Eugenie Marlitt
Das Geheimnis der alten Mamsell
Eugenie Marlitt

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14.

Es dauerte nicht lange, so war der Kiesplatz belebt von anmutigen Frauengestalten, die, meist in hellen Musselin oder Gaze gehüllt, wie weiße Sommerwolken auf und ab schwebten. Die dunklen, steifen Taxuswände gaben einen vortrefflichen Hintergrund für diese graziösen, leichtbeschwingten Wesen; silberhelles Lachen und lebhaftes Geplauder schollen durch die weiche Luft, dann und wann unterbrochen durch eine der sonoren Männerstimmen. Der geladene Kreis war bald vollzählig, man gruppierte sich um den Kaffeetisch, und die Arbeitskörbchen wurden hervorgeholt.

Auf einen Wink der Frau Hellwig schritt Felicitas mit dem Kaffeebrett über den Kiesplatz.

»Mein Wahlspruch ist: ›Einfach und billig!‹« hörte sie die Regierungsrätin in munterem Tone sagen, als sie näher kam. »Ich trage grundsätzlich im Sommer keinen Stoff, der mich über drei Thaler kostet.«

»Sie vergessen aber, meine liebe Regierungsrätin,« widersprach eine andere junge, sehr geschmückte Dame, während ihr boshafter Blick über die gerühmte einfache Toilette glitt, »daß Sie auf diesem billigen Stoffe eine Menge gestickter, mit Spitzen garnierter Einsätze tragen, die den Wert der Robe selbst mindestens um das Dreifache übersteigen.«

»Bah, wer wird diesen Duft nach prosaischen Thalern berechnen!« rief der junge Frank, belustigt den feindlichen Blick auffangend, den beide Damen austauschten. »Man sollte meinen, er trüge die Damen himmelwärts, wären nicht – ja wären nicht zum Beispiel solche dicke, goldene Armbänder, die unzweifelhaft wieder zur Erde niederziehen müssen!«

Sein Auge haftete mit sichtbarem Interesse auf dem Handgelenke der nicht weit von ihm sitzenden Regierungsrätin; es zuckte wie unwillkürlich zurück, und eine hohe Röte bedeckte für einen Moment Stirne und Wangen der jungen Witwe.

»Wissen Sie, meine Gnädige,« sagte er, »daß mich dieses Armband seit einer halben Stunde lebhaft beschäftigt? . . . Es ist von prächtiger, uralter Arbeit. Was aber meine Wißbegierde ganz besonders reizt, das ist die mutmaßliche Inschrift, dort inmitten des Kranzes.«

Das Gesicht der Regierungsrätin hatte bereits wieder seine zartrosige Farbe; ihre sanften Augen blickten ruhig auf, während sie unbefangen die Armspange löste und ihm hinreichte.

Felicitas stand in diesem Augenblicke hinter dem Rechtsanwalt. Sie konnte bequem den Schmuck in seinen Händen sehen . . . Seltsam, es war bis in die kleinsten Einzelheiten derselbe Armring, der im Geheimfache der alten Mamsell lag und ohne Zweifel eine geheimnisvolle Rolle im Leben der Einsamen spielte; nur war er hier von weit geringerem Umfang, er umschloß ziemlich eng das seine Handgelenk der jungen Frau.

»daz ir liebe ist âne kranc,
Die hât got zesamme geben
ûf ein wünneclichez leben!«

las der Rechtsanwalt geläufig. »Merkwürdig,« rief er, »die Strophe hat keinen Anfang . . . Ah, es ist ja ein Bruchstück aus den Minnesängern, und zwar aus dem Gedicht ›Stete Liebe‹ von Ulrich von Lichtenstein; die ganze Strophe lautet in der Uebersetzung ungefähr:

›Wo zwei Lieb' einander meinen
Herziglich in rechter Treu'
Und sich beide so vereinen,
Daß die Lieb' ist immer neu,
Die hat Gott zusammengeben
Auf ein wonnigliches Leben.‹

Dieses Armband hat unzweifelhaft einen treuen Kameraden, der ihm eng angefügt ist durch den Anfang der Strophe,« bemerkte er lebhaft angeregt. »Ist das Seitenstück nicht in Ihrem Besitze?«

»Nein,« entgegnete die Regierungsrätin und bückte sich auf ihre Arbeit, während der Schmuck von Hand zu Hand ging.

»Und wie kommst du zu dem sehr merkwürdigen Stück, Adele?« fragte der Professor herüber.

Wieder stieg eine leise Röte in das Gesicht der jungen Dame.

