauf- und Handelsherrn noch einmal mit allem Glanze des Reichtums umgeben. Massiv silberne Handhaben schimmerten am Totenschreine, und das Haupt des Heimgegangenen ruhte auf einem weißen Atlaskissen. – Schrecklicher Kontrast! Neben dem eingefallenen Totengesichte dufteten frisch abgeschnittene Blumen, junges, unschuldiges Leben, bestimmt, vor der Zeit zu sterben, zur Ehre des Toten!

Viele Leute kamen und gingen, flüsternd und geräuschlos Der da lag, war ein reicher, angesehener und sehr freigebiger Mann gewesen, aber nun war er ja tot. Fast aller Augen huschten scheu und rasch über die bleichen, zerstörten Züge und konnten sich nicht satt sehen an dem Prunke, dem letzten Aufflackern irdischer Herrlichkeit.

Felicitas kauerte in einer dunklen Ecke, hinter den Kübeln mehrerer Oleander und Orangenbäume. Zwei Tage hatte sie den Onkel nicht sehen dürfen, das Sterbezimmer war fest verschlossen gewesen, und nun kniete sie da auf den kaltem Steinfliesen und starrte hinüber auf dies völlig fremde Haupt, dem der Tod selbst das Gepräge unbegrenzter Gutmütigkeit weggewischt hatte . . . Was hatte das Kind vom Sterben gewußt! Sie war in seinen letzten Augenblicken bei ihm gewesen und hatte doch nicht verstanden, daß mit dem Blutstrome, der über seine Lippen geflossen, plötzlich alles enden müsse. Er hatte die Augen mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke auf sie geheftet, als sie aus dem Zimmer geschickt worden. Draußen in der Straße war sie tief besorgt und zornig vor den weit offenen Fenstern des Krankenzimmers auf und ab gelaufen – sie wußte ja, er hütete sich ängstlich vor jedem Zuglüftchen, und nun waren sie so rücksichtslos da drinnen. Sie hatte sich gewundert, daß abends kein Feuer im Kamin gemacht werde, und auf ihre endliche Bitte, dem Onkel die Lampe und den Thee hineintragen zu dürfen, hatte Friederike ärgerlich gerufen. »Ja, Kind, ist's denn nicht richtig bei dir, oder verstehst du kein Deutsch? Er ist ja tot, tot!« Nun sah sie ihn wieder, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und jetzt fing das Kind an, zu begreifen, was Tod sei.

Sobald ein frischer Strom Neugieriger die Hausflur füllte, kam Friederike aus der Küche, hielt den Schürzenzipfel vor die Augen und pries die Tugenden des Mannes, den sie zu ärgern gesucht hatte, wo sie konnte.

»Da seh' einer das Mädchen an!« unterbrach sie sich zornig, als sie Felicitas' blasses Gesichtchen mit den heißen, trockenen Augen zwischen den Orangenbäumen entdeckte. »Ob sie auch nur eine einzige Thräne vergießt! . . . Undankbares Ding! Sie muß doch auch keinen Funken von Liebe in sich haben!«

»Du hast ihn nie lieb gehabt und weinst, Friederike!« entgegnete die Kleine schlagend, aber mit völlig tonloser Stimme, und zog sich tiefer in ihre Ecke zurück.

Die Hausflur leerte sich allmählich. Statt der Schaulustigen aus den niederen Ständen, die sich jetzt draußen auf dem Markte postierten, um den Leichenzug mit anzusehen, erschienen vornehme, schwarzbefrackte Herren; sie gingen, nach kurzem Aufenthalte am Sarge, in das Wohnzimmer, um der Witwe ihr Beileid auszusprechen. In der großen, hochgewölbten Flur herrschte augenblickliche Stille, sie hätte eine feierliche genannt werden können, wäre sie nicht hier und da durch das Stimmengesurr drin im Zimmer unterbrochen worden.

Da fuhr die kleine Felicitas jäh aus ihrem tiefen Sinnen auf und starrte erschrocken nach der Glasthür, die in den Hofraum führte. Dort hinter den Scheiben erschien ein merkwürdiges Gesicht – er lag doch hier mit den tief eingesunkenen Augen und den unbekannten Zügen um den festgeschlossenen Mund, und dort blickte er forschend in die menschenleere Flur, wiedererstanden mit dem gütevollen Ausdruck des Gesichts, wenn auch der Kopf in fremdartiger Weise umhüllt erschien . . . War es doch fast gespenstig, als das Thürschloß sich leise bewegte, und gleich darauf die Thür geräuschlos aufging . . . Die seltsame Erscheinung trat auf die Schwelle. Ja, es waren Hellwigs Züge in frappanter Aehnlichkeit, aber sie gehörten einem weiblichen Wesen, einer kleinen alten Dame, die in wunderlicher, dem Reiche der Mode längst entrückter Tracht langsam auf den Sarg zuschritt. Ein sogenanntes Zwickelkleid von schwerem schwarzen Seidenstoffe, vollkommen faltenlos, spannte sich förmlich über sehr eckige, magere Formen; es war kurz und ließ ein Paar wunderkleiner Füßchen sehen, die jedoch ziemlich unsicher auftraten. Ueber der Stirn kräuselte sich eine Fülle schöngeordneter, schneeweißer Locken, und darüber lag ein klar durchsichtiges, schwarzes Spitzentuch, das unter dem Kinne gebunden war.

