Eugenie Marlitt
Das Geheimnis der alten Mamsell
Eugenie Marlitt

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13.

Drei Tage waren seit des Professors Ankunft vergangen; sie hatten das einförmige Leben in dem alten Kaufmannshause völlig verwandelt, aber für Felicitas waren sie wider alles Erwarten ruhig verflossen. Der Professor hatte sich nicht wieder um sie bekümmert; er schien den Verkehr mit ihr auf die erste und einzige Unterredung beschränken zu wollen. Sie atmete auf, und doch – seltsamerweise – hatte sie sich nie mehr gedemütigt und verletzt gefühlt, als jetzt . . . Er war einigemal in der Hausflur an ihr vorübergegangen, ohne sie zu sehen – freilich war er da ärgerlich gewesen und hatte ein grimmiges Gesicht gemacht, was ihn durchaus nicht verschönte. Frau Hellwig ließ es sich nämlich trotz aller seiner Bitten und Vorstellungen nicht nehmen, ihn hinunter in das Wohnzimmer zu bescheiden, wenn Besuchende aus ihrem Bekanntenkreise kamen, die ihn zu sehen wünschten. Er erschien notgedrungen, aber dann stets als sehr unliebenswürdiger, schroffer Gesellschafter . . . Es kamen aber auch viele andere täglich, die von Heinrich hinaufgewiesen wurden in das zweite Stockwerk – Hilfesuchende, oft sehr dürftige, armselige Gestalten, die Friederike zu jeder anderen Zeit ohne weiteres an der Schwelle zurückgewiesen haben würde; sie schritten jetzt zum Aerger der alten Köchin und eigentlich auch gegen den Wunsch und Willen der Frau Hellwig über die schneeweiß gehaltene, förmlich gefeite Treppe des vornehmen Hauses und fanden droben ohne Unterschied Einlaß und Gehör. Der Professor hatte hauptsächlich Ruf als Augenarzt; es waren ihm Kuren gelungen, die andere anerkannt tüchtige Fachmänner in das Bereich der Unmöglichkeiten verwiesen hatten – der Name des noch sehr jungen Mannes war dadurch plötzlich ein glänzender und gepriesener geworden.

Frau Hellwig hatte Felicitas das Abstäuben und Aufräumen im Zimmer ihres Sohnes übertragen. Der kleine Raum erschien völlig verwandelt, seit er bewohnt wurde; vorher mit ziemlichem Komfort ausgestattet, glich er jetzt weit eher einer Karthäuserzelle. Ein gleiches Schicksal wie den Guirlandenschmuck hatte die bunten Kattunvorhänge ereilt – sie waren sofort unter den Händen des Professors als lichtraubend gefallen; ebenso hatten einige unkünstlerische, mit großer Farbenverschwendung illuminierte Schlachtenbilder an den Wänden weichen müssen; dagegen hing plötzlich ein sehr alter, in eine dunkle Ecke des Vorsaales verbannter Kupferstich, trotz seines zerbröckelnden, schwarzen Holzrahmens, über dem Schreibtische des Bewohners. Es war ein wahres Meisterstück der Kupferstecherkunst, eine junge schöne Mutter vorstellend, die ihr Kind zärtlich in ihren pelzverbrämten Seidenmantel hüllt. Die wollene Decke auf dem Sofatische und mehrere gestickte Polster waren als »Staubhalter« entfernt worden, und auf einer Kommode standen statt der Meißner Porzellanfiguren die Bücher des Professors, dicht aneinander gedrängt und symmetrisch geordnet. Da sah man kein umgeknicktes Blatt, keine abgestoßene Ecke, und doch wurden sie ohne Zweifel viel gebraucht; sie steckten in sehr unscheinbarem Gewande und waren je nach der Sprache, in der sie geschrieben, uniformiert – das Latein grau, Deutsch braun &c. . . . »Genau so versucht er die Menschenseelen zu ordnen,« dachte Felicitas bitter, als sie zum erstenmal die Bücherreihen sah, »und wehe, wenn eine über die ihr angewiesene Farbe hinaus will!«

