Eugenie Marlitt
Das Geheimnis der alten Mamsell
Eugenie Marlitt

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24.

Felicitas verließ mit geflügelten Schritten den Garten – der Professor irrte sich, nicht einmal der Abend, geschweige denn die Nacht sollte sie noch im alten Kaufmannshause finden . . . Jetzt war der Moment gekommen, wo sie in Tante Cordulas Zimmer dringen konnte. In der Allee begegnete ihr die alte Köchin, die das Abendbrot in den Garten trug – es war mithin niemand zu Hause als Heinrich . . . Wie das sauste und brauste durch die alten, knorrigen Linden! Der Wind trieb das junge Mädchen unwiderstehlich vorwärts – das war auf dem ebenen, festen Boden unter dem Schutz dichter Baumkronen; was aber stand ihr für ein Gang bevor hoch droben in den brausenden Lüften, über abschüssige Dächer hinweg!

Heinrich öffnete ihr die Hausthür. Felicitas glitt atemlos an ihm vorüber, trat in die Gesindestube und nahm den Dachkammerschlüssel von der Wand.

»Nun, was soll's denn werden, Feechen?« fragte der Alte verwundert.

»Ich will dir deine Ehre und mir die Freiheit wieder holen! Sei hübsch wachsam unterdes, Heinrich!« rief sie zurück und sprang die Treppe hinauf.

»Du wirst doch keinen dummen Streich machen? Heda, Feechen, 's ist doch nichts Gefährliches?« rief er ihr nach; aber sie hörte nicht. Er mußte unten auf seinem Posten bleiben und schritt aufgeregt in der Hausflur auf und ab.

Ueber Felicitas' Haupt zog es bald seufzend, bald in lang gezogenen, leise pfeifenden Tönen hin, als sie den Korridor unter dem Dache betrat. Das Sparrwerk knarrte, und durch die Oeffnungen der sonnenerhitzten Hohlziegel fuhr stoßweise der schwüle, heiße Atem des Gewitterwindes. In diesem Augenblick hing eine grau und weiß gemischte Hagelwolke über dem Dächerquadrat, ein fahlgelbes Licht zuckte schräg auf den blumenbedeckten First, es glitzerte wie ein falscher Blick in den Glasscheiben der Vorbauthür, über welche sich losgerissene Ranken des Epheu und der Kapuzinerkresse haltlos bäumten, und beleuchtete grell das aufgepeitschte Blättergewirr des wilden Weines.

Als das junge Mädchen den Kopf aus dem Dachfenster steckte, fuhr ihr ein heftiger Windstoß über das Gesicht; er raubte ihr den Atem und zwang sie, augenblicklich zurückzuweichen – sie ließ den Unhold vorüberbrausen, dann aber schwang sie sich hinaus . . . Wem es vergönnt gewesen wäre, dies schöne, bleiche Gesicht mit den fest aufeinandergepreßten Lippen und dem düster entschlossenen Ausdruck aus dem dunklen Dachfenster auftauchen zu sehen, der hätte erkennen müssen, daß das Mädchen einer entsetzlichen Gefahr sich vollkommen bewußt und daß es bereit sei, selbst den Tod zu erleiden um seiner Mission willen! . . . Welch ein wunderbares Gemisch war doch diese junge Seele! Ueber einem heißen Herzen, das so glühend hassen konnte, ein so kühler, besonnener Kopf!

Sie lief leichten Fußes über die knirschenden Ziegel, und nicht einen Moment dunkelte es vor diesen klaren Augen; ihr brausender Feind aber gönnte sich nicht viel Zeit zum Ausschnaufen – ein greller Pfiff, und er kam wieder daher mit niederstürzender Wucht. Die Vorbauthür flog klirrend auf, Blumentöpfe stürzten zerschmetternd auf den Fußboden der Galerie, und die uralten Sparren ächzten und zitterten unter Felicitas' Füßen. Sie stand noch auf dem Nachbardache, aber ihre Hände umklammerten das Galeriegeländer, das sie in demselben Augenblicke erreicht hatte.

Wohl riß ihr der Sturm das Haar auseinander und peitschte die gewaltigen Strähnen, als sollten sie in alle Lüfte zerstreut werden, allein sie selbst stand fest. Nach einem Moment geduldigen Ausharrens konnte sie sich über das Geländer schwingen, und gleich darauf trat sie in den Vorbau . . . Hinter ihr brauste und tobte es weiter – sie hörte es nicht mehr, sie dachte auch nicht an den todbringenden Rückweg – die gefalteten Hände schlaff niederhängend, stand sie in dem kühlen, epheuumsponnenen Raume – sie sah ihn zum letztenmal . . . Die stillen, schneeweißen Gesichter an den Wänden schauten wohlbekannt und doch auch wieder so verwundert fremdartig hernieder – einst hatten sie diesen Raum beseelt, denn ihre lebendigen Gedanken wurden heraufbeschworen und umflatterten die kalten Stirnen, jetzt waren sie nur noch ein Schmuck, eine Dekoration der Wände, sie starrten ebenso gleichgültig auf die jugendstrahlende Gestalt der koketten Regierungsrätin, wie auf das blasse Mädchengesicht, das sich thränenüberströmt zu ihnen emporhob.

Im übrigen erschien das Zimmer so traut wohnlich, wie zu Tante Cordulas Lebzeiten. Kein Stäubchen lag auf dem spiegelglatten Mahagonideckel des Flügels, der Epheu streckte, als Zeichen, daß es ihm wohlgehe, zahllose junge hellgrüne Triebe aus der dunkeln Blätterwand, und in der einen Fensternische standen sorgsam gepflegt der prachtvolle Gummibaum und die Palme, zwei Lieblinge der alten Mamsell. Aber die andere Fensterecke war verändert, das zierliche Nähtischchen stand nicht mehr dort – der Professor hatte sich die Nische als Studierwinkel eingerichtet.

Ueber Felicitas' Gesicht ergoß sich eine brennende Schamröte . . . Also sie stand doch wie ein Dieb in seinem Zimmer! Wer weiß, was dort auf dem Schreibtisch für Briefe und Papiere lagen, auf die kein fremder Blick fallen durfte! Er hatte sie sorglos, ohne Arg offen liegen lassen, denn er trug ja den Zimmerschlüssel in der Tasche – das junge Mädchen flog wie gejagt nach dem Glasschranke.

Auf der Seitenwand des alten Möbels, inmitten einer geschnitzten, seltsam verschnörkelten Arabeske befand sich ein feiner, für ein uneingeweihtes Auge kaum erkennbarer Metallstift. Felicitas berührte ihn mit festem Druck, und die Thür des Geheimfaches sprang auf. Da standen und lagen die vermißten Kostbarkeiten in wohlbekannter Ordnung! Die weitgebauchten silbernen Kaffee- und Milchkannen, die mit seidenen Bändern zusammengebundenen schweren Löffelpakete, die altmodischen Etuis mit dem Brillantschmuck, alle diese Dinge befanden sich genau auf demselben Platze, den sie seit vielen Jahren im tiefen Dunkel der Verborgenheit eingenommen hatten . . . und dort in der Ecke stand die Schachtel mit dem Armring, daneben aber – der kleine, graue Kasten in schräger Stellung, wie ihn die alte Mamsell vor wenigen Wochen hastig hingeschoben – sie hatte ihn offenbar nicht wieder berührt.

Felicitas nahm ihn mit bebenden Händen heraus – er war nicht leicht – sterben sollte sein Inhalt, aber auf welche Weise? Wie war er beschaffen?

Sie hob vorsichtig den Deckel – ein plump gearbeitetes, in Leder gebundenes Buch lag darin – die starren Blätter klafften auseinander, und der Einbanddeckel hatte sich im Lauf der Zeit aufwärts gekrümmt. Ein scheuer Blick belehrte das junge Mädchen, daß dies grobe Papier da drinnen nicht bedruckt, sondern vollgeschrieben sei.