Die alte Dame bemerkte das Kind nicht, das unbeweglich und atemlos zu ihr aufsah, und trat an den Sarg heran. Sie fuhr bei Erblicken des Totenantlitzes sichtlich entsetzt zurück, und ihre linke Hand ließ wie unbewußt ein Bouquet köstlicher Blumen auf die Brust der Leiche fallen. Einen Augenblick verbarg sie ihre Augen im Taschentuche, dann aber legte sie die Rechte, tief erschüttert, in feierlich beschwörender Weise auf die kalte Stirn des Toten.

»Weißt du nun, wie alles zusammenhing, Fritz?« flüsterte sie. »Ja, du weißt es – du weißt es, wie ja auch längst dein Vater und deine Mutter es wissen! . . . Ich habe dir verziehen, Fritz – du wußtest ja nicht, daß du unrecht thatest! . . . Schlaf wohl – schlaf wohl!«

Sie nahm die wachsbleiche Hand des Verstorbenen noch einmal zärtlich zwischen ihre beiden Hände; dann trat sie vom Sarge zurück und wollte sich ebenso geräuschlos entfernen, wie sie gekommen war. In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür des Wohnzimmers, und Frau Hellwig trat heraus. Ihr Gesicht erschien unter der schwarzen Krepphaube weißer als Marmor, aber die Unbeweglichkeit ihrer Züge trat auch schärfer hervor denn je – man suchte vergebens nach der leisesten Spur vergossener Thränen an diesen Augen. Sie hielt einen plumpen Kranz von Dahlien in den Händen, offenbar, um ihn als letzte »Liebesgabe« auf den Sarg zu legen.

Ihr überraschter Blick begegnete dem der alten Dame. Beide blieben einen Moment wie angewurzelt stehen, aber in den Augen der Witwe begann es unheimlich zu glühen, ihre Oberlippe hob sich ein wenig und ließ einen der weißen Vorderzähne sehen – es lag etwas wie von unauslöschlicher Rachsucht in diesem Ausdrucke . . . Auch die Züge der alten Dame verrieten eine tiefe Erregung, sie schien mit einem unsäglichen Widerwillen zu kämpfen, aber sie überwand ihn, und mit einem sanften, feuchten Blicke auf den Verstorbenen hielt sie Frau Hellwig die Rechte hin.

»Was wollen Sie hier, Tante?« fragte die Witwe kurz, indem sie die Bewegung der kleinen Dame völlig ignorierte.

»Ihn segnen!« lautete die milde Antwort.

»Der Segen einer Ungläubigen hat keine Macht.«

»Gott hört ihn – Seine ewige Weisheit und Liebe wägt nicht zwischen der armseligen Form – wenn er aus treuem Herzen kommt –«

»Und aus schuldbeladener Seele!« ergänzte Frau Hellwig in beißendem Hohne.

Die alte Dame richtete sich hoch auf.

»Richtet nicht,« begann sie und hob feierlich drohend den Zeigefinger – »doch nein,« unterbrach sie sich mit unbeschreiblicher Milde und blickte auf den Toten, »auch nicht ein Wort mehr soll deinen heiligen Frieden stören . . . Leb wohl, Fritz!«

Sie ging langsamen Schrittes zurück in den Hofraum und verschwand hinter einer Thür, die Felicitas bis dahin stets verschlossen gefunden hatte.

»Nun, das war doch stark von der alten Mamsell!« zischelte Friederike, die von der Küchenthür aus den Vorgang beobachtet hatte.

Frau Hellwig zuckte schweigend die Achseln und legte den Kranz zu Füßen der Leiche. Noch war sie nicht Herr ihrer inneren Erregung. So ungeübt die Züge dieser Frau im Ausdrucke weiblicher Milde und Sanftmut waren, so unbeweglich und wandellos sie auch in ihrer eisernen Strenge erschienen, in Haß und Verachtung wurden sie unheimlich lebendig – wer einmal das schlimme Lächeln gesehen hatte, das in solchen Momenten ihre Mundwinkel tief herabzog, der traute der Ruhe dieses Gesichts nicht mehr. Sie bog sich über den Verstorbenen, anscheinend, um etwas an dem Arrangement zu ändern; ihre Hand stieß dabei an das Bouquet der alten Dame – es rollte über den Rand des Sarges und fiel zu Felicitas' Füßen nieder.