Den Morgenkaffee trank der Professor in Gesellschaft seiner Mutter und der Regierungsrätin; dann aber ging er auf sein Zimmer und arbeitete bis zum Mittage. Er hatte gleich am ersten Morgen den Wein zurückgewiesen, den Frau Hellwig zu seiner Erquickung hinaufgeschickt; dagegen mußte stets neben ihm eine Karaffe voll Wasser stehen. Es schien, als vermeide er geflissentlich, sich bedienen zu lassen – nie benutzte er die Klingel; war ihm das Trinkwasser nicht mehr frisch genug, so stieg er selbst hinunter in den Hof und füllte die Karaffe aufs neue.

Am Morgen des vierten Tages waren Briefe an den Professor eingelaufen. Heinrich war ausgegangen, und so wurde Felicitas in das zweite Stockwerk geschickt. Sie blieb zögernd vor der Thür stehen, drin wurde gesprochen; es war eine Frauenstimme, die, wie es schien, eben eine längere Ansprache beendete.

»Doktor Böhm hat mit mir über das Augenleiden Ihres Sohnes gesprochen,« antwortete der Professor in gütigem Tone; »ich will sehen, was sich thun läßt.«

»Ach, gnädiger Herr Professor, ein so berühmter Mann, wie Sie –«

»Lassen Sie das, Frau!« unterbrach er die Sprechende so rauh, daß sie erschrocken schwieg. »Ich will morgen kommen und die Augen untersuchen,« setzte er milder hinzu.

»Aber wir sind arme Leute; der Verdienst ist gering –«

»Das haben Sie mir bereits zweimal gesagt, liebe Frau!« unterbrach sie der Professor abermals ungeduldig. »Gehen Sie jetzt; ich brauche meine Zeit nötiger . . . Wenn ich Ihrem Sohne helfen kann, so geschieht es – adieu!«

Die Frau kam heraus, und Felicitas schritt über die Schwelle. Der Professor saß am Schreibtische; seine Feder flog bereits wieder über das Papier. Er hatte aber doch das junge Mädchen eintreten sehen, und ohne das Auge von seiner Arbeit wegzuwenden, streckte er die Linke nach den Briefen aus. Er erbrach einen derselben, während Felicitas wieder nach der Thür zu schritt.

»Apropos,« rief er, schon halb und halb in den Brief vertieft, »wer stäubt denn hier im Zimmer ab?«

»Ich,« antwortete das junge Mädchen stehen bleibend.

»Nun, dann muß ich Sie ersuchen, künftig meinen Schreibtisch mehr zu respektieren. Es ist mir sehr unangenehm, wenn ein Buch auch nur von seiner Stelle gerückt wird, und hier fehlt mir sogar eines.«

Felicitas schritt gelassen nach dem Tische, auf welchem mehrere Bücherstöße lagen.

»Was hat das Buch für einen Titel?« fragte sie ruhig.

Es zuckte etwas wie ein Lächeln durch das ernste Gesicht des Professors. Diese Frage aus einem Mädchenmunde klang aber auch eigentümlich naiv und bedenklich im Studierzimmer des Arztes.

»Sie werden es schwerlich finden – es ist ein französisches Buch,« erwiderte er. » Cruveilhier. Anatomie du système nerveux steht auf der Rückseite,« setzte er hinzu – wieder zuckte es über sein Gesicht.

Felicitas zog sofort eines der Bücher hervor; es lag zwischen mehreren anderen französischen Werken.

»Hier ist es,« sagte sie. »Es lag jedenfalls noch auf der Stelle, wo Sie es selbst hingelegt hatten – ich nehme keines der Bücher in die Hand.«

Der Professor stützte seine Linke auf den Tisch, drehte sich mit einem Rucke nach dem jungen Mädchen um und sah ihm voll ins Gesicht.

