Eugenie Marlitt
Das Geheimnis der alten Mamsell
Eugenie Marlitt

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19.

Es war noch sehr früh am Morgen, als Frau Hellwig im Vorderhof erschien. Statt der wohlbekannten, in ihrer Form seit vielen Jahren fast unverändert gebliebenen weißen Haube legten sich schwarze Spitzen um die blassen, fleischigen Wangen. Das unselige Geschöpf, das so oft den Sabbat des Herrn entheiligt hatte durch unheilige »Lieder und lustige Weisen«, war ja nun tot; auch die letzte Spur seines geächteten Daseins war aus dem alten Kaufmannshause bereits verwischt – man hatte den Leichnam gestern abend noch in das Leichenhaus geschafft . . . Trotz alledem hatte die Verstorbene den Namen Hellwig getragen – ihm galten die schwarzen Spitzen und der Kreppstreifen, der heute den wohlgestärkten Leinwandkragen am Halse der großen Frau verdrängt hatte.

Sie schloß die Thür auf, in welcher einst Felicitas die alte Mamsell hatte verschwinden sehen. Außer der bekannten Treppe, welche hinter der gemalten Thür lag, führte noch ein zweiter Aufgang, eine enge, gewundene Stiege, in die Mansarde, und zwar direkt von der schmalen, steilen Straße aus; das war der Weg, den Heinrich und die Aufwartefrau benutzt hatten, und zu welchem auch die Hofthür führte.

Wohl sahen die Gipsbüsten noch unangetastet von ihren hohen Postamenten herab, allein der Genius war entflohen aus dem Raume, den die große Frau jetzt mit der sichern, unanfechtbaren Haltung der Besitzergreifenden betrat . . . Ein kaltes, verächtliches Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie die Reihe der Zimmer durchschritt, deren jedes einzelne in seiner Einrichtung das poesievolle Gemüt, den feinempfindenden Geist seiner ehemaligen Herrin bezeichnete, aber sie runzelte auch mit einem haßerfüllten Ausdruck die Brauen, als ihr Auge über die Bücherreihen hinter den Scheiben eines Glasschrankes streifte, die auf ihren zierlich gepreßten Saffianeinbänden gefeierte Dichter- und Schriftstellernamen trugen.

Sie ergriff einen starken Schlüsselbund, der auf dem Nachttisch lag und öffnete einen Sekretär – das offenbar interessanteste Möbel für sie. Eine musterhafte Ordnung herrschte in all den Kästen; einer nach dem andern wurde aufgezogen – vergilbte, mit verblaßten Bändern zusammengebundene Briefpakete, Schreibehefte kamen zum Vorschein. Die plumpen weißen Hände stopften sie ungeduldig wieder hinein – was interessierte sie das Geschreibsel, die große Frau war nicht neugierig! . . . Desto wohlwollender wurde ein Kästchen behandelt, das sich bis an den Rand mit Dokumenten gefüllt erwies. Mit großer Aufmerksamkeit und dem Ausdruck innerer Befriedigung entfaltete Frau Hellwig Blatt um Blatt; sie verstand ausgezeichnet zu rechnen, im Nu hatte sie die sehr bedeutende Totalsumme dieser einzelnen, sicher und vorteilhaft angelegten Kapitalien überschlagen – sie übertraf ihre Erwartung.

Damit hatte jedoch die Forschung keineswegs ein Ende; es kamen die verschiedenen Kommoden und Schränke an die Reihe, und je länger Frau Hellwig suchte, desto ungeduldiger und hastiger wurde sie. Allmählich rötete sich ihr Gesicht, mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit schritt ihre schwerfällige Gestalt von Zimmer zu Zimmer, rücksichtslos durchwühlten ihre Hände die Wäschekästen, warfen die zierlich gefältelten Krausen und Hauben der Verstorbenen durcheinander, stießen Glas und Porzellan in den Schränken zusammen, daß es klang und klirrte – das, was sie suchte, war nicht zu finden. Sie trat endlich aufgeregt hinaus auf die Galerie. Daß sie verschiedene Blumentöpfe umstieß und mittelst ihrer schwerfälligen Bewegungen nach allen Seiten hin Blüten und Zweige abknickte, war ihr sehr gleichgültig – sie hatte in diesem Augenblicke nicht einmal ihr stereotypes verächtliches Lächeln für diesen »Quark«, diese »Alfanzereien«.