Draußen schlug es drei. Mehrere Geistliche im Ornate traten in die Hausflur; auch die Herren kamen aus dem Wohnzimmer, und ihnen folgte Nathanael neben einer hochaufgeschossenen, schmächtigen Jünglingsgestalt. Die Witwe hatte ihrem Sohne Johannes die Todesnachricht telegraphisch mitgeteilt, und heute morgen war er gekommen, um der Begräbnisfeierlichkeit beizuwohnen. Die kleine Felicitas vergaß für einen Augenblick ihr Leid und sah mit der ganzen Neugier des neunjährigen Kindes zu ihm empor, welcher der Liebling des Vaters gewesen war . . . Weinte er wohl hinter der schmalen, mageren aber wohlgepflegten Hand, die er beim Anblicke des Dahingeschiedenen über seine Augen gelegt hattet . . . Nein, es rollte keine Thräne herab, und ein ungeübtes Auge, wie das des Kindes, konnte außer einer ungewöhnlichen Blässe auch sonst kein Merkmal der Erschütterung an dem ernsten Gesichte bemerken.

Nathanael stand neben ihm. Er vergoß viele Thränen, aber sein Kummer hinderte ihn nicht, den Bruder leise flüsternd anzustoßen, als er Felicitas in ihrem Schlupfwinkel entdeckte. Johannes' Blick folgte der Richtung des brüderlichen Zeigefingers. Zum ersten Male hefteten sich diese Augen auf das Gesicht des Kindes – es waren schreckliche Augen, ernst, finster, ohne das Licht des Wohlwollens und der inneren Wärme. In der Bibel war ein Bild des Evangelisten, des Lieblingsschülers Jesu, ein sanftes, schönes Gesicht mit fast weiblich weichen Linien – »das ist der Johannes am Rhein«, hatte sie stets behauptet, und der Onkel hatte lächelnd dazu genickt . . . Sie hatten nichts miteinander gemein, jene lieblichen, von hellem Gelock umrahmten Züge und dieser Kopf mit den schlichten, kurzgeschnittenen Haaren und dem tiefernsten, blassen, unregelmäßigen Profil.

»Geh fort, Kind, du bist hier im Wege!« gebot er streng, als er sah, daß man Anstalten machte, den Sarg zu schließen. Felicitas verließ beschämt und erschrocken, als habe sie Strafe verdient, den Winkel und schlich, ungesehen von den anderen, in ihres Pflegevaters ehemaliges Zimmer.

Jetzt weinte sie bitterlich . . . Ihm war sie nicht im Wege gewesen! Sie fühlte seine fieberhafte Hand wieder auf ihrem Scheitel und hörte seine gute, schwache Stimme, wie in den letzten Tagen, heiser flüstern. »Komm, Fee, mein Kind, ich hab' es so gern, wenn du bei mir bist . . .!«

Horch, was war das für ein Hämmern draußen? Es scholl mißtönig durch den hochgewölbten Raum, wo doch die vielen Menschen kaum zu flüstern wagten. Felicitas hob verstohlen den grünen Vorhang und sah hinaus in die Flur . . . Schrecklich! die Gestalt des Onkels war verschwunden; dort der schwarze Deckel lag auf seinem lieben Gesichte und hielt ihn für immer unerbittlich fest in der ausgestreckten Stellung. Wenn er nur ein wenig die Hand hob, stieß sie überall an harte, fest zusammengefügte Bretter . . . und dort klopfte der Mann abermals und rüttelte an dem Deckel, ob er auch fest säße, ob ihn nicht die Hand da drin zurückstoßen könne, – da drin in der tiefen Dunkelheit des engen Kostens, da drin, wo man nicht atmen konnte, wo man so furchtbar allein war . . . Die Kleine schrie laut auf vor Entsetzen.

Aller Augen richteten sich verwundert auf das Fenster, aber Felicitas sah nur die großen, grauen, deren Blick sie vorhin so tief erschreckt hatte. Er blickte strafend herüber; sie verließ das Fenster und flüchtete sich hinter den großen, dunklen Vorhang, der das Zimmer in zwei Hälften teilte. Dort kauerte sie sich nieder und blickte furchtsam nach der Thür, wo er gewiß eintreten und sie scheltend hinausführen würde.

In ihrem Verstecke sah sie nicht, wie draußen die Träger den Sarg auf die Schultern nahmen, wie der Onkel sein Haus verließ für immer. Sie sah nicht den langen, schwarzen, unheimlichen Zug, der dem Verstorbenen folgte, wie der letzte Schatten auf dem nun vollendeten Lebenswege . . . Dort an der Ecke hob ein Luftzug alle die prächtigen weißen Atlasbänder, die am Sarge niederhingen – sie flatterten hoch auf; war es der letzte Gruß des Geschiedenen für das verlassene Kind, das eine zärtlich besorgte Mutter dem trüben Sumpfe der väterlichen Laufbahn entrissen hatte, um es unwissentlich an einen öden, unwirtbaren Strand zu werfen?


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