»Sie verstehen Französisch?« fragte er rasch und scharf.

Felicitas erschrak; sie hatte sich verraten. Freilich verstand sie nicht allein Französisch, sie sprach es auch leicht und fließend – die alte Mamsell hatte sie vortrefflich unterrichtet. Jetzt sollte sie antworten, und zwar entschieden antworten. Die stahlgrauen Augen mit dem unabweisbaren Blicke wichen nicht von ihrem Gesichte, sie hätten die Lüge jedenfalls sofort abgelesen – sie mußte die Wahrheit sagen.

»Ich habe Unterricht gehabt,« entgegnete sie.

»Ach ja, ich entsinne mich, bis zu Ihrem neunten Lebensjahre – und da ist etwas hängen geblieben,« sagte er, indem er sich mit der Hand die Stirne rieb.

Felicitas schwieg.

»Das ist ja auch der unglückliche Kasus, an welchem wir mit unserem Erziehungsplane gescheitert sind, meine Mutter und ich,« fuhr er fort. »Es ist Ihnen zu viel weisgemacht worden, und weil wir darüber unsere eigene Ansicht hatten, so verabscheuen Sie uns als Ihre Peiniger und Gott weiß was alles, nicht wahr?«

Felicitas rang einen Augenblick mit sich, aber die Erbitterung siegte. Sie öffnete die blaßgewordenen Lippen und sagte kalt. »Ich habe alle Ursache dazu.«

Einen Moment runzelten sich seine Augenbrauen wie in heftigem Unwillen; allein vielleicht erinnerte er sich so mancher trotzigen und unfreundlichen Antwort, die er oft als Arzt von ungeduldigen Patienten ruhig hinnehmen mußte . . . Das junge Mädchen da vor ihm krankte ja auch seiner Meinung nach an einem Irrtume; daraus entsprang jedenfalls die Gelassenheit, mit der er sagte: »Nun, von dem Ihnen gemachten Vorwurfe der Verstocktheit spreche ich Sie hiermit frei – Sie sind mehr als aufrichtig . . . Uebrigens werden wir uns über Ihre schlechte Meinung zu trösten wissen.«

Er nahm den Brief wieder auf, und Felicitas entfernte sich. Als sie auf die Schwelle der offenen Thür trat, da flog ein Blick des Lesenden ihr nach. Der Vorsaal war erfüllt von warmem Sonnenglanze; die Mädchengestalt stand plastisch da in dem dunkleren Zimmer wie ein Gemälde auf Goldgrund. Noch fehlte den Formen jene Rundung und Fülle, die bei der vollkommen entwickelten Frauenschönheit unerläßlich ist; trotzdem erschienen die Linien weich und zeigten in der Bewegung eine unbeschreibliche Grazie, man möchte sagen, jene Schmiegsamkeit, wie sie die Märchenpoesie ihren schwebenden und huschenden Gestalten andichtet . . . Und was war das für ein merkwürdiges Haar! Gewöhnlich erschien es kastanienbraun; wenn aber, wie in diesem Augenblicke, ein Sonnenstrahl darauf fiel, dann blinkte es rötlich golden. Es erinnerte durchaus nicht an jenes geschmeidige, lang herabfließende Frauenhaar, wie es einst unter dem Helme der schönen Spielersfrau hervorgequollen. Ziemlich kurz, aber von mächtiger Fülle, Welle an Welle bildend, sträubte es sich noch sichtbar widerwillig in dem dicken, einfach geschlungenen Knoten am Hinterkopfe. Einzelne starke Ringel befreiten sich stets eigenmächtig und lagen, wie eben jetzt, auf dem weißen Halse.