Friederike fütterte gerade das Geflügel drunten im Hofe; Frau Hellwig befahl ihr, sofort den Hausknecht heraufzuschicken und trat wieder zurück, um ihr Suchen von neuem zu beginnen.

»Weißt du nicht, wo die verstorbene Tante ihr Silberzeug aufbewahrt hat?« rief sie dem bald darauf eintretenden Heinrich entgegen. »Es muß viel da sein, ich weiß es von meiner Schwiegermutter. Sie hat mindestens zwei Dutzend schwere silberne Eßlöffel, eine gleiche Anzahl schöner vergoldeter Kaffeelöffel, des gleichen silberne Leuchter, Kaffee und Milchkanne gehabt,« – dieses mit verwunderungswürdiger Gedächtnistreue festgehaltene Verzeichnis rollte von den Lippen, als werde es abgelesen – »ich kann nichts von alledem finden – wo steckt es?«

»Das weiß ich nicht, Madame,« versetzte Heinrich ruhig. Er schritt auf einen Tisch zu, zog dessen Kasten auf und nahm zwei silberne Eßbestecke heraus. »Das ist alles, was ich je von Silber bei der seligen Mamsell gesehen habe,« sagte er, »ich mußte es öfters putzen, weil es die Aufwartefrau nicht recht machte.«

Frau Hellwig schritt hin und her und biß sich zornig auf die Lippen. Die strenge Zurückhaltung, die sie dem Gesinde gegenüber stets beobachtete, verließ sie für einen Augenblick.

»Es wäre eine schöne Geschichte, ein wahrer Skandal, wenn die Alte diese wertvollen alten Familienstücke verkauft oder wohl gar – verschenkt hätte; ähnlich sähe es ihr schon!« sagte sie, freilich mehr wie für sich. »Es muß wieder her, ich ruhe nicht eher! . . . Sie hat auch Brillanten gehabt, sehr schönen Schmuck; es ist alles, was von solchen Sachen der Familie Hellwig je gehört hat, zwischen ihr und meiner Schwiegermutter geteilt worden,« sie unterbrach sich, ihr Blick fiel in dem Momente auf den Glasschrank, der die Noten enthielt. Ihn hatte sie noch nicht untersucht.

Der Schrank selbst stand auf einem schwerfälligen Kasten, den sehr schön geschnitzte Holzthüren umschlossen; sie riß dieselben auf – hohe Stöße sorgfältig geordneter Zeitschriften füllten die zwei Regale aus. Jener grausam boshafte Zug erschien verstärkt in dem ungewöhnlich aufgeregten Gesichte, die Oberlippe krümmte sich nach innen und ließ fast die ganze obere Reihe ihrer schöngepflegten festen Zähne sehen . . . Sie zog ein Paket um das andere hervor und schleuderte es auf die Erde, daß die einzelnen Hefte weit umherflogen.

In dem alten Manne kochte der Ingrimm. Er ballte die Fäuste und sah mit einem fast wilden Blick auf die Vandalin. Diese Blätter, er hatte sie alle selbst von der Post geholt, sie waren eine wahre Erquickung und Freude für die Einsame gewesen; noch sah er ihre freundlichen Augen aufstrahlen, wenn er ein neuangekommenes Heft auf ihren Tisch legte.

»Da haben wir ja gleich die Erbfeinde der heiligen Kirche beisammen!« murmelte sie. »Diese Schandblätter, diese höllischen Sudeleien! Ja, ja, sie hat's arg getrieben, die gottvergessene alte Jungfer, und ich bin gezwungen gewesen, so viele Jahre lang den unsauberen Geist unter meinem Dache zu dulden.«

Sie richtete sich empor und sah hinter die Glasscheiben. Bei dem Anblick der Noten klang eine Art kurzen, rauhen Gelächters von ihren Lippen. Sie schloß den Schrank auf und befahl Heinrich, einen Waschkorb zu holen. Was von Büchern und Notenheften auf den Regalen lag, mußte er in den Korb räumen. Er zerbrach sich den Kopf, was wohl das Schicksal dieser schönen Bücher sein würde, die so oft dort auf dem Flügel gelegen und von denen die alte Mamsell so köstliche Musik abgelesen hatte. Die große Frau stand neben ihm und sah streng darauf, daß kein Blättchen zurückblieb; sie selbst rührte nichts an, es sah fast aus, als fürchte sie, ihre Finger daran zu verbrennen.