»Papa hat es mir vor kurzem geschenkt,« antwortete sie, »Gott weiß, von welchem Altertümler es stammt!«

Sie nahm den Schmuck wieder in Empfang, legte ihn um den Arm und richtete dabei eine Frage an eine der Damen, wodurch das Gespräch sogleich eine andere Wendung erhielt.

Während die Aufmerksamkeit aller auf das interessante Armband gerichtet gewesen war, hatte Felicitas die Runde um den Tisch gemacht; man hatte sich rasch bedient, ohne die Trägerin des Kaffeebrettes weiter zu beachten. Sie ging ebenso unbemerkt, wie sie gekommen, nach der Küche zurück. Auf Bitten der kleinen Anna, die sich auf dem schattigen Wege neben dem Hause tummelte, blieb sie einen Moment stehen, griff, Haupt und Oberkörper elastisch zurückbeugend, mit hochgehobenen Armen in die niederhängenden Aeste der zunächststehenden Akazie und versuchte, einen Zweig für das Kind zu brechen . . . Für eine tadellos gebaute weibliche Gestalt kann es nicht leicht eine vorteilhaftere Stellung geben, als die, in welcher das junge Mädchen für einige Augenblicke verharrte – der Rechtsanwalt nahm plötzlich seine Lorgnette, er war ziemlich kurzsichtig; diese zwei dunklen Männeraugen, die mit sichtlichem Erstaunen auf der jugendlichen Gestalt unter der Akazie hafteten, wurden scharf beobachtet und zwar von der scheinbar sehr eifrig stickenden Regierungsrätin. Nachdem Felicitas ins Haus gegangen war, ließ der junge Mann das Glas fallen – er hatte offenbar eine hastige Frage auf den Lippen, mit welcher er sich an Frau Hellwig wenden wollte, aber die junge Witwe schnitt ihm sofort das Wort ab; sie verlangte Aufklärung über einen Unfall, der ihm auf einer seiner Reisen zugestoßen war, und brachte ihn somit geschickt auf ein Thema, das er selbst sehr gern berührte.

Später erhob sie sich geräuschlos und schritt hinüber nach dem Gartenhause.

»Liebe Karoline,« sagte sie, in die Küche tretend, »es ist nicht nötig, daß Sie drüben bedienen . . . Ah, ich sehe, da ist ja ein Kaffeewärmer, das macht sich vortrefflich . . . Füllen Sie die Kanne mit heißem Kaffee; ich werde sie mitnehmen und das Einschenken selbst besorgen – es ist so gemütlicher für die Gäste und – aufrichtig gesagt – Sie sehen zu erbärmlich aus in dem verwaschenen Kattunkleidchen. Wie mögen Sie sich nur in diesem kurzen, abscheulichen Rocke vor Männeraugen sehen lassen! Es ist geradezu unanständig – fühlen Sie das nicht selbst, Kind?«

Der geschmähte Rock war der beste des jungen Mädchens, ihr sogenannter Sonntagsrock. Freilich war er verwachsen und bereits ziemlich mißfarben; aber er war tadellos sauber gewaschen und gebügelt . . . Daß ihr nun auch das noch zum Vorwurf gemacht wurde, worein sie sich stets stillschweigend und klaglos gefügt hatte, machte sie bitter lächeln; aber sie schwieg – war doch jedes verteidigende Wort überflüssig und hier geradezu lächerlich.

Als die Regierungsrätin an den Kaffeetisch zurückkehrte, war ein Gespräch, das sie vorhin zu vereiteln gesucht hatte, bereits im vollen Gange.

»Auffallend schön?« wiederholte Frau Hellwig rauh auflachend. »Pfui, mein lieber Frank, was soll ich von Ihnen denken! . . . Auffallend, ja, das gebe ich Ihnen eher zu; aber auffallend, wie ein Mädchen nicht sein soll . . . Sehen Sie sich doch dies blasse Gesicht mit den liederlichen Haaren genauer an! Diese herausfordernden Mienen und leichtfertigen Bewegungen, diese Augen, die respektablen Leuten unverschämt und dreist ins Gesicht starren, – das sind Erbstücke einer elenden, zuchtlosen Mutter. Art läßt nicht von Art, und was hinterm Zaune geboren ist, das wird sein Lebtag nicht ehrbar . . . Ich hab's erfahren; neun Jahre lang hab' ich mir keine Mühe verdrießen lassen, dem Herrn eine Seele zuzuführen – dies verstockte Geschöpf hat alle meine Sorgfalt zu schanden gemacht.«