Der Professor bog sich wieder über seine Arbeit; aber der Gedankenfluß, den vorhin die Bürgersfrau unterbrochen, ließ sich nicht sofort wieder in die rechte Bahn lenken. Er rieb sich verdrießlich die Stirne und trank ein Glas Wasser – vergebens. Endlich warf er, ärgerlich über die Störungen, die Feder auf den Tisch, nahm den Hut vom Nagel und ging die Treppe hinab. . . . Hätte der Mohrenkopf, der als Tintenwischer seinem gelehrten Herrn seit Jahren gegenüberstand, den großen grinsenden Mund noch weiter aufzureißen vermocht, er hätte es sicher gethan, und zwar vor Erstaunen – da lag die Feder, dick angefüllt mit frischer Tinte, und der unglückliche Mohr lechzte vergeblich nach dem Naß und dem gewohnten Vergnügen, mit seinem Kleide ihre vielvermögende Spitze blank zu putzen – unerhört! Der peinlich pünktliche Mann war zerstreut.

»Mutter,« sagte der Professor, im Vorübergehen das Wohnzimmer betretend, »ich wünsche ferner nicht, daß du mir das junge Mädchen mit Aufträgen hinaufschickst – überlasse das Heinrich, und ist er einmal nicht da, so kann ich schon warten.«

»Siehst du,« entgegnete Frau Hellwig triumphierend, »dir ist schon nach drei Tagen diese Physiognomie unerträglich; mich aber hast du verurteilt, sie neun Jahre lang um mich zu dulden!«

Ihr Sohn zuckte schweigend die Achseln und wollte sich entfernen.

»Der frühere Unterricht, den sie bis zu des Vaters Tode erhalten, hat völlig aufgehört mit ihrem Eintritte in die Bürgerschule?« fragte er, sich nochmals umwendend.

»Was das für närrische Fragen sind, Johannes!« rief Frau Hellwig ärgerlich. »Habe ich dir nicht ausführlich genug über diesen Punkt geschrieben, und ich dächte auch gesprochen bei meinem Besuche in Bonn? . . . Die Schulbücher sind verkauft worden, und die Schreibehefte habe ich in derselben Stunde verbrannt.«

»Und was hat sie für Umgang gehabt?«

»Was für Umgang? . . . Na, eigentlich nur den mit Friederike und Heinrich; sie hat es ja selbst nicht anders gewollt.« Jener grausam boshafte Zug erschien in dem Gesicht der Frau, infolgedessen sich die Oberlippe leicht hob und einen ihrer Vorderzähne sehen ließ. »Ich habe es natürlich nicht über mich gewinnen können, sie an meinem Tische essen zu lassen und in meiner Stube zu dulden,« fuhr sie fort; »einmal war und blieb sie das Wesen, das sich zwischen deinen Vater und mich gedrängt hat, und dann wurde sie ja immer unausstehlicher und hoffärtiger. Ich hatte ihr übrigens ein paar Töchter aus christlichen Handwerkerfamilien ausgemacht, mit denen sie umgehen sollte; aber du weißt ja, daß sie mir erklärt hat, sie wolle nichts mit den Leuten zu schaffen haben, das seien Wölfe in Schafskleidern und dergl. . . . Na, du wirst in den acht Wochen, die du dir selbst aufgebürdet hast, schon noch dein blaues Wunder sehen!«

Der Professor verließ das Haus, um einen weiten Spaziergang zu machen.