Schließlich befahl sie dem Hausknecht, den Korb in das Vorderhaus zu tragen. Sie verschloß alle Thüren der Mansardenwohnung sorgfältig und folgte ihm. Zu Friederikens Aerger, der solche Besuche ein Greuel waren, trat sie in die Küche; Heinrich mußte seine Last niedersetzen und eine Papierschere aus dem Wohnzimmer bringen. Die alte Köchin hatte gerade starkes Bratfeuer.

»Heute kannst du das Holz sparen, Friederike!« sagte Frau Hellwig, ergriff ein loses Heft und warf es in die Flammen. Die zierlichen Mappen mit der kostbaren Handschriftensammlung der alten Mamsell lagen obenauf in dem Korbe. Die seidenen Bandschleifen, mit denen sie zusammengebunden waren, lösten sich, eine nach der andern, unter den ruhig und beharrlich manipulierenden Fingern der großen Frau . . . Hei, wie das loderte und fraß! Hier strahlte noch einmal der Name »Gluck« im roten Glanze, dort glühten die Notenköpfe einer brillanten Schlußkadenz Cimarosas wie feurige Perlen, um dann in ein und demselben Flammenmantel unterzugehen, der Italiener, Deutsche und Franzosen parteilos umfaßte.

Heinrich hatte im ersten Augenblick fassungslos dabeigestanden – der Grimm schnürte ihm die Kehle zu. Noch lag die Leiche der armen Einsamen über der Erde, und dieses gefühllose Weib da hauste bereit in der Hinterlassenschaft und plünderte und zerstörte, wie kaum der roheste Kriegsknecht in Feindesland.

»Aber, Madame,« sagte er endlich, »es könnte doch ein Testament da sein.«

Frau Hellwig erhob ihr von dem Feuer rot angestrahltes Gesicht, es zeigte ein Gemisch von Hohn und Unwillen.

»Seit wann habe ich dir denn erlaubt, mir gegenüber deine weisen Bemerkungen zu machen?« fragte sie beizend. Sie hatte eben das Bachsche Opernmanuskript in den Händen, von welchem die alte Mamsell neulich gesagt daß es als nur in diesem einzigen Exemplare vorhanden, dereinst mit Gold aufgewogen werden würde. Energischer als vorher und mit einem ganz besonderen Nachdrucke zerriß und zerschnitt sie die Blätter in Atome und stopfte sie unter die Bratröhre.

In diesem Augenblick wurde draußen die Hausglocke stark angezogen. Heinrich ging, zu öffnen. Ein Justizbeamter in Begleitung eines Gerichtsdieners trat ein. Er verbeugte sich vor der verwundert aus der Küche kommenden Frau des Hauses und stellte sich in seiner Eigenschaft als Amtskommissär vor, der beauftragt sei, den Nachlaß der verstorbenen Fräulein Cordula Hellwig zu versiegeln.

Vielleicht zum erstenmale in ihrem Leben verlor Frau Hellwig ihre eiserne Ruhe und Kaltblütigkeit.

»Versiegeln?« stotterte sie.

»Es liegt ein Testament bei der Justizbehörde.«

»Das ist ein Irrtum,« fuhr sie heraus. »Ich weiß ganz genau, daß sie nach dem Willen ihres Vaters kein Testament machen durfte – es fällt alles an  . . .das Haus Hellwig zurück.«

»Thut mir leid,« sagte der Beamte achselzuckend. »Das Testament existiert, und so sehr ich auch bedaure, inkommodieren zu müssen, meine Pflicht zwingt mich, die Versiegelung sofort vorzunehmen.«

Frau Hellwig biß sich auf die Lippen, ergriff den Schlüssel zur Mansardenwohnung und schritt dem Herrn voran. Heinrich aber lief triumphierend hinauf zu Felicitas, die bereits ihr Amt als Kinderwärterin wieder verwaltete, heute jedoch zu Aennchens Verwunderung starr und stumm wie eine Statue neben der plaudernden Kleinen saß. Heinrich teilte ihr das Vorgefallene mit. Bei der Beschreibung des Autodafé fuhr sie empor.