Tante Cordula, da ruhen zwei Augen auf deinem Geheimnisse – zwei Augen, in denen du unzähligemal treue, kindliche Liebe und Hingebung gelesen hast, und ein junges Herz, das nie an dir gezweifelt, steht heftig klopfend vor dem Rätsel deines Lebens! Es ist von deiner Schuldlosigkeit so unerschütterlich fest überzeugt wie von dem Dasein der leuchtenden Sonne, aber es will wissen, wofür du littest; es will die Größe deines lebenslänglichen Opfers in seinem ganzen Umfange ermessen können . . . Dein Geheimnis soll sterben; diese Blätter werden zu Asche zerstieben, und der Mund, der schon in zarter Kindheit unverbrüchlich zu schweigen verstand, wird es so fest verschließen, wie der deine!

Die zitternden Finger des jungen Mädchens schlugen den Deckel zurück. »Joseph von Hirschsprung, Studiosus philosophiae« stand in kräftigen Zügen auf dem ersten Blatte . . . Es war das Tagebuch des Studenten, des adligen Schustersohnes, um dessenwillen Tante Cordula ihren Vater buchstäblich zu Tode geärgert haben sollte. Der Schreiber hatte stets nur die erste Seite eines jeden Blattes beschrieben und die Rückseite desselben, ohne Zweifel zu Anmerkungen, freigelassen. Diese Blattseiten aber zeigten in dichtgedrängten Reihen die feinen, zierlichen Schriftzüge der alten Mamsell.

Felicitas las den Anfang. Tiefe, originelle Gedanken, mit einer seltenen Kraft und Knappheit zum Ausdruck gebracht, fesselten sofort das flüchtige Auge und zwangen zum Nachdenken. Es mußte ein wunderbarer Mensch gewesen sein, dieser junge Schustersohn, mit der Phantasie voll grandioser Bilder, mit dem tiefeinschneidenden Urteil und dem feurigen Herzen voll leidenschaftlicher Liebe! . . . Und darum hatte ihn auch Cordula, die Tochter des gestrengen Kauf- und Handelsherrn, geliebt bis in den Tod. Sie schrieb:

»Du schlossest die Augen für ewig, Joseph, und hast nicht gesehen, wie ich vor Deinem Lager kniete und mir die Hände wund rang im Gebet zu Gott, daß er Dich mir erhalten solle. Du riefst meinen Namen in der Wut des Fiebers unaufhörlich mit dem süßen Schmeichellaute der Liebe, aber auch in zürnenden Tönen eines tiefverwundeten Herzens, mit dem Aufschrei einer wilden Rache, und wenn ich zu Dir sprach, da starrtest Du mich fremd an und stießest meine Hand zurück.

»Du bist von hinnen gegangen in dem Wahn, daß ich meinen Schwur gebrochen habe – und als alles vorüber war und sie Dich hinweggenommen hatten von Deinem Schmerzenslager, da fand ich dies Buch unter Deinem Kopfkissen. Es sagt mir, wie ich geliebt worden bin; aber Du hast auch an mir gezweifelt, Joseph! . . . Nur noch auf einen einzigen bewußten Blick wartete ich in Todesangst – er hätte Dich überzeugen müssen, daß ich schuldlos war, und mein trostloses Geschick hätte seinen schärfsten Stachel verloren – vergebens! . . . Ein Auseinandergehen für immer, ohne Versöhnung zwischen den scheidenden Seelen – es gibt keine größere Seelenmarter! Und wenn ich die schwersten Verbrechen begangen hätte, ich könnte nicht grausamer gestraft werden, als mit diesem Herzen, das Tag und Nacht aufschreit und mich ruhelos umherjagt, wie den flüchtigen Kain!