Am Nachmittage desselben Tages erwartete Frau Hellwig mehrere Damen, meist fremde Badegäste, zum Kaffee. Er sollte im Garten getrunken werden; und weil Friederike plötzlich unwohl geworden war, so wurde Felicitas allein hinausgeschickt, um alles vorzurichten. Sie war bald fertig mit ihrem Arrangement. Auf dem großen Kiesplatze, im Schutze einer hohen Taxuswand stand der schön geordnete Kaffeetisch, und in der Küche des Gartenhauses zischte und brodelte das Wasser im Erwarten seiner Umwandlung zu dem allgeliebten Mokkatranke. Das junge Mädchen lehnte an einem offenen Fenster des Gartenhauses und sah wehmütig sinnend hinaus . . . Da draußen duftete, grünte und blühte es so lustig und harmlos in die blaue, stille Luft hinein, als habe nie ein verheerender Herbststurm an den Zweigen gerüttelt, nie der Winterfrost seinen tötenden Kristall um vergehende Blumenhäupter gesponnen. Vor Jahren hatte es ebenso farbig geleuchtet auf Büschen und Beeten für ihn, dessen warmes, weiches Herz nun in Staub zerfiel, für ihn, der seine helfende, stützende Hand überall anlegte, wo es galt – bei seinen emporsprossenden Blumen, wie bei Menschenhilflosigkeit und Elend . . . Die jungen Blumenaugen da allerorten lächelten jetzt ebenso fröhlich in andere, kalte Gesichter, und die Menschen sprachen nicht mehr von ihm . . .

Hierher hatte er sich und die kleine Waise gerettet vor den vernichtenden Blicken und der schneidenden Zunge da drin in der Stadt – nicht allein zur lustigen Sommerzeit; wenn draußen der Frühling noch mit dem Winter rang, da prasselte hier im weißen Porzellanofen ein tüchtiges Feuer; ein dicker Teppich auf dem Boden wärmte die Füße, die Büsche drückten ihre Knospenansätze gegen die erwärmten Scheiben, auf denen einzelne verwegene Schneeflocken rettungslos zerschmolzen, und über den weiten, noch wüsten Gartenplan guckte der halbbeschneite Berg herein mit dem wohlbekannten Pappelkreise auf der Stirn . . . traute, liebe Erinnerungen! Und da drüben standen die Nußbäume; die kaum entwickelten Blätterzungen hingen in diesem Augenblicke müßig und unbewegt, wie trunken vom goldenen Sonnenlichte, übereinander . . . Was hatten sie einst dem Kinde alles zugeflüstert! Süße, selige Verheißungen von Welt und Zukunft, Träume, so klar und schattenlos, wie der unbewölkte Himmel droben – und dann war es plötzlich dunkel und dräuend über dem schuldlosen Haupte des Spielerskindes geworden, ein greller Blitz der Erkenntnis hatte die Blätterzungen zu Lügnern gemacht.

Näher kommende Männerstimmen und das Knarren der Gartenthür schreckte Felicitas aus ihrem trüben Grübeln auf. Durch das nördliche Eckfenster konnte sie sehen, wie der Professor in Begleitung eines anderen Herrn den Garten betrat. Sie schritten langsam dem Hause zu. Jener Herr kam seit einiger Zeit öfter zu Frau Hellwig; er war der Sohn eines sehr angesehenen, der Familie Hellwig befreundeten Hauses. Im Alter mit dem Professor gleichstehend, hatte auch er seine Erziehung in dem Institute des strenggläubigen Hellwigschen Verwandten am Rhein erhalten. Beide waren dann, freilich nur für kurze Zeit, Studiengenossen auf der Universität gewesen, und wenn auch völlig verschieden in Charakter und Anschauungsweise, hatten sie doch stets freundschaftlich zu einander gestanden. Während Johannes Hellwig fast sofort nach Beendigung seiner Studienzeit den Lehrstuhl bestiegen, war der junge Frank auf Reisen gegangen. Erst vor kurzem hatte er sich auf Wunsch seiner Eltern herbeigelassen, sein juristisches Examen zu machen; er war nun Rechtsanwalt in seiner Vaterstadt und harrte der Dinge und Klienten, die da kommen sollten.