»Einzelne Blätter waren es, die sie verbrannte?« fragte sie mit erstickter Stimme.

»Ja, einzelne Blätter. Sie lagen in roten Mappen, schöne Bänder hingen dran –«

Sie hörte nicht mehr auf ihn und eilte hinab in die Küche. Da stand der Korb, er enthielt noch verschiedene Klavierauszüge und Notenhefte, aber die Mappen lagen geöffnet und zerstreut auf dem Ziegelfußboden, auch nicht ein einziges Blättchen lag mehr darin. Der Zugwind hatte einen kleinen zerrissenen Papierfetzen in die Herdecke geweht. Felicitas hob ihn auf. »Johann Sebastian Bachs eigenhändig geschriebene Partitur, von ihm erhalten zum Andenken im Jahre 1707. Gotthelf von Hirschsprung« las sie mit überströmenden Augen . . . Das war das letzte Ueberbleibsel des geheimnisvollen Manuskriptes – die Melodien waren verstummt für ewig.

Allem Anscheine nach hatte Frau Hellwig anfänglich nicht die Absicht gehabt, um des Todesfalles willen die Vergnügungsreise ihres Sohnes zu unterbrechen, aber nach der Versiegelung, von der sie sehr echauffiert, mit einem unglaublich grimmigen Gesichte zurückgekehrt war, warf sie hastig einige zurückrufende Zeilen auf das Papier. Bereits am Tage nach der Beerdigung sollte, dem letzten Willen der Verstorbenen gemäß, das Testament eröffnet werden. Zu diesem Akte brauchte Frau Hellwig eine Stütze, sie war überhaupt fassungslos, wie noch nie in ihrem Leben. Der mögliche Verlust eines bedeutenden Vermögens, das sie stets für unverlierbar gehalten, wirkte in seiner Schreckgestalt selbst deprimierend auf ihre eisernen Nerven.

Ein eigentliches Ziel hatte sich die Reisegesellschaft nicht gesteckt. »Eine Reise ins Blaue hinein, und wo es uns gefällt, wollen wir Hütten bauen,« hatte das Programm gelautet; Frau Hellwig mußte demnach ihren Brief auch ziemlich ins Blaue hineinschicken . . . Das Suchen, mit welchem sie in der Mansardenwohnung den Tag begonnen hatte, wurde nun im Zimmer ihres verstorbenen Mannes fortgesetzt. Unter den Familienpapieren mußten sich Beweise finden, daß der alten Mamsell nicht das Recht zugestanden habe, eigenmächtig über ihren Nachlaß zu verfügen. Sie hatte möglicherweise Ersparnisse von ihren Zinsen gemacht, das war bereits gestern abend Frau Hellwigs Vermutung gewesen – das Thürschloß der Vogelstube hatte wacker seine Schuldigkeit gethan und auch dieses Kapital der Familie erhalten . . . Wie die große Frau auch sann und grübelte, sie wußte sich selbst nicht mehr zu sagen, woher ihr jene Ueberzeugung, die sie viele Jahre hindurch unumstößlich festgehalten, gekommen war. Hatte sie die Verfügung von Cordula Hellwigs Vater einst selbst gelesen, oder war es die mündliche Ueberlieferung irgend einer glaubwürdigen Person – genug, überzeugt war sie noch, und die Papiere mußten sich finden . . . Sie suchte und las, bis ihr leichte Schweißperlen auf die blasse Stirn traten – es war heute ein wahrer Unglückstag – ihre Forschungen waren ebenso erfolglos wie die von heute morgen . . . Das Glück schüttet am liebsten kaltherzigen, berechnenden, phantasielosen Menschen seine Rosen vor die Füße – scheint es doch, als wähne es bei reich angelegten Naturen seine Schätze minder sicher als bei solchen, die nicht allein am Geldkasten, sondern auch vor der Seele eiserne Riegel haben . . . Die große Frau war eines jener verwöhnten Glückskinder – sie war daher sehr verwundert über den heutigen Unglückstag.

Zwei Tage waren vergangen, der abgesandte Brief irrte wahrscheinlicherweise noch wohlverpackt in der Postkutsche durch die grünen Thäler des Thüringer Waldes, und die alte Mamsell wurde zur Erde bestattet, ohne daß ein Träger des Hellwigschen Namens hinter ihrem Sarge geschritten wäre.