»Ach, Tantchen, das ist ja nun bald überstanden!« begütigte die Regierungsrätin, während sie Kaffee einschenkte und herumreichte. »Noch einige Wochen, und der böse Störenfried verläßt dein Haus für immer . . . Ich fürchte leider auch, daß der gute Same auf steinigen Boden gefallen ist – ein edler Zug steckt ganz gewiß nicht in einer Seele, die, undankbar genug, bisher nur danach gestrebt hat, die Fesseln der Moral und guten Sitten abzuwerfen . . . Uebrigens wollen wir, die wir das Glück haben, von gesitteten Eltern abzustammen, nicht zu streng mit ihr ins Gericht gehen – der Leichtsinn steckt ihr im Blut . . . Wenn Sie in Jahr und Tag wieder auf Reisen gehen, Herr Frank,« wandte sie sich scherzend an den Rechtsanwalt, »so kann es sich schon ereignen, daß Sie unter einem fremden Himmelsstriche Tantchens ehemalige Hausgenossin als Grazie auf dem Seile oder im Zirkus bewundern dürfen.«

»So sieht sie nicht aus!« sagte plötzlich der Professor in seinem ruhig entschiedenen Tone. Er hatte bis dahin konsequent geschwiegen; sein Widerspruch, der sehr mißbilligend klang, mußte daher doppelt auffallen. Frau Hellwig wandte sich jäh und zornig nach ihrem Sohne, und die Augen der jungen Witwe verloren für einen Moment die stereotype Sanftmut; gleich darauf schüttelte sie jedoch gutmütig lächelnd den Lockenkopf und öffnete die Lippen, ohne Zweifel, um Liebes und Freundliches zu sagen; aber sie wurde verhindert – ein lautes Weinen Aennchens scholl über den Kiesplatz, und infolgedessen, was die Regierungsrätin im Umdrehen erblickte, stieß sie selbst einen Schrei des Entsetzens aus. Das Kind lief, so schnell es sein schwerfälliger Körper gestattete, auf seine Mutter zu; in der angstvoll emporgestreckten Rechten hielt es krampfhaft ein Päckchen Schwefelhölzer fest, das Röckchen aber stand in hellen Flammen. Wir sagten, die Mutter stieß einen Schrei des Entsetzens aus, zugleich irrte ihr verstörter Blick über die eigene, leicht feuerfangende Toilette – wie geistesabwesend, mit tödlich erblaßtem Gesichte streckte sie abwehrend ihre Hände dem Kinde entgegen und war mit einem Sprunge hinter der schützenden Taxuswand verschwunden.

Die in »Duft« gekleidete Damengesellschaft zerstob wie eine aufgescheuchte Taubenschar unter lauten Angstrufen nach allen Richtungen hin; nur Frau Hellwig erhob sich tapfer zur Rettung des Kindes, und die beiden Herren sprangen sofort hinüber; allein sie kamen zu spät. Felicitas stand bereits da, sie breitete ihre Kleider aus, schlug sie eng um das brennende Kind und suchte die Flammen zu ersticken – sie waren zu mächtig; der dünne Kattunrock des jungen Mädchens fing selbst Feuer, es züngelte gierig an ihr empor. Rasch entschlossen preßte sie das Kind in ihre Arme, flog durch den Grasgarten den Damm hinauf und warf sich in den vorüberrauschenden Mühlbach.

Todesgefahr und Rettung hatten sich in wenige Augenblicke zusammengedrängt; ehe die beiden Herren nur die Absicht des fortstürzenden Mädchens begriffen, war das Feuer bereits gelöscht. Sie betraten den Damm in dem Augenblicke, als Felicitas, wieder aufrechtstehend und das triefende Kind auf dem rechten Arme haltend, mit der Linken in die Zweige eines Haselstrauches griff, um sich gegen das hier mit großer Gewalt vorüberschießende Wasser zu halten. Mit den Herren zugleich erschien die Regierungsrätin auf dem Damme.

»Mein Kind, rettet mein Aennchen!« rief sie in verzweiflungsvollen Tönen, es sah aus, als wolle sie schnurstracks in das Wasser laufen.

»Mache dir die Schuhe nicht naß, Adele, du könntest leicht den Schnupfen bekommen,« sagte der Professor mit beißender Ironie, während er rasch hinabstieg und Felicitas beide Hände bot, um sie zu stützen; aber er ließ sie langsam wieder sinken – das erst völlig ruhige Gesicht des jungen Mädchens hatte sich plötzlich verwandelt, eine tiefe Falte grub sich zwischen ihren Brauen, und jener tödlich kalte, feindselige Blick, den er bereits kannte, traf sein Auge. Sie reichte ihm, das Gesicht abwendend, die kleine Anna hin und schwang sich dann, die Hand des Rechtsanwalts mit einem schwachen Lächeln der Dankbarkeit ergreifend, auf den Damm.

Der Professor trug das Kind in das Gartenhaus, entkleidete es mit Hilfe der jammernden Mutter und forschte nach den mutmaßlichen Brandwunden, aber es war, wunderbar genug, fast unverletzt; nur die linke Hand, von welcher, wie es selbst weinend erzählte, das Feuer ausgegangen war, zeigte Brandspuren. Die Kleine hatte, während die Regierungsrätin in der Küche gewesen, unbemerkt die Schwefelhölzchen vom Herde genommen; beim Anzünden draußen im Garten war ein Zeugstreifen, den man infolge einer kleinen Schnittwunde um ihren Daumen gewickelt, in Brand geraten; sie hatte die Flamme am Kleide abzustreifen gesucht und dadurch das Unglück herbeigeführt.

Die geflüchteten Damen kehrten nun auch sämtlich zurück. Ein Gemisch von Wehklagen und Glückwünschen für die Mutter des geretteten Kindes strömte von all den zarten Lippen, und der »arme Engel« wurde mit Liebkosungen überschüttet.

»Aber, beste Karoline,« sagte die Regierungsrätin mit sanftem Vorwurfe zu dem jungen Mädchen, das, bang auf das Ergebnis der Untersuchung harrend, in ihrer Nähe stand, »konnten Sie denn Aennchen nicht ein wenig draußen im Garten überwachen?«

Der Vorwurf war zu ungerecht.

»Sie hatten mir wenige Augenblicke zuvor verboten, das Haus zu verlassen,« entgegnete Felicitas finster, mit einem ihrer durchdringenden Blicke auf die Frau, während das Rot der Entrüstung in ihre Wangen stieg.

»So, ei warum denn das, Adele?« fragte Frau Hellwig verwundert.

»Mein Gott, Tantchen,« antwortete die junge Witwe, ohne jedwedes Zeichen der Verlegenheit, »das wirst du leicht begreifen, wenn du dir dies Haar ansiehst . . . Ich wollte ihr und uns den üblen Eindruck ersparen, den Nachlässigkeit stets hervorrufen muß.«

Felicitas griff bestürzt nach ihrem Kopfe; sie war sich bewußt, ihr Haar mit ängstlicher Sorgfalt geordnet zu haben; aber der Kamm, der nie recht fest sitzen wollte in den dicken, widerspenstigen Wellen, war entschlüpft – er lag höchstwahrscheinlich im Mühlbache. Das aufgelöste, wundervolle Gelock wogte wie ein Glorienschein um Wangen und Schultern, noch bestreut mit einzelnen Perlen des aufgepeitschten Wassers.

»Ist das alles der Gesamtausdruck Ihrer Dankgefühle für die rettende Hand, die Ihr Kind unversehrt durch Feuer und Wasser getragen hat, meine Gnädige?« fragte der Rechtsanwalt scharf – sein Auge hatte bis dahin fast unverwandt auf Felicitas geruht.

»Wie mögen Sie nur so ungerecht von mir denken, Herr Frank!« verteidigte sich die junge Witwe tief gekränkt. »Ein Mann wird freilich nie recht das Mutterherz begreifen lernen; es zürnt im ersten Augenblicke wider Willen denen, die ein Leiden des geliebten Kindes hätten verhüten können, wenn es auch dankbar anerkennt, daß sie ihr Versehen durch die schließliche Rettung gesühnt haben . . . Meine teure Karoline,« wandte sie sich an das junge Mädchen, »ich werde Ihnen den heutigen Tag nie vergessen . . . Könnte ich doch in diesem Augenblicke schon beweisen, wie dankbar ich Ihnen bin!« Rasch, als ob sie einer plötzlichen Eingebung folgte, löste sie das Armband und reichte es Felicitas hin. »Da nehmen Sie vorläufig – es ist mir sehr wert; aber für die Rettung meines Aennchens könnte ich das Liebste freudig opfern!«

Felicitas schob tief verletzt die Hände zurück, die ihr den Schmuck um den Arm legen wollten.

»Ich danke,« sagte sie mit jenem stolzen Zurückwerfen des Kopfes, welches die demutsvollen Gläubigen an dem Spielerskinde stets so entsetzlich fanden; »ich werde mich nie für das Genügen der Nächstenliebe bezahlen lassen; noch weniger aber bin ich gesonnen, irgend welches Opfer anzunehmen . . . Sie sagen selbst, daß ich einfach ein Versehen gesühnt habe, und sind mir mithin nicht im mindesten verpflichtet, gnädige Frau.«

Frau Hellwig hatte der Regierungsrätin das Armband bereits weggenommen.

»Du bist nicht bei Trost, Adele!« schalt sie ärgerlich, ohne Felicitas' stolze Antwort weiter zu beachten. »Was soll denn das Mädchen mit dem Dings da anfangen? . . . Schenk ihr ein Kleid von derbem, haltbarem Gingham, das kann sie besser brauchen – und damit ist die Sache abgemacht, basta!«

Nach den letzten Worten ging der Rechtsanwalt hinaus. Er holte seinen Hut und trat unter das offene Fenster, an welchem Felicitas stand.

»Ich finde, daß wir samt und sonders sehr grausam gegen Sie sind!« rief er ihr zu. »Zuerst werden Sie mit schnödem Golde verwundet, und dann sehen wir Sie ungerührt in durchnäßten Kleidern dastehen . . . Ich werde in die Stadt laufen und das Nötige für Sie und die kleine Brandstifterin herausschicken.«

Er grüßte und entfernte sich.

»Er ist ein Narr,« sagte Frau Hellwig zornig zu den Damen, die ihm verdrießlich und mit schlecht verhehltem Bedauern über sein Gehen nachblickten.

Der Professor hatte, mit dem Kinde beschäftigt, kein Wort in die Belohnungsdebatte fallen lassen; wer ihm aber nahe gestanden, der mußte wissen, daß seit dem Moment, wo die Regierungsrätin dem jungen Mädchen das Armband angeboten hatte, sein Gesicht stark gerötet war . . . Zum Frauenarzte, oder wohl gar zu einem jener feinen, geheimen Medizinalräte, die hohe und höchste Krankheiten und Launen zu ihrem besonderen Studium machen, war er sicher nicht geschaffen. Er hatte etwas entsetzlich Rücksichtsloses dem zarten Geschlechte gegenüber. Es war doch so natürlich, daß man sich über den Unfall des Kindes zu Tode erschreckt hatte und gar zu gern über die etwaigen Folgen beruhigt sein mochte; aber auf alle die teilnahmvollen Fragen der Damen hatte der Mann der Wissenschaft nur kurze, trockene Antworten, ja, einige etwas schuldlos klingende Bemerkungen wurden sogar mit beißendem Sarkasmus gegeißelt.

Er überließ die in einen dicken, wollenen Shawl gewickelte Kleine endlich den zarten Händen und schritt auf die Thür zu. Felicitas hatte sich in die fernste Ecke des Salons zurückgezogen – dort glaubte sie sich völlig unbeobachtet. Mit schmerzhaft emporgezogenen Schultern lehnte sie an der Wand; ihr Gesicht hatte eine fahle Blässe angenommen, das vor sich hinstarrende Auge unter den gerunzelten Brauen und die fest aufeinander gepreßten Lippen zeigten unverkennbar, daß sie physisch litt – sie hatte eine bedeutende Brandwunde am Arme, die ihr unsägliche Schmerzen verursachte.

Im Begriff, die Thür zu schließen, sah der Professor noch einmal forschend in das Zimmer zurück; sein Blick fiel auf das junge Mädchen, er fixierte es einen Moment scharf und stand plötzlich mit wenig Schritten vor ihr.

»Sie haben Schmerz?« fragte er rasch.

»Er läßt sich ertragen,« antwortete sie mit zitternden Lippen, die sich sofort krampfhaft wieder schlossen.

»Die Flamme hat Sie verletzt?«

»Ja – am Arm.« Trotz ihrer Leiden nahm sie eine zurückweisende Haltung an und wandte das Gesicht nach dem Fenster – sie konnte um alles nicht in diese Augen sehen, die sie seit ihrer Kindheit verabscheute. Er zögerte einen Augenblick; aber die Pflicht des Arztes siegte.

»Wollen Sie nicht meine Hilfe annehmen?« fragte er geflissentlich langsam und in gütigem Tone.

»Ich will Sie nicht bemühen,« entgegnete sie mit finsterem Blick; »ich kann mir selbst helfen, sobald ich in der Stadt sein werde.«

»Nun, wie Sie wollen!« sagte er kalt. »Uebrigens gebe ich Ihnen doch zu bedenken, daß meine Mutter vorläufig noch Anspruch auf Ihre Zeit und Kraft hat. Sie dürfen sich schon aus dem Grunde nicht mutwillig krank machen.« Bei den letzten Worten vermied er, Felicitas anzusehen.

»Ich vergesse das nicht,« versetzte sie minder gereizt; sie fühlte recht gut, daß dies Zurückführen auf ihre Pflicht nicht geschah. um sie zu demütigen; er wollte sie offenbar bestimmen, seine ärztliche Hilfe anzunehmen. »Ich kenne unser Uebereinkommen genau,« fügte sie hinzu, »und Sie werden mich bis zu der letzten Stunde auf dem mir angewiesenen Platze finden.«

»Nun, ist auch hier deine ärztliche Hilfe nötig, Johannes?« fragte die Regierungsrätin hinzutretend.

»Nein,« sagte er kurz. »Aber was thust du noch hier, Adele?« fuhr er verweisend fort. »Ich habe dir vorhin gesagt, daß Anna sofort in die frische Luft muß, und begreife nicht, weshalb du den Aufenthalt hier in dem schwülen Zimmer für nötiger hältst.«

Er ging zur Thür hinaus, und die Regierungsrätin beeilte sich, ihr Kind auf den Arm zu nehmen; sämtliche Damen folgten ihr. Drüben am Kaffeetische saß Frau Hellwig längst in unerschütterter Gemütsruhe. Zwischen der vorletzten Maschentour und dem jetzt unter ihren Fingern wachsenden neuen Streifen des Strickstrumpfes lag die Todesgefahr zweier Menschen; aber das hatte jenes Gleichgewicht, welches auf stählernen Nerven und einer noch härteren Seele beruhte, nicht zu stören vermocht.

Endlich kam Heinrich mit den ersehnten Kleidern. Er war so gelaufen, daß ihm der Schweiß von der Stirne rann.

Mit Heinrich zugleich war Rosa eingetroffen. Felicitas erhielt deshalb von Frau Hellwig die Erlaubnis, in die Stadt zurückzukehren. Sie wußte, daß Tante Cordula eine ausgezeichnete Brandsalbe in ihrem reichhaltigen Medizinkasten hatte, und eilte sofort, indes Heinrich das Haus bewachte, hinauf in die Mansarde.

Während die alte Mamsell bestürzt die kühlende Salbe hervorholte und mit sanfter Hand den verletzten Arm verband, erzählte Felicitas den Vorfall. Sie sprach hastig, in fliegenden Worten. Physischer Schmerz und Gemütsbewegung hatten sie in eine fieberhafte Aufregung versetzt. Noch siegte indes der starke Wille des Mädchens über die Leidenschaftlichkeit; als aber Tante Cordula ruhig einwarf, sie hätte die ärztliche Hilfe nicht zurückweisen sollen, da brach die letzte mühsam behauptete Schranke.

»Nein, Tante!« rief sie hastig, »die Hand soll mich nicht berühren, und wenn sie mich aus Todesnot erretten könnte! . . . Die Menschenklasse, aus der ich stamme, ist ihm ›unsäglich zuwider‹. Dieser Ausspruch aus seinem Munde hat einst mein Kinderherz bis in den Tod betrübt – ich werde ihn nie vergessen! . . . Seine Pflicht als Arzt ließ ihn heute für einen Moment den Abscheu überwinden, den er gegen die ›Paria‹ fühlt, ich will sein Opfer nicht!«

Sie schwieg erschöpft, und ihr Gesicht verzog sich im Schmerze, den die Wunde verursachte.

»Er ist nicht mitleidlos,« fuhr sie nach einer Pause fort, »ich weiß es, er versagt sich Genüsse um seiner armen Patienten willen. An jedem anderen würden mich solche fortgesetzte Opfer, solch stille Tugend zu Thränen rühren, hier aber empören sie mich wie an einer anderen Menschenseele das Laster . . . Ich bin unedel, Tante, niedrig denkend – ich fühle es wohl, aber ich kann mir nicht helfen, es verursacht mir heftige Pein, Zorn und Groll, an ihm etwas bewundern zu sollen, den ich bis in alle Ewigkeit verabscheue!«

Einmal vom Boden strenger Zurückhaltung und Verschlossenheit gewichen, beklagte sie sich auch heute zum erstenmal bitter über das herzlose Benehmen der jungen Witwe. Jener eigentümliche rote Fleck erschien, wenn auch flüchtig, unter dem linken Auge der alten Mamsell.

»Kein Wunder – sie ist ja Paul Hellwigs Tochter!« warf sie hin. In diesen wenigen, mit schwacher, aber schneidender Stimme gesprochenen Worten lag eine strenge Verurteilung. Felicitas horchte überrascht auf. Nie hatte Tante Cordula eine Beziehung zu irgend einem Hellwigschen Familiengliede berührt – die Nachricht von der Ankunft der Regierungsrätin hatte sie damals schweigend und scheinbar völlig teilnahmslos angehört, so daß Felicitas annehmen mußte, die Verwandten am Rhein haben ihr zeitlebens fern gestanden.

»Frau Hellwig nennt ihn den Auserwählten des Herrn, den unermüdlichen Streiter für den heiligen Glauben,« sagte das junge Mädchen nach einer kurzen Pause zögernd. »Er muß ein glaubensstrenger Mann sein, einer jener finsteren Eiferer, die zwar mit eiserner Konsequenz nach Gottes Geboten leben, aber auch eben deshalb unerbittlich und unnachsichtlich die Fehler und Schwächen anderer richten.«

Ein leises, heiseres Gelächter schlug an Felicitas' Ohr. Die alte Mamsell hatte eine eigentümliche Art von Gesichtszügen, bei welchen man nie fragt: »sind sie schön oder häßlich?« Die herzerquickende Sprache weiblicher Sanftmut und Güte, eines tiefsinnigen Geistes vermittelt hier zwischen den strengen Anforderungen der Schönheitsgesetze und der eigenwillig formenden Natur – wo die Linie abweicht, da ergänzt der Ausdruck, aber eben deshalb kann uns auch diese Gattung Gesichter plötzlich vollkommen fremd werden, sobald ihre gewohnte Harmonie gestört wird. Tante Cordula erschien in diesem Augenblicke förmlich unheimlich; es war ein Hohngelächter, wenn auch ein leises, gedämpftes, welches sie ausstieß; ihr sonst so stilles, liebes Gesicht hatte etwas Medusenhaftes, durch den plötzlichen Ausdruck unsäglicher Bitterkeit und einer namenlosen Verachtung. Jene Aeußerung im Verein mit dem seltsamen Gebaren der alten Mamsell warfen abermals einen schwachen Lichtreflex auf ihre geheimnisvolle Vergangenheit, aber nicht ein leitender Faden wurde sichtbar in dem dunklen Gewebe, und auch jetzt that sie alles, um den Eindruck ihres momentanen Sichgehenlassens bei dem jungen Mädchen zu verwischen.

Auf dem großen, runden Tische mitten im Zimmer lagen verschiedene Mappen, sie waren geöffnet. Felicitas kannte die verstreut umherliegenden Blätter und Hefte sehr gut. Da, auf grobem, vergilbtem Papiere, mit verblichener Tinte und oft in sehr verzwickten Hieroglyphen hingeworfen, leuchteten Namen wie Händel, Gluck, Haydn, Mozart – es war Tante Cordulas Handschriftensammlung berühmter Komponisten. Bei Felicitas' Eintritt in das Zimmer hatte die alte Dame in den Papieren gekramt, die, jahrelang unausgelüftet hinter den Glasscheiben liegend, jetzt einen durchdringenden Modergeruch ausströmten. Sie nahm schweigend die Arbeit wieder auf, indem sie die Papiere mit großer Vorsicht und Behutsamkeit in die Mappe schob. Der Tisch leerte sich allmählich, und dadurch wurde auch ein tiefer unten liegendes, dickes, geschriebenes Notenheft sichtbar. »Musik zu der Operette ›Die Klugheit der Obrigkeit in Anordnung des Bierbrauens‹, von Johann Sebastian Bach,« stand auf dem Titelblatte.

Die alte Mamsell legte bedeutungsvoll den Finger auf den Namen des Komponisten. »Gelt, das kennst du noch nicht?« fragte sie mit einem wehmütigen Lächeln. »Das hat viele Jahre zusammengerollt im obersten Fache meines Geheimschrankes gelegen . . . Heute morgen gingen allerlei Gedanken durch meinen alten Kopf – sie meinten alle miteinander, es sei Zeit, Ordnung für die Heimreise zu machen, und nach dieser Ordnung gehört das Heft in die rote Mappe . . . Es mag wohl das einzige Exemplar sein, das existiert – es wird dereinst mit Gold aufgewogen werden, meine liebe Fee. Das Textbuch, ganz speziell für unsere kleine Stadt X. und meist im hiesigen Dialekt geschrieben, ist vor beinahe zwei Jahrzehnten hier aufgefunden worden und hat um seiner mutmaßlichen Bachschen Komposition willen in der musikalischen Welt Aufsehen erregt; diese Komposition, die man noch sucht – hier ist sie. Die Melodien, die für die Welt weit über ein Jahrhundert hier auf dem Papiere geschlafen haben, sind für die Musiker eine Art Nibelungenhort, umsomehr, als sie die einzigen eigentlichen Opernmelodien sind, die Bach je komponiert hat . . . Anno 1705 haben die Schüler der hiesigen Landesschule und verschiedene Bürger drüben im alten Rathaussaale, damals der ›Tuchboden‹ genannt, die Operette aufgeführt.«

Sie schlug das Titelblatt um; da stand auf der Rückseite in zierlicher Schrift: »Johann Sebastian Bachs eigenhändig geschriebene Partitur, von ihm erhalten zum Andenken im Jahre 1707. Gotthelf v. Hirschsprung.« – »Der da soll mitgesungen haben,« fuhr sie mit etwas vibrierender Stimme fort, indem sie auf den letzten Namen zeigte.

»Und wie kam das Heft in deine Hände, Tante?«

»Durch Erbschaft,« klang es kurz abweisend, fast rauh von Tante Cordulas Lippen, während sie die Partitur in die rote Mappe legte.

In solchen Momenten war es geradezu unmöglich, ein Gespräch verlängern zu wollen, welches die alte Mamsell abzubrechen wünschte. In Haltung und Gebärden der kleinen, hinfälligen Gestalt lag dann eine so entschiedene Zurückweisung, daß nur Taktlosigkeit und unverschämte Neugierde vorzugehen vermochten. Felicitas warf einen sehnsüchtigen Blick auf das verschwindende Manuskript; die Melodien, die kein Lebender, außer Tante Cordula, kannte, erregten ihr höchstes Interesse, aber sie wagte nicht, um einen Einblick zu bitten, wie sie ja auch vorhin bei ihrer Mitteilung die Armbandgeschichte völlig unerwähnt gelassen hatte – nie hätte sie eine schmerzlich klingende Saite im Innern ihrer Beschützerin zum zweitenmal berühren mögen.

Die alte Mamsell schlug den Flügel auf, und Felicitas zog sich in den Vorbau zurück . . . Die Sonne war im Untergehen. Dort drüben lag es noch wie ein aufgewirbelter, funkelnder Goldstaub, der das Auge blendete und Himmel und Erde formlos ineinander schwimmen ließ. Wie aus der Hand des Sämanns die weithin geschleuderten Körner, so fielen von dort her Streiflichter purpurn und goldig färbend auf die Wipfel des Bergwaldes und auf das blütenbeschneite Thalgelände. Einzelne Partien der Gegend traten dadurch überraschend und fremdartig hervor, gleich einem neuen Gedanken in der sinnenden Menschenstirne . . . Das kleine Dorf dort, das seine letzten Hütten keck den Fuß des Berges ersteigen ließ, erreichte der Sonnenstrahl nicht mehr, aber vom Kopfe des spitzen Kirchturms zuckten noch Blitze, und die weit offenen Thüren der Häuser zeigten das rotglühende Herdfeuer, auf welchem die Abendkartoffeln kochten . . . Süßer Abendfrieden lag da draußen, und hier oben quoll der Blumenduft betäubend empor, kein Lüftchen trug ihn weiter, noch rührte es an die sonnenmüden Blätter und Zweige. Manchmal fiel ein schwerfälliger Maikäfer klatschend auf die Galerie, oder ein Schwalbenpaar schwirrte, von Elternsorgen getrieben, vorüber – sonst war es still, feierlich still. Um so ergreifender schwebten die Klänge des Beethovenschen Trauermarsches heraus in den Vorbau, aber schon nach wenigen Akkorden hob Felicitas erschreckt den tiefgesenkten Kopf und blickte angstvoll in das Zimmer zurück – das war kein Klavierspiel mehr; ein Tongeflüster, hinsterbend und geisterhaft, schlug es doch mit der ganzen Kraft einer unabweisbaren, urplötzlich begriffenen Mahnung an das Herz des jungen Mädchens: die Hände, die über die Tasten hinglitten, waren müde, sterbensmüde, und das, was unter ihnen hervorklang, waren die Flügelschläge einer Seele, die sich losreißen wollte für immer.


 << zurück weiter >>