Wie er so näher schritt, war er eine fast vollkommen schöngebildete Männererscheinung – ein geistreiches Gesicht über schlank und edel geformten Gliedern. Vielleicht hätte dieser sehr zierliche Kopf mit der feinen, etwas weich verlaufenden Profillinie einen weiblichen Eindruck gemacht; aber so, wie er getragen wurde, fest und sicher auf den Schultern und unterstützt von entschiedenen, wenn auch sehr eleganten Bewegungen der gesamten Gestalt, ließ er diesen leisen Tadel nicht aufkommen.

Er nahm eben die Zigarre aus dem Munde, betrachtete sie aufmerksam und schleuderte sie dann verächtlich von sich. Der Professor holte sein Etui hervor und bot es ihm.

»Ei, Gott bewahre!« rief der Rechtsanwalt, indem er mit komischer Gebärde beide Hände abwehrend ausstreckte. »Es könnte mir doch nicht einfallen, die armen Heidenkinder in China und Gott weiß wo noch zu bestehlen!«

Der Professor lächelte.

»Denn so wie ich dich kenne,« fuhr der andere fort, »hältst du jedenfalls mit unbestreitbarem Heroismus dein Kasteiungswerk aus der Jugendzeit fest, das heißt du bestimmst dir täglich drei Zigarren, rauchst aber konsequent nur eine, während das Geld für die beiden anderen in deine Missionssparbüchse fließt!«

»Ja, die Gewohnheit habe ich noch,« bestätigte mit ruhigem Lächeln der Professor; »aber das Geld hat eine andere Bestimmung – es gehört meinen armen Patienten ohne Unterschied.«

»Nicht möglich! . . . Du, der starre Vorkämpfer pietistischen Strebens, der getreueste unter den Jüngern unseres rheinischen Institutsdespoten! Befolgst du so seine Lehren, Abtrünniger?«

Der Professor zuckte die Achseln. Er blieb stehen und streifte nachdenklich die Asche von seiner Zigarre.

»Als Arzt lernt man anders denken über die Menschheit und die Pflichten des einzelnen ihr gegenüber,« sagte er. »Ich habe stets das eine große Ziel im Auge gehabt, mich wahrhaft nützlich zu machen; um das zu erreichen, habe ich vieles vergessen und verwerfen müssen.«

Sie schritten weiter, und ihre Stimmen verhallten. Allein auf dem Kieswege, den sie wandelten, lag die Sonne träge und brütend, sie kehrten, in ihr Gespräch vertieft, fast instinktmäßig zurück unter die Akaziengruppe, die ihre Zweige über den am Hause hinlaufenden, mit breiten Steinplatten belegten Weg hing und ihn kühl und schattig machte.

»Streite nicht!« hörte Felicitas den Professor ein wenig lebhafter als gewöhnlich sagen. »Daran änderst du nichts . . . Genau, wie vor so und so viel Jahren, langweile ich mich entweder entsetzlich, oder ich ärgere mich in weiblicher Gesellschaft; und – das kann ich dir sagen – mein Verkehr als Arzt mit dem sogenannten schönen Geschlechte ist auch durchaus nicht geeignet, meine Meinung zu erhöhen . . . Welch ein Gemisch von Gedankenlosigkeit und Charakterschwäche!«

»Du langweilst dich in weiblicher Gesellschaft, sehr begreiflich!« eiferte der junge Frank, unter dem Eckfenster stehen bleibend. »Suchst du doch geflissentlich die geistig einfache, um nicht zu sagen, einfältige . . . Du verabscheust die moderne weibliche Erziehung – in mancher Hinsicht freilich nicht ohne Grund – ich bin auch kein Freund von geistlosem Klaviergeklimper und gedankenloser, französischer Plapperei, aber man muß das Kind nicht mit dem Bade verschütten . . . In unserer Zeit, wo der menschliche Geist fast täglich neue, ungeahnte Bahnen betritt, wo er mitwirkt, schafft und genießt bei dem mächtigen Aufschwunge, den das Menschengeschlecht nimmt, da wollt ihr das Weib womöglich hinter die mittelalterliche Kunkel, in den Kreis und zugleich in den engen Ideengang ihrer Mägde zwingen – das ist nicht allein ungerecht, es ist auch thöricht. Das Weib hat die Seele eurer Söhne in den Händen, in einem Stadium, wo sie am empfänglichsten ist, wo sie die Eindrücke wie Wachs aufnimmt und gerade so unverwischbar durchs ganze Leben trägt, als wären sie in Eisen gegraben! . . . Regt die Frauen an zu ernstem Denken, erweitert den Kreis, den ihr Egoisten eng genug um ihre Seelen zieht und welchen ihr weibliche Bestimmung nennt, und ihr werdet sehen, daß Eitelkeit und Charakterschwäche verschwinden!«

»Lieber Freund, den Weg betrete ich ganz sicher nicht!« sagte der Professor sarkastisch, indem er langsam einige Schritte weiter ging.

»Ich weiß wohl, daß du eine andere Ueberzeugung hast – du meinst, das alles erreiche man müheloser durch eine fromme Frau . . . Mein sehr verehrter Professor, auch ich möchte keine unfromme Lebensgefährtin – ein weibliches Gemüt ohne Frömmigkeit ist eine Blume ohne Duft. Aber seht euch wohl vor! Ihr denkt, sie ist fromm, mithin besorgt und wohl aufgehoben, und während ihr sie vollkommen und sorglos gewähren lasset, erwächst euch eine Tyrannei in eurem Hause, wie ihr sie von einer weniger frommen Frau nun und nimmer ertragen würdet. Unter dem Deckmantel der Frömmigkeit schießen leicht alle im weiblichen Charakter schlummernden schlimmen Neigungen auf. Man darf grausam, rachsüchtig und auch ganz gehörig hochmütig sein und im blinden Zelotismus Schönes und Herrliches verdammen und zerstören – alles im Namen des Herrn und im sogenannten Interesse des Reiches Gottes.«

»Du gehst sehr weit.«

»Gar nicht . . . Du wirst schon noch einsehen lernen, daß auch der erwägende Verstand gehörig geklärt und ausgebildet und das Gemüt der Humanität zugänglich gemacht sein muß, wenn die Frömmigkeit der Frau wahrhaft beglückend für uns sein soll.«

»Das sind Ziele, auf die ich gar nicht Lust habe, loszusteuern,« erwiderte der Professor kalt. »Meine Wissenschaft beansprucht mich und mein Leben so völlig –«

»Ei – und die dort?« unterbrach ihn der Rechtsanwalt leiser, während er nach dem Eingange des Gartens zeigte. Dort hinter der Gitterthür erschien die Regierungsrätin in Begleitung ihres Kindes und der Frau Hellwig. »Ist sie nicht vollkommen die Verwirklichung deines Ideals?« fuhr er mit nicht zu verkennender Ironie fort. »Einfach – sie erscheint stets in weißem Mull, der ihr, nebenbei gesagt, vortrefflich steht – fromm, wer wollte das bezweifeln, der sie in der Kirche mit den schwärmerisch emporgerichteten schönen Augen sieht? Sie verabscheut alles Wissen, Denken und Grübeln, weil es dem Wachstum ihres Strickstrumpfes oder ihrer Stickerei hinderlich sein könnte – ist eine standesgemäße Partie, denn diese Gleichheit gilt dir ja auch als unerläßlich zu einer guten Ehe – enfin, man bezeichnet sie allgemein als diejenige, welche dich –«

»Du bist boshaft und hast Adele nie leiden mögen,« unterbrach ihn der Professor gereizt, »ich fürchte, lediglich aus dem Grunde, weil sie die Tochter des Mannes ist, der dich sehr streng gehalten hat . . . Sie ist gutmütig, harmlos und eine vortreffliche Mutter.«

Er schritt auf die langsam näherkommenden Damen zu und begrüßte sie freundlich.


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