»Dein großer Geist stürmt jetzt weiter auf ungemessenen Bahnen, ich aber wandere noch über die arme, kleine Erde und weiß nicht, ob Dir ein Zurückblicken möglich . . . Ich darf mit niemand über meine inneren Stürme sprechen, und ich will auch nicht; denn wo wäre ein Mensch, der meinen Verlust begriffe? Es hat Dich keiner gekannt, als ich! . . . Aber einmal muß es noch ausgesprochen werden, wie alles kam. In diesem Buche hast Du Deine Gedanken niedergelegt; allein so kühn und gewaltig sie sind, nebenher geht ein süß erquickender Hauch tiefer, unsterblicher Liebe zu mir, Joseph. Das alles spricht zu mir, wie mit lebendigem Atem und Deiner sympathischen Stimme . . . ich will Dir antworten, hier auf denselben Blättern, wo Deine Hand geruht hat, und will denken, Du stehest neben mir und Deine tiefen Augen verfolgen die Feder, wie sie Zug um Zug hinzeichnet, bis das Rätsel gelöst vor Dir liegt!

»Weißt Du noch, wie die kleine Cordula Hellwig ihr weißes Lieblingshuhn, das der Jagdhund verscheucht hatte, auf dem Hausboden suchte? Es war dunkel da droben, aber durch eine Bretterritze floß es golden, und die Sonnenstäubchen spielten zu Milliarden in der Lichtsäule. Das kleine Mädchen lugte durch die Ritze. Da drüben hatte Nachbar Hirschsprung eben die Frucht seines einzigen Ackers eingeheimst, und hoch auf den gelben Garben saß der wilde, schwarze Joseph und schaute durch die Dachluke.

»›Such mich doch!‹ rief das Kind durch die Spalte. Der Knabe sprang herab und sah sich trotzig um. ›Such mich doch!‹ klang es wieder. Da geschah ein Krach, und eines der Bretter, hinter welchen die kleine Cordula steckte, fiel polternd herein auf den Dachboden des vornehmen Nachbarhauses . . . Ja, so warst Du, Joseph! und ich weiß, Du würdest späterhin genug der unwürdigen Schranken in der Menschenwelt und manches mühsam erbaute falsche System genau so zertreten haben, wie das Brett, hinter welchem Du geneckt wurdest.

»Ich weinte bitterlich vor Schreck, und da warst Du plötzlich ganz sanft und unsäglich gut und führtest mich hinunter in das enge, räucherige Schusterstübchen . . . Die Bretterwand wurde wieder hergestellt; seit der Zeit aber wanderte ich täglich über die Straße und besuchte Dich . . . Ach, was waren das für Winternachmittage! Draußen stöberte und stürmte es um die Wette; der Rosmarinstock auf dem Fenstersims zitterte bei jedem Windstoß, der an den runden, bleigefaßten Scheiben vorüberbrauste, und der sonst so beherzte Stieglitz klammerte sich an die innere Wand seines Bauers. Auf dem riesigen Kachelofen brodelte der Kaffeetopf; Deine ehrbare Mutter saß am schnurrenden Spinnrade und spann Hanf, und der Vater hämmerte tapfer auf seinem Schemel und verdiente das tägliche Brot.

»Ich sehe noch sein edles, melancholisches Gesicht vor mir, wenn er erzählte von vergangenen Zeiten. Da waren die Hirschsprungs ein gewaltiges, berühmtes Geschlecht gewesen, ein tapferes Hünengeschlecht von riesiger Körperkraft! Welch eine unabsehbare Reihe von Heldenthaten hatte ihr starker Arm ausgeführt! Aber mir graute vor den Strömen edlen Menschenblutes, das sie vergossen – ich hörte viel lieber die Geschichte von dem Ritter, der sein junges Weib so herzlich und treu geliebt hatte. Er ließ zwei Armringe machen und auf jedem stand die Hälfte eines Liebesverses eingegraben; den einen Ring trug er, den anderen sein trautes Gemahl . . . Und als er in der Schlacht todeswund zu Boden stürzte, da kam ein räuberischer Kriegsknecht und wollte ihm das kostbare Liebeszeichen entreißen; aber der Sterbende preßte krampfhaft seine Linke auf das Kleinod – er ließ sich die Hand verstümmeln und zerhauen, bis sein Knappe zu Hilfe eilte und den Räuber niederschlug . . . Die Armringe wurden in der Familie als Reliquien aufbewahrt, bis – ja bis die Schweden kamen . . . Wie haßtest Du damals diese Schweden, Joseph! Sie sollten ja schuld sein an dem Untergange derer von Hirschsprung . . . Das war eine tieftraurige Geschichte, und ich mochte sie schon um deshalb nicht hören, als Dein Vater jedesmal sagte: ›Siehst Du, Joseph, wenn das Unglück nicht geschehen wäre, da könntest Du studieren und ein großer Mann werden, – so aber bleibt Dir nichts als der Schusterschemel.‹ Ach, diese Geschichte hat noch eine ganz andere Kehrseite, als der ehrliche Schuster meinte! . . .

»Die Hirschsprungs waren gut papistisch geblieben, als auch das ganze Land ringsum abfiel und sich zu der neuen lutherischen Lehre bekehrte. Sie lebten von da an streng zurückgezogen um ihres Glaubens willen, aber dem alten Adrian von Hirschsprung genügte das nicht, denn er war ein wilder Fanatiker, der lieber Haus und Hof und die alte Thüringer Heimat verlassen, als unter Ketzern leben wollte. Er hatte sein Besitztum, bis auf das Haus am Markt, um bare sechstausend Thaler in Gold verkauft, und seine zwei Söhne ritten eines Tages davon, um in gut katholischen Landen eine neue Heimat zu suchen . . . Da geschah es, daß der Schwedenkönig, Gustav Adolph, mit einundzwanzigtausend Mann Kriegsvolk durch das Thüringer Land zog. Er rastete auch einen Tag in dem kleinen Städtchen X. – das war am 22. Oktober 1632 – und seine Leute besetzten die Häuser. Auch das Ritterhaus am Marktplatz steckte voll schwedischer Reiter, und das mußte den alten Adrian mit Wut und Ingrimm erfüllt haben. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel zwischen ihm und den Soldaten, die halbtrunken im Hofe Wein zechten, und da geschah das Schreckliche – ein Kriegsknecht stieß dem alten, finsteren Eiferer das Schwert mitten durch die Brust; er stürzte mit ausgebreiteten Armen rücklings auf das Steinpflaster und verschied, ohne einen Laut, auf der Stelle. Die wütenden Schweden aber zerschlugen und zertrümmerten alles im Hause, was nicht niet- und nagelfest war, und als die Söhne zurückkamen, da lag der alte Adrian längst unter den Steinfliesen der Liebfrauenkirche, und sie suchten vergebens nach ihrem Erbe. Die sechstausend baren Thaler hatten die Schweden fortgeschleppt, Kisten und Kästen standen leer, ihr Inhalt lag zerfetzt und zerstampft am Boden, und die Familienpapiere waren in alle Winde zerstreut, nicht ein Blättchen ließ sich mehr auffinden . . . So erzählte Dein Vater, Joseph! Darauf kam das Haus um einen armseligen Preis in die Hände des Bürgers Hellwig. Die zwei Söhne des Adrian teilten den Erlös; Lutz, der Aeltere, zog von dannen, und es hat nie wieder etwas von ihm verlautet, die andere Linie aber hing das Ritterschwert an den Nagel, und die Nachkommen derer, die gegen die Saracenen gekämpft, die einst wohlgelitten waren an Kaiserhöfen um ihrer Tapferkeit und adligen Sitten willen, sie griffen zu Hobel und Pfrieme.

»Du aber nicht, Joseph! Wie die prächtigen Locken über Deiner Stirn sich eigenwillig ringelten und aufbäumten, so schweifte Dein Geist weit ab von der engen Lebensbahn Deiner letzten Vorfahren; Du gingst Deinen eigenen Weg, ob Du auch wußtest, daß er dornenvoll und steinig war, daß Mangel und Entbehrung an Deiner Seite schreiten mußten; Du sahst nur das Ziel, das hohe, leuchtende Ziel, und so viel Heldenmut endete schmählich in einer Dachkammer! Der Geist entfloh, weil der Körper hungerte! . . . Allmächtiger, eine Deiner herrlichsten Schöpfungen ging unter aus Mangel an Brot!

»Wer hätte an dies spurlose Verlöschen Deines Daseins gedacht, wenn Du mit überzeugender Gewalt Deine neuen, kühnen, ursprünglichen Ideen entwickeltest? Oder wenn Du am Klavier saßest und die wundervollen Harmonien unter Deinen Fingern emporquollen? . . . Es war ein armes, kleines Spinett, das in einer dunklen Ecke Deiner elterlichen Stube stand; seine Töne klangen stumpf und rauh, aber Dein Genius beseelte sie, sie erbrausten in Sturm und Gewitter und malten den lachenden Himmel über einer strahlenden Welt . . . Weißt Du noch, wie Dein guter Vater Dich belohnte, wenn er zufrieden mit Dir war? Da schloß er mit feierlicher Gebärde eine kleine, uralte Spinde auf und legte Dir ein Notenheft auf das Pult – es war die Operette von Johann Sebastian Bach; sein Großvater hatte sie von dem Komponisten selbst erhalten und sie wurde wie ein Heiligtum in der Familie aufbewahrt . . . Sie fanden nicht einen Pfennig Geldes, nicht einen Bissen Brot bei Dir, als Du heimgegangen warest, aber das Bachsche Opernmanuskript, dessen materiellen Wert Du wohl kanntest, lag unangerührt, unter meiner Adresse, auf dem Tisch.

»Da drüben auf der Seite, genau auf der Stelle, wo ich jetzt schreibe, da steht: ›Meine süße, goldlockige Cordula kam herüber im weißen Kleide,‹ das war an meinem Konfirmationstag, Joseph! Meine strenge Mutter hatte mir gesagt, es geschehe zum letztenmal, von nun an sei ich die erwachsene Tochter des Kauf- und Handelsherrn und mein Verkehr mit der Schusterfamilie schicke sich nicht mehr . . . Deine Eltern waren nicht in der Stube und ich teilte Dir das Verbot mit . . . Wie wurde Dein Gesicht bleich unter den kohlschwarzen Locken! ›Nun, so gehe doch!‹ sagtest Du trotzig und stampftest mit dem Fuße auf, aber Deine Stimme brach und in den zornigen Augen funkelten Thränen. Ich ging nicht; unsere zitternden Hände schlangen sich plötzlich wie unbewußt und unauflöslich ineinander, das war der Uranfang unserer seligen Liebe!

»Ich sollte das je vergessen haben und, nachdem ich jahrelang meinen zürnenden und bittenden Eltern widerstanden, plötzlich aus eigenem Antriebe meineidig geworden sein? Sie schalten Dich einen Hungerleider, einen mißachteten Schustersohn, der brotlose Künste treibe; sie drohten mit Fluch und Enterbung – ich blieb standhaft, wie leicht war das damals, Du standest ja neben mir! Aber als Deine Eltern starben und Du fortgingst nach Leipzig, da kam eine furchtbare Zeit! . . . Da erschien eines Tages eine hohe, schlanke Männergestalt im Hause meines Vaters, und auf dieser Gestalt saß ein Kopf mit fahlen Wangen, an denen dürftiges dunkles Haar lang und glatt niederhing, und den Mund umzogen unheimliche, schlaffe Linien . . . Es gibt einen Seherblick, Joseph, und das ist der Instinkt in einer reinen Menschenbrust . . . ich wußte sofort, daß mit jenem Menschen das Unheil über unsere Schwelle geschritten war. Mein Vater dachte anders über diesen Paul Hellwig. Er war ja ein naher Anverwandter, der Sohn eines Mannes, der sein Glück draußen in der Welt gemacht hatte und einen ansehnlichen Posten bekleidete. Da war der Besuch des jungen Vetters eine Ehre für das Haus. Und wie diese hohe Gestalt sich demutsvoll bücken konnte, wie das süß und salbungsvoll von den Lippen floß!

»Du weißt, daß der Elende es wagte, mir von Liebe zu sprechen, Du weißt auch, daß ich ihn heftig und empört zurückwies; er war erbärmlich und ehrlos genug, die Hilfe meines Vaters anzurufen; der wünschte lebhaft diese Verbindung, und nun begannen entsetzliche Tage für mich! . . . Deine Briefe blieben aus, mein Vater hatte sie unterschlagen, ich fand sie nebst den meinigen in seinem Nachlasse. Ich wurde wie eine Gefangene behandelt, aber es konnte mich doch niemand zwingen, im Zimmer zu bleiben, sobald der Verhaßte eintrat . . . Dann floh ich wie gehetzt durch das Haus, und die Geister Deiner Ahnen beschützten mich, Joseph. Ich fand Schlupfwinkel genug, wo ich vor meinem Verfolger sicher war.

»Ob es wohl auch der geheimnisvolle Finger einer unsichtbaren Ahnfrau gewesen ist, der eines Tages meinen Blick auf das Goldstück zu meinen Füßen lenkte? . . .

»Eine Mauer im Geflügelhofe hatte sich gesenkt, und nachmittags waren Arbeiter dagewesen und hatten den schadhaften Teil niedergerissen. Ich saß still auf dem Trümmerwerke und dachte an die Zeit, wo man diese Steine aufeinander getürmt hatte – und da lag plötzlich das Goldstück vor mir im Grase; es war nicht das einzige, auch zwischen den Mörtelbrocken schimmerte es golden. Ohne Zweifel war ein beträchtliches Mauerstück nachgestürzt, als die Arbeiter den Hof bereits verlassen hatten, denn es lag alles wild und zerklüftet durcheinander, und zwischen den Bruchstücken hervor guckte die scharfe Ecke einer hölzernen Truhe – sie war zum Teil geborsten, dieser Spalt erschien förmlich gespickt mit dem geränderten Gold.

»Joseph, ich hatte den Fingerzeig Deiner Ahnmutter nicht begriffen – ich holte meinen Vater, und der Verhaßte kam auch mit. Sie hoben mühelos den Kasten aus den Trümmern und schlossen ihn auf mit dem gewaltigen Schlüssel, der noch im Schlosse steckte . . .

»Die Schweden waren es nicht gewesen, Joseph! . . . Da lagen wohlbehalten die zwei Armringe, da lagen die sechzigtausend Thaler in Gold und die vergilbten Pergamente und Papiere Derer von Hirschsprung! Der alte Adrian hatte alles hierher gerettet vor den heranziehenden Schweden! . . . Ich war wie trunken vor Glück. ›Vater,‹ jubelte ich auf, ›nun ist der Joseph kein Hungerleider mehr!‹

»Ich sehe ihn noch, wie er dastand! Du weißt, er hatte ein ernstes, strenges Gesicht, das heitere Wort erstarb einem auf den Lippen, wenn man in diese wandellosen Züge sah, aber seine ganze Erscheinung trug das Gepräge einer unerschütterlichen Rechtschaffenheit – er war der geachtetste Mann in der Stadt. Jetzt stand er vorwärts gebeugt da, und seine Hände wühlten in dem Golde. Was war das für ein eigentümlicher Blick, der aus dem kalten Auge auf mich fiel! ›Der Schusterjunge?‹ wiederholte er, ›was hat der damit zu schaffen?‹

»›Nun, das ist sein Erbe, Vater!‹ Ich hatte das Testament des alten Adrian in der Hand und deutete auf den Namen ›Hirschsprung‹.

»O, wie entsetzlich veränderte sich plötzlich dies sonst so unbewegliche Gesicht!

»›Bist du wahnsinnig?‹ schrie er auf und schüttelte mich heftig am Arme. ›Dies Haus gehört mir mit allem, was es enthält, und ich will den sehen, der mir auch nur einen Pfennig Wert von meinem Grund und Boden wegholt!‹

»›Sie sind vollkommen in Ihrem Recht, lieber Vetter,‹ bestätigte Paul Hellwig mit seiner sanftesten Stimme. ›Aber vordem hat das Haus mit allem, was es enthalten, meinem Großvater gehört.‹

»›Schon gut, Paul, ich leugne deinen Anspruch nicht!‹ sagte mein Vater . . . Sie trugen den Kasten vor in das Haus. Niemand wußte um den Raub, als ich und der letzte Abendsonnenstrahl, der neugierig über das funkelnde Gold hingeglitten war. Er erlosch, um drüben neu aufzugehen und vielleicht auf ein glückseliges Menschenangesicht zu fallen; ich aber irrte umher und sah Nacht und Fluch und Verbrechen, wohin ich blickte!

»Noch an demselben Tage hörte ich, wie Paul Hellwig zwanzigtausend Thaler und einen der Armringe beanspruchte und erhielt . . .

»Weißt Du nun, was ich litt, während Du mich für treulos, falsch und leichtsinnig hieltest? Ich stand allein meinen zwei Peinigern gegenüber – meine strenge, aber rechtschaffene Mutter war tot und mein einziger Bruder in fernen Landen . . . Es handelte sich nicht allein mehr um meine Liebe zu Dir – ich sollte auch schweigen, unverbrüchlich schweigen vor Dir und der Welt, und dazu verstand ich mich nun und nimmer! . . . Hat nie Dein Herz bang und ahnungsvoll geklopft in jenen unseligen Momenten, wo ich meinem zürnenden Vater unerschütterlich fest gegenüberstand, wo er die Hand hob, um ›die starrsinnige, entartete Tochter‹ zu Boden zu schleudern? . . .

»Ich hatte das Testament des alten Adrian zurückbehalten – das wußten sie nicht, und als eines Abends Paul Hellwig höhnisch fragte, womit ich denn eigentlich den Fund beweisen wolle, da wies ich auf dies Papier hin – und da kam das furchtbare Ende! Mein Vater hatte nachmittags einer großen Gasterei beigewohnt, sein Gesicht war stark gerötet, er hatte offenbar viel Wein getrunken. Bei meiner Erklärung stürzte er auf mich zu, schüttelte mich mit seinen gewaltigen Händen, daß ich aufschrie vor Schmerz, und fragte knirschend, ob mir denn seine Ehre und sein Ansehen nicht einen Pfifferling wert seien. Noch hatte er das letzte Wort nicht ausgesprochen, als er mich zurückstieß – sein Gesicht wurde dunkelbraun, er fuhr mit beiden Händen nach dem Halse und brach plötzlich wie niedergeschmettert vor mir zusammen – der große, stattliche Mann! . . . Er atmete noch, als wir ihn aufhoben, ja er hatte sogar Bewußtsein, denn sein Blick ruhte unverwandt mit einem furchtbaren Ausdruck auf meinem Gesicht, und – da brach mein Widerstand, Joseph! Als der Arzt für einen Augenblick das Zimmer verlassen hatte, da zog ich das Papier hervor und hielt es an die Flamme des Lichtes. Ich konnte meinen Vater nicht ansehen, aber ich gelobte ihm mit weggewandtem Gesicht, daß ich schweigen wolle für immer, daß mit meinem Willen kein Flecken auf seine Ehre fallen solle . . . Wie lächelte Paul Hellwig teuflisch bei diesem Schwur! . . . O Joseph, das that ich! Ich sicherte meiner Familie das Dir gestohlene Erbe, in dem Augenblick, wo Dich der Mangel auf das Sterbebett warf!«


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