Felicitas trug ihren tiefen Schmerz schweigend, mit jener Selbstbeherrschung, die groß angelegten Charakteren eigen. Die Schwäche, welche Trost im Zureden anderer sucht, kannte sie nicht – seit ihrer Kindheit war sie gewöhnt, alles Schwere mit sich allein auszukämpfen und ihre Seelenwunden ausbluten zu lassen, ohne daß ihre nächste Umgebung das Vorhandensein derselben ahnte. Sie hatte es grundsätzlich vermieden, die Tote noch einmal zu sehen. Der letzte bewußte Blick der Sterbenden, der noch einmal auf ihr geruht, war für sie der Abschied gewesen – sie wollte das liebe Gesicht unbeseelt nicht in ihre Erinnerung aufnehmen . . . Aber am Nachmittag des Begräbnistages, als Frau Hellwig ausgegangen war, nahm sie einen der Schlüssel, die in der Gesindestube hingen; er schloß den Korridor, in welchen die dem Leser bekannte Rumpelkammer mündete. Die mit den Jahren so bedeutend zunehmende Korpulenz der Hausfrau ließ sie alles Treppensteigen möglichst vermeiden, aus dem Grunde hatte die alte Köchin schon seit länger ungehindert Zutritt in die am höchsten gelegenen Räume.

Tante Cordula sollte und mußte heute noch frische Blumen auf ihrem Grabhügel haben, aber nur solche, die sie selbst gepflanzt hatte. Die Mansardenwohnung war, mit Ausnahme der Vogelstube, versiegelt – auf diesem Wege konnte man mithin nicht zu dem hängenden Garten gelangen, den die Nachlässigkeit des Justizbeamten von aller menschlichen Pflege abgeschnitten hatte . . . Nach neun Jahren zum erstenmale wieder stand Felicitas am Fenster der Dachkammer und sah hinüber nach dem blumenbedeckten Dach . . . Was alles lag zwischen jenem unglückseligen Tage, wo ihre gemißhandelte Kinderseele sich gegen Gott und die Menschen empörte, und heute! Dort drüben war ihr Heim – dort hatte die Einsame das geächtete Spielerskind beruhigend an ihr großes, edles Frauenherz genommen und mit allen Waffen ihres Geistes den Mordversuch auf seine Seele abgewehrt. Dort hatte das Kind unermüdlich gelernt und infolge dieses Lernens erst wahrhaft gelebt . . . Er, der in diesem Augenblick in schöner Damengesellschaft genießend die prächtigen Thüringer Wälder durchstreifte – er ahnte nicht, daß sein einstiger, auf Vorurteil und finster zelotischer Anschauungsweise basierter Erziehungsplan einzig an einigen wagehalsigen Schritten über die zwei schlanken Rinnen da unten gescheitert war.

Und jetzt sollte dieser Weg noch einmal zurückgelegt werden. Felicitas stieg aus dem Fenster und schritt über die Dächer; sie kam rasch und leicht hinüber und hatte bald den ebenen Boden der Galerie unter ihren Füßen . . . Die armen Dinger da, die so harmlos mit den Köpfchen im leisen Zugwind nickten, waren weit schlimmer dran, als die Lilie auf dem Felde. Wie durch ein Zauberwort hoch in den Lüften festgehalten, wußten sie nichts von der süßen warmen Muttererde, nichts von dem starken Heimatboden, der die Grundfesten mächtiger Bäume wie das zarte Wurzelgefaser der kleinsten Blume sich fest in das Herz drückt – ihr Wohl und Wehe hatte in den zwei kleinen weißen, welken Händen gelegen, die jetzt selbst still in dem Heimatboden ruhten und zu Erde wurden. Noch fühlten indes die Herausgesperrten ihre Verwaisung nicht, es hatte mehreremal zur Nachtzeit stark geregnet – in diesem Augenblick blühten und dufteten sie um die Wette.

Felicitas drückte ihr Gesicht gegen die Scheiben der Glasthür und sah hinein in den Vorbau. Da stand der kleine runde Tisch; das Strickzeug mit einer halb abgestrickten Nadel lag neben dem Knäuelbecher, als sei es eben nur aus der Hand gelegt worden, um im nächsten Augenblick wieder aufgenommen zu werden. Quer über einem aufgeschlagenen Buche lag die Brille; das junge Mädchen las tiefbewegt einige Zeilen – der letzte geistige Genuß, den die alte Mamsell auf Erden gehabt hatte, war die Rede des Antonius in Shakespeares Julius Cäsar gewesen . . . Da drüben im Wohnzimmer stand der geliebte Flügel, und seitwärts blinkten die Scheiben des großen Glasschrankes – sie zeigten die leere Fläche der Regale, das alte Möbel hatte sich treuloserweise seine musikalischen Kostbarkeiten entreißen lassen, sie waren zu Asche zerstiebt, andere dagegen hielt es um so fester – Frau Hellwig hatte vergebens nach den Silberschätzen der alten Mamsell gesucht . . . in diesem Augenblick erschrak Felicitas heftig. Das Geheimfach des Schrankes enthielt nicht allein Schmuck und Silber, in einer Ecke stand auch ein kleiner grauer Pappkasten. »Er muß vor mir sterben!« hatte Tante Cordula gesagt . . . war er vernichtet? . . . Um keinen Preis sollte er in die Hände der Erben fallen, und doch war die alte Mamsell stets zu feig gewesen, Hand an ihn zu legen. Es war mehr als wahrscheinlich, daß er noch existierte. Wenn das Testament den Ort bezeichnete, wo das Silber lag, dann wurde möglicherweise auch ein Geheimnis offenbar, das die Einsame mit allen Kräften der Welt zu entziehen gesucht hatte – das durfte nun und nimmer geschehen.

Die Glasthür des Vorbaues war von innen verriegelt. Rasch entschlossen drückte Felicitas eine Scheibe ein und griff nach dem Riegel – er lag nicht vor, wohl aber hatte man zugeschlossen und den Schlüssel abgenommen – eine trostlose Entdeckung! . . . Ein leidenschaftlicher Grimm bemächtigte sich des jungen Mädchens gegen das Verhängnis, das ihr konsequent in den Weg trat, wenn sie hoffte, für Tante Cordula wirken zu können. In den Schmerz um die Verstorbene mischte sich nun auch die schwere Frage um das, was wohl nun kommen werde. War der Inhalt des kleinen grauen Kastens geeignet, das Gerücht bezüglich einer Schuld der alten Mamsell zu widerlegen? Oder warf er, vielleicht mystisch und unlösbar, einen noch tieferen Schatten auf die Heimgegangene?

Sie schnitt rasch ein schönes Bouquet ab, steckte zwei Töpfe mit Aurikeln – Tante Cordulas Lieblinge – in ihren Korb und legte den Weg über die Dächer mit weit schwererem Herzen zurück, als sie gekommen war.

Nun hatte dies junge Mädchen bereits drei Gräber da draußen auf dem weiten, stillen Totenfelde! Die liebsten Menschen, die ihr warmes Herz mit Inbrunst umfaßte, deckte die Erde. Sie warf einen unsäglich bitteren Blick gen Himmel, als sie die Blumen auf Tante Cordulas frisches Grab streute – er konnte ihr nun nichts mehr nehmen! Ihr Vater war seit vielen Jahren verschollen – er moderte wohl längst in fremder Erde; dort drüben auf einem kostbaren Marmorblock leuchtete in Goldschrift der Name Friedrich Hellwig, und hier – sie schritt auf das Grab ihrer Mutter zu, es war, dank der Fürsorge der alten Mamsell, seit neun Jahren zur schönen Jahreszeit stets mit köstlichen Blumen bedeckt. Aber heute lag der Grabstein herausgerissen neben dem Hügel; Heinrich hatte erst vor einigen Tagen erklärt, die Inschrift müsse endlich einmal erneuert werden, sie sei am Erlöschen – wahrscheinlicherweise war auf seinen Betrieb der Stein herausgenommen worden. Er war bis dicht an den Namen der Verstorbenen eingesunken gewesen; heute nun zeigte er sich in seiner ganzen Länge. »Meta d'Orlowska« las Felicitas mit verdunkeltem Blick; aber da stand ja weiter drunten noch ein Name, den die Erde bis jetzt vollkommen verdeckt hatte. Von der schwarzen Farbe zeigte sich freilich nur noch hier und da ein schwacher Rest an den Schriftzügen; allein sie waren in den Sandstein vertieft – »Geