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Nachmittags trank die Familie Hellwig den Kaffee draußen im Garten. Friederike hatte ihren kattunenen, flanellgefütterten Sonntagsmantel über die Schultern geworfen, die schwarzseidene, wattierte Staatsmütze aufgesetzt und war zuerst in die Kirche und dann zu einer »Frau Muhme« auf Besuch gegangen. Heinrich und Felicitas waren allein in dem großen, kirchenstillen Hause. Ersterer war längst heimlicherweise draußen auf dem Gottesacker gewesen und hatte das verhängnisvolle Tuch heimgeholt – es lag nun gesäubert und regelrecht zusammengelegt im Kasten.
Der ehrliche Bursche hatte die vormittägige Szene von der Küche aus mit angehört und zum Teil auch gesehen; er war sehr in Versuchung gewesen, hervorzuspringen und mit seinen derben Fäusten den Sohn des Hauses ebenso zu schütteln, wie die zarte Gestalt des aufrührerischen Kindes hin und her geschüttelt wurde. Jetzt saß er da in der Gesindestube und schnitzelte an seinem defekten Ausgehstock herum, wobei er leise und zwar sehr ungeschickt und unmelodisch pfiff. Er war ja aber auch gar nicht bei der Sache; seine Blicke huschten rastlos und verstohlen hinüber nach dem schweigenden Kinde . . . Das war gar nicht mehr das Gesicht der kleinen Felicitas! Sie saß dort wie ein gefangener Vogel, aber wie ein Vogel, dem die Wildheit in der Brust brennt und der voll unversöhnlichen Grolles der Hände denkt, die ihn gefesselt haben . . . Auf ihren Knieen lag der Robinson, den Heinrich auf eigene Gefahr hin von Nathanaels Bücherbrett geholt hatte, aber sie warf keinen Blick hinein. Der Einsame hatte es gut auf seiner Insel, da gab es doch keine bösen Menschen, die seine Mutter leichtsinnig und liederlich schalten; da lag der funkelnde Sonnenschein auf den Palmenkronen, auf den grünen Wogen des fetten Wiesengrases – und hier brach das Gotteslicht gedämpft, als trübe Dämmerung durch die engvergitterten Fenster, und nirgends, weder draußen in der schmalen Gasse noch hier im ganzen Hause, erquickte ein grünes Blatt das Auge . . . Ja, drin im Wohnzimmer, da stand freilich ein Asklepiasstock im Fenster – die einzige Blume, die Frau Hellwig pflegte, aber Felicitas konnte diese regelmäßigen, wie aus kaltem Porzellan geformten Blütenbüschel, die starren, harten Blätter nicht leiden, die stocksteif und ungerührt dahingen, mochte auch der Luftzug durchstreichen, soviel er wollte – was gab es denn Schöneres, als draußen die leichtbeweglichen, grünen Zungen an Büschen und Bäumen mit ihrem unaufhörlichen Rauschen und Flüstern?
Die Kleine sprang plötzlich auf. Droben auf dem Dachboden, da konnte man weit hinaus in die Gegend sehen, da war sonnige Luft – wie ein Schatten glitt sie die gewundene steinerne Haupttreppe hinauf.
Das alte Kaufmannshaus war eigentlich nach gewissen Begriffen degradiert worden. Vor langen Zeiten war es ein Edelsitz gewesen. Es hatte auch noch etwas Ehrgeiziges in seiner Physiognomie – wenn auch nicht in dem Maße, wie die Türme, die alles unter sich lassen und, wenn es ginge, am liebsten auch den Himmel als alleiniges Eigentum auf ihre Spitze spießen möchten – aber es zeigte doch hier und da dies Emporstreben in dem Turmansatze des Erkers und vor allem in den mächtigen Schornsteinen, die sich in jenen Zeiten so nötig machten, wo noch die Wildbraten in ihrer natürlichen Größe und Urwüchsigkeit auf den Bratspießen adeliger Küchen steckten . . . Das blaue Blut, das die Herzen der ehemaligen ritterlichen Bewohner klopfen gemacht, war längst versiegt, ja, in den letzten Stadien war es ihm ergangen, wie dem alten Hause auch – es war degradiert worden.
Die vordere, nach dem Marktplatz gewendete Front des Hauses hatte sich allmählich in etwas modernisiert, die Hintergebäude dagegen, drei gewaltige Flügel, standen noch in keuscher Unberührtheit, wie sie aus der Hand ihres Schöpfers hervorgegangen waren. Da gab es noch jene langen, hallenden Gänge mit schiefen Wänden und tief ausgetretenem Estrich, in denen selbst bei strahlendem Mittagssonnenscheine eine traumähnliche Dämmerung webt, und die es einer sagenhaften Ahnfrau so leicht machen, in grauer Schleppe, mit verblichenem Antlitz und schattenhaft gekreuzten Händen umherzuspuken. Da waren noch jene unvorhergesehenen, unter dem leisesten Tritte kreischenden Hintertreppchen, die plötzlich am Ende eines Korridors auftauchen, um drunten vor irgend einer unheimlichen, siebenfach verriegelten Thür zu münden – jene abgelegenen, scheinbar zwecklosen Ecken mit einem einsamen Fenster, durch dessen runde, bleigefaßte Scheiben fahle Lichtsäulen auf den zerbröckelnden Backsteinfußboden fallen. Der Staub, der hier auf die Köpfe der Vorüberwandelnden herabrieselte, war historisch; er hatte als jugendliche Holzfaser irgend eines Balkens oder als neuer Mörtel die hochgehenden Wogen des blauen Blutes mit angesehen.
Wo es irgend möglich gewesen, hatte der Steinmetz das Wappen des Erbauers des Hauses, eines Ritters von Hirschsprung, angebracht. Die steinernen Thür- und Fenstereinfassungen, ja selbst einzelne Quadern des Fußbodens zeigten den majestätischen Hirsch, wie er, die Vorderläufe hochhebend, zum grausigen Sprunge über einen Abgrund ansetzte. Aus den Thürpfosten einer der großen Staatsstuben im Vorderhause befanden sich auch die Bildnisse des Erbauers und seiner Ehegesponsin, langgestreckte Gestalten in Barett und Schneppenhaube. Der ehrenfeste Ritter blickte mit unvergänglich herausforderndem Stolze in die Welt, aus der längst sein Staub und seine »für ewig« besiegelten und verbrieften Ansprüche hinweggeweht waren.
Felicitas stand droben an der Mündung der Treppe und sah mit großen, verwunderten Augen in eine halboffene Thür, die sie nicht anders als verschlossen kannte . . . Wie sehr mußte die Ausführung ihres Racheaktes alles Denken der sonst so peinlich pünktlichen Hausfrau in Anspruch genommen haben, daß sie darüber Schloß und Riegel vergessen konnte! . . . Hinter der Thür lag ein scheinbar endloser Korridor, der über eines der Hintergebäude hinlief, und in welchen verschiedene Thüren mündeten. Eine derselben stand offen und ließ in eine Rumpelkammer mit einem sehr hochliegenden Mansardenfenster sehen. Sie war vollgepfropft mit altem Gerümpel, und da seitwärts an einem Rokokoarmsessel lehnte auch das Bild der Frau Kommerzienrätin. Es war nicht einmal gegen eine schützende Wand gekehrt; Staub und Spinnen durften sich nun ungestört des Gesichts bemächtigen, das dem Maler in der stolzen Ueberzeugung gesessen hatte, es werde für Kind und Kindeskinder bis in die fernste Zeit ein Gegenstand hoher Verehrung sein.
Die großen, hervortretenden, etwas lüsternen Augen hatten, so nahe gesehen, etwas Furchterregendes für das Kind – es wandte sich ängstlich ab, aber in dem Momente fuhr es wie ein Stich durch das kleine Herz und das Blut brauste nach dem Kopfe – den mit Seehundsfell überzogenen Koffer dort am Boden kannte ja die kleine Felicitas ganz genau! . . . Scheu, mit angehaltenem Atem – schlug sie den Deckel zurück – da lag obenauf ein hellblaues Wollkleidchen, dessen Säume und Bündchen zierliche Stickerei zeigten. Ach ja, das hatte ihr Friederike eines Abends ausgezogen, und dann war es verschwunden, und die kleine Felicitas mußte dafür ein abscheuliches, dunkles Kleid anlegen.
Immer tiefer und heftiger wühlten die kleinen Hände, – was kam da alles zum Vorschein, und wie stürmte es in der Kinderseele bei diesem Wiedersehen! . . . All diese Gegenstände, so elegant, als sollten sie den vornehmen Körper einer kleinen Prinzessin umhüllen, hatte die tote Mutter in den Händen gehabt. Felicitas erinnerte sich mit peinlicher Schärfe des süßen Gefühls, wenn die Mama sie angekleidet und mit ihren samtweichen, zarten Fingern berührt hatte . . . Ach, hier tauchte auch das buntscheckige Kätzchen auf, das einst der ganze Stolz des Kindes gewesen! Es war auf eine kleine Tasche gestickt. – Halt, da steckte auch etwas drin, aber es war kein Spielzeug, wie das Kind anfänglich meinte, es war ein hübsches Petschaft von Achat, auf dessen silberner Platte derselbe majestätische Hirsch sich bäumte, den das Mauerwerk des Hellwigschen Hauses bis zum Ueberdruß zeigte. Unter dem Wappen stand in seinen, flüchtigen Zügen M. v. H. . . . Das hatte gewiß der Mama gehört, und das Kind hatte einst die räuberische kleine Hand danach ausgestreckt. –
Höher und höher wuchs die Flut der Erinnerungen und auf manche fiel ein Strahl des gereiften Verständnisses. Jetzt begriff sie jene Momente, wo sie, aus dem ersten Schlafe aufschreckend, den Vater im goldblitzenden Wams und die Mutter mit den aufgelösten blonden Locken an ihrem Bettchen stehen sah – sie waren aus der Vorstellung heimgekommen . . . und da war auch jedesmal auf die arme Mama geschossen worden, und das Kind hatte so ahnungslos in das totenbleiche Gesicht gesehen; es wußte aber noch, daß es an solchen Abenden stets stürmisch, wie in atemloser Hast, an das Mutterherz emporgerissen worden war . . .
Stück um Stück der neuentdeckten Schätze wurde gestreichelt und geliebkost und dann sorgsam in den Koffer zurückgelegt, und als der Deckel alles wieder verschloß, da schlang das Kind seine Arme um den kleinen, vielgereisten Kasten und legte das Köpfchen darauf – sie waren ja alte Kameraden, zwei, die zusammengehörten in der weiten Welt, welche nicht so viel Heimatboden für das Spielerskind hatte, als auch nur sein kleiner Fuß bedeckte . . . Jetzt sah das erst so wildtrotzige Gesichtchen mild und versöhnt aus, als es, die zarte Wange auf die von den Motten halbzerfressene Decke des Koffers gepreßt, mit geschlossenen Augen regungslos dalag.
Durch das Fenster zog die laue Luft aus und ein und hauchte einen Strom balsamischer Düfte in den abgelegenen, stillen Bodenwinkel . . . wie konnte sich dies berauschende Aroma, das ganzen Resedabeeten entquellen mußte, so hoch in die Lüfte versteigen? Und was waren das für Töne, die jetzt von fern herüber mit ihm herein strömten? . . . Felicitas öffnete die Augen und setzte sich horchend auf. Das konnte nicht die Orgel der nahen Barfüßerkirche sein – der Gottesdienst war ja längst aus. Ein gebildeteres Ohr als das des harmlosen, unwissenden Kindes würde auch eher alles andere, als diese Harmonien mit der Orgel in Verbindung gebracht haben – die Ouvertüre zum Don Juan wurde meisterhaft auf dem Klavier gespielt.
Felicitas schob einen wackeligen Tisch unter das Fenster und stieg hinauf. Ah, was war das! . . . Freilich, mit der geträumten Ausschau in die weite Gotteswelt war es hier nichts; vier Dächer bildeten ein festgeschlossenes Quadrat, von denen das gegenüberliegende die anderen überragte und dem Blicke jede Fernsicht verwehrte; aber gerade dies Dach-Vis-a-vis war für die zwei erstaunten, weitgeöffneten Kinderaugen ein Wunder, wie es die schönsten Märchenbücher nicht wunderbarer erzählen konnten. Dort auf der hohen, doch sanft geneigten Schrägseite gab es nicht etwa Ziegel, wie sie die anderen Dächer schwarzbraun, schmutzig und bemoost zeigten – nein, es war förmlich überschüttet mit Blumen, mit Astern und Dahlien, welche ihre bunten Häupter hoch droben in den Lüften mit derselben Sicherheit wiegten, wie drunten, dicht an der starken Muttererde. Soweit ein pflegender menschlicher Arm von der am unteren Rande des Daches hängenden Galerie aus reichen konnte, stiegen Blumenreihen empor, dann aber schloß sich ihnen ein in allen Nüancen des Rot spielendes Blättergewirr an, fast wie ein Mantel, der sich um die Schultern einer glänzenden Schönheit legt – die wilde Weinrebe reckte und streckte sich bis hinauf zum First; selbst auf die Nachbardächer krochen die Ranken noch mit ihren leuchtenden, gefingerten Blättern und den schwarzblauen Trauben. Die Galerie hatte die ganze Länge des Daches und hing so luftig und leicht da, als sei sie hingeweht, und doch trug die Brüstung ihres Geländers schwere Kasten voll Erde, aus denen dicke Resedabüsche quollen und Hunderte von Monatsrosen ihre lachenden Köpfchen steckten.
Ein weißer, ziemlich plumper Gartenstuhl neben einem runden Tischchen, auf welchem ein Porzellankaffeegeschirr stand, bewies unwiderleglich, daß Geschöpfe von Fleisch und Blut hier oben hausten; gleichwohl behielt die ursprüngliche Vermutung des Kindes etwas für sich, nach welcher dort der kleine Vorbau, den eine Glasthür von der Galerie abschloß, das Hüttchen der Blumenfee sein mußte. Man sah weder Dach noch Mauern; es war alles überwuchert von großblätterigem, schottischem Epheu; die Kapuzinerkresse rankte sich hinauf, verstreute droben über die grüne Kuppel ihre gespornten Blütenkelche mit den feurig orangegelben Samtblättern und hing sie mutwillig schaukelnd über die Glasthür. Diese Thür klaffte ein wenig, und aus ihr quollen die Töne, die das Kind ans Fenster gelockt hatten.
Ein Blick hinunter in den Raum, den die vier Hintergebäude umschlossen, ließ plötzlich eine Ahnung in der kleinen Felicitas aufdämmern. Da drunten krakeelte und krähte es um die Wette – es war der Geflügelhof. Felicitas hatte ihn noch nie gesehen; denn aus Furcht, daß eines der schnarrenden Geschöpfe in den Vorderhof oder wohl gar in die Hausflur dringen könne, trug Friederike den Thürschlüssel stets in der Tasche. Wie oft aber war sie mit zornigem Gesichte in die Küche gekommen und hatte zu Heinrich hinübergescholten: »Die Alte da oben gießt wieder einmal ihr nichtsnutziges Gras, daß die Rinnen überlaufen . . .!« Ach, das nichtsnutzige Gras waren die Tausende süßer Blumengesichtchen da drüben, und das Wesen, das sie pflegte und behütete, war – die alte Mamsell, die ja auch in diesem Augenblicke wieder den Sonntagnachmittag »entheiligte durch unheilige und lustige Weisen«.
Diese Gedanken waren kaum in dem Köpfchen aufgetaucht, als auch schon die kleinen Füße auf der Fensterbrüstung standen. Die ganze Elastizität der Kinderseele, die Leid und Kummer über etwas Neuem für einen Moment völlig vergessen kann, machte sich auch hier geltend . . . Das Kind konnte ja klettern wie ein Eichhörnchen, und über die Dächer hinzulaufen, war eine Kleinigkeit. Da unten auf den zwei an den Dächern hängenden Rinnen ließ es sich jedenfalls prächtig marschieren; sie sahen zwar etwas bemoost und wackelig aus, und dort in der Ecke, wo sie zusammenstießen, hingen beide schief, allein sie zerbrachen jedenfalls noch lange, lange nicht und ließen sich ja gar nicht vergleichen mit dem dünnen Seile, auf welchem Felicitas noch viel kleinere Mädchen, als sie selbst war, hatte tanzen sehen. Sie schlüpfte zum Fenster hinaus, und nach zwei Schritten über das abschüssige Dach stand sie in der Rinne. Es ächzte und knackte widerwillig unter den Füßchen, die tapfer vorwärts trippelten – rechts nicht der mindeste Halt, und links eine gähnende Tiefe von vier Stockwerken – wenn das die Mutteraugen gesehen hätten! – aber es ging vortrefflich. Noch ein Hinaufklettern auf das bedeutend höhere Dach, dann ein Sprung über das Geländer und das Kind stand mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen mitten unter den Blumen und sah über die anderen Gebäude hinaus in die weite, weite Welt, auf die ein purpurglühender Abendhimmel niederstrahlte.
Auf dem runden Tischchen lagen auch verschiedene Zeitungen, und auf einer derselben las das Kind im Vorüberschreiten lächelnd den Titel. »Die Gartenlaube«. Eine Gartenlaube, ja, die paßte freilich prächtig hierher, wo es hell und sonnig war, und wo eine so reine, frische Luft wehte!
Und nun stand das kleine Mädchen da und blickte schüchtern durch die Glasscheiben, die vielleicht noch nie ein Kindergesicht widergespiegelt hatten . . . Wuchsen denn die Epheuzweige durch das Dach und rankten sich da drinnen in dem großen Zimmer weiter? Von der Wandbekleidung konnte man nichts sehen, sie war völlig überstrickt von Gezweig, aber in kleinen Zwischenräumen traten Postamente aus der Wand hervor, auf denen große Gipsbüsten standen – eine merkwürdige Versammlung ernster, bewegungsloser Köpfe, die sich leuchtend und geisterhaft abhoben von dem kräftigen Grün der Blätterwand. Sie ließen es sich schweigend gefallen, daß die Epheuranken Allotria trieben und sich hier quer um die Brust des einen und dort als Kranz um eines anderen ernste Stirn schlangen. Die Mutwilligen machten es ja mit den Fenstern nicht besser; sie hingen wie eine grüne Wolke verdunkelnd über den Vorhängen, und doch waren diese zwei Fenster zwei prächtige Landschaftsbilder, sie ließen draußen die Straßendächer weit unter sich und faßten da drüben den herbstlichen bunten Wald auf dem Bergrücken und die fahlen Streifen der Stoppelfelder in ihren Rahmen.
Unter den Fenstern stand ein Flügel. Die alte Mamsell, genau so gekleidet wie gestern, saß davor, und ihre zarten Hände griffen mit gewaltiger Kraft in die Tasten. Das Gesicht sah etwas verändert aus; sie trug eine Brille, und ihre gestern so schneebleichen Wangen waren gerötet.
Die kleine Felicitas war leise eingetreten und stand in dem Bogen, welchen der Vorbau bildete . . . Fühlte die alte Dame die Nähe eines menschlichen Wesens, oder hatte sie ein Geräusch gehört – sie brach plötzlich mitten in einem rauschenden Akkorde ab, und ihre großen Augen richteten sich sofort über die Brille hinweg auf das Kind. Wie ein elektrischer Schlag fuhr es durch die schwächliche Gestalt der Einsamen, ein leiser Schrei entfloh ihren Lippen; sie nahm mit der zitternden Rechten die Brille ab und erhob sich, während sie sich auf das Instrument stützte.
»Wie kommst du hierher, mein Kind?« fragte sie endlich mit unsicherer Stimme, die jedoch trotz des Schreckens sanft und mild blieb.
»Ueber die Dächer,« versetzte das ängstlich gewordene kleine Mädchen beklommen und zeigte mit der Hand zurück nach dem Hofe.
»Ueber die Dächer? – Das ist unmöglich! Komm her, zeige mir, wie du gegangen bist.« Sie faßte die Hand des Kindes und trat mit ihm auf die Galerie. Felicitas deutete auf das Mansardenfenster und nach den Rinnen. Die alte Dame schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht.
»Ach, erschrecken Sie ja nicht!« sagte Felicitas mit ihrer lieblich unschuldigen Stimme. »Es ging wirklich ganz gut. Ich kann klettern wie ein Junge, und Doktor Böhm sagt immer, ich sei ein Flederwisch und hätte keine Knochen.«
Die alte Mamsell ließ die Hände vom Gesicht fallen und lächelte – es lag noch so viel Anmut in diesem Lächeln, das zwei Reihen sehr schöner, weißer Zähne sehen ließ. Sie führte die Kleine in das Zimmer zurück und setzte sich in einen Lehnstuhl.
»Du bist die kleine Fee, gelt?« sagte sie, indem sie Felicitas an ihre Kniee heranzog. »Ich weiß es, wenn du auch nicht auf rosa Gazewolken zu mir hereingeflogen bist . . . Dein alter Freund Heinrich hat mir heute mittag von dir erzählt.«
Bei Heinrichs Namen kam die ganze Wucht des Leides wieder über das Kind. Wie heute morgen stieg eine glühende Röte in die Wangen, und Groll und Weh zogen jene herben Linien um den kleinen Mund, die über Nacht den Ausdruck des Kindergesichts zu einem völlig anderen gemacht hatten . . . Den Augen der alten Mamsell entging diese plötzliche Veränderung nicht. Sie nahm schmeichelnd das Gesicht des kleinen Mädchens zwischen ihre Hände und bog es zu sich herab.
»Siehst du, mein Töchterchen,« fuhr sie fort, »seit vielen Jahren kommt der Heinrich allsonntäglich herauf zu mir, um Verschiedenes für mich zu besorgen . . . Er weiß, daß er nie gegen mich erwähnen darf, was sich drunten im Vorderhause ereignet, und bisher hat er auch nie das Gebot überschritten . . . Wie lieb muß er die kleine Fee haben, daß er plötzlich gegen meinen so streng ausgesprochenen Wunsch handeln konnte!«
Die trotzigen Augen des Kindes schmolzen.
»Ja, er hat mich lieb – sonst niemand,« sagte sie, und ihre Stimme brach.
»Sonst niemand?« wiederholte die alte Dame, während ihr unaussprechlich sanfter Blick ernst liebevoll auf dem Gesichte der Kleinen ruhte. »Weißt du denn nicht, daß einer da ist, der dich immer lieb haben wird, auch wenn sich alle Menschen von dir abwenden sollten? . . . Der liebe Gott –«
»O, der will mich ja gar nicht, weil ich ein Spielerskind bin!« unterbrach Felicitas die Sprecherin mit ausbrechender Heftigkeit. »Frau Hellwig hat heute morgen gesagt, meine Seele sei so wie so verloren, und alle drunten im Vorderhause sagen, er habe meine arme Mama verstoßen, sie sei nicht bei ihm . . . Ich habe ihn aber auch nicht mehr lieb – ganz und gar nicht, und ich will auch nicht zu ihm, wenn ich gestorben bin – was soll ich denn dort, wo meine Mama nicht ist?«
»Gerechter Gott, was haben diese Grausamen mit ihrem sogenannten christlichen Glauben aus dir gemacht, armes Kind!«
Die alte Dame erhob sich hastig und öffnete eine Seitenthür. Es war dem Kinde, als umflatterten hier weiße Wölkchen des Himmels sein Haupt. Ueber das in einer Ecke stehende Bett, über Thüren und Fenster floßen weiße Mullvorhänge herab. Die blaßgrüne Wand des kleinen Gemachs tauchte nur in einzelnen schmalen Streifen zwischen dem wolligen Gewebe auf . . . Welch ein Kontrast zwischen diesem kleinen Raume, so frisch und makellos rein, wie der Gedanke, der aus einer gesunden, unbefleckten Seele kommt, und jenem düsteren Boudoir drunten im Vorderhause, in welchem Frau Hellwig während der frühen Morgenstunden auf dem Betstuhle kniete, auf jenem Betstuhle, dessen gestickte Polster wohl für die grausigen Marterwerkzeuge, nirgends aber für ein Symbol des Friedens und der Versöhnung Raum hatten.
Auf dem Nachttische, neben dem Bette, lag eine große, vielgebrauchte Bibel. Die alte Dame schlug sie mit sicherer, kundiger Hand auf und las laut und tiefbewegt. »Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.« Und sie las weiter und weiter und schloß mit dem Verse: »Die Liebe hört nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und das Erkenntnis aufhören wird.«
»Und diese Liebe kommt von ihm, ja, Gott ist diese Liebe selbst,« sagte sie und legte ihren Arm um die Schultern des Kindes. »Deine Mama ist sein Kind, wie wir alle, und sie ist eingegangen zu ihm, denn ›die Liebe hört nimmer auf‹ . . . Suche sie getrost da droben, und wenn du nachts aufblickst zum Himmel mit seinen Millionen wundervoller Sterne, so denke du fest und sicher: ›Neben einem solchen Himmel gibt es keine Hölle!‹ . . . Und nun hast du ihn auch wieder lieb, gelt, recht von Herzen lieb, meine kleine Fee?«
Das Kind antwortete nicht, aber es schlug leidenschaftlich beide Arme um die milde Trösterin, und ein heißer Thränenstrom stürzte aus seinen Augen. –
Zwei Tage darauf hielt ein Wagen vor dem Hellwigschen Hause. Die Witwe stieg ein mit ihren zwei Söhnen, um ihnen das Geleit bis zur nächsten Stadt zu geben. Johannes ging nach Bonn, um Medizin zu studieren, zuvor aber sollte er Nathanael demselben Institut übergeben, in welchem er erzogen worden war.
Heinrich stand breitspurig und behaglich in der offenen Hausthür neben Friederike und sah dem Wagen nach, der langsam und schwerfällig über das holprige Pflaster des Marktplatzes hin schwankte. Es zog etwas wie ein leiser Pfiff über seine gespitzten Lippen – bei ihm stets das Anzeichen einer wohligen Stimmung – und beide Daumen steckten fest eingeklemmt in den gewaltigen Fäusten, was der Volksmund ungefähr in die Worte übersetzt: »Herr, behüte uns, daß das Unheil nicht wiederkehre!«
»Da können nun so ein halb Mandel Jährchen vergehen, bis wir den einen oder den anderen wieder ins Haus kriegen,« sagte er seelenvergnügt zu Friederike, die sich pflichtschuldigst mit dem Schürzenzipfel über die Augen fuhr.
»Und das ist dir wohl ganz recht, du Dickkopf?« fuhr sie ihn an. ›Ein schöner Dank für das Trinkgeld, das du vom jungen Herrn gekriegt hast!«
»Geh in deine Küche – auf dem Herde liegt das Zeug noch; ich rühr's mit keinem Finger an! Kannst dir meinetwegen einen roten Rock und gelbe Schuhe zum Vogelschießen dafür kaufen.«
»Ach, du gottheilloser Mensch! . . . Einen roten Rock und gelbe Schuhe, wie eine, die auf dem Seile tanzt!« rief die alte Köchin erbittert. »Na, es ist nur gut, daß man weiß, warum du so wütend bist – der junge Herr hat dir's heute morgen gut gegeigt!«
»I, was du nicht alles weißt!« warf der Hausknecht gleichmütig ein. Er steckte die Hände in die Seitentaschen seines Rockes, zog die Schultern in die Höhe und pflanzte sich noch breiter auf die Schwelle als bisher. Diese Haltung empörte Friederikes Gemüt stets bis zur Leidenschaft, denn es lag die äußerste Verachtung dessen drin, was sie sagte.
»Hat der Mensch da zwanzig Thaler Lohn und höchstens fünfzig Thaler in der Sparkasse,« fuhr sie giftig fort, »und stellt sich vor seine reiche Herrschaft hin wie der Großmogul und spricht: ›Geben Sie mir das fremde Kind, ich bringe es bei meiner Schwester unter, es soll Ihnen keinen Heller kosten,‹ und –«
»Und da hat der junge Herr geantwortet,« ergänzte Heinrich, indem er das Gesicht langsam der Erzürnten zuwendete: »›Das Kind ist in den besten Händen, Heinrich; es bleibt bis zu seinem achtzehnten Lebensjahre unter allen Umständen hier im Hause, und du wirst dich nicht unterstehen, es je zu bestärken, wenn es widerspenstig gegen meine Mutter ist, und – solltest du einmal wieder die alte Küchenhexe draußen beim Horchen ertappen, so nagle sie ohne Gnade am Ohrläppchen auf der Thür fest.‹ Was meinst du denn, Friederike, wenn ich jetzt –« er hob den Arm, und die alte Köchin floh schimpfend in die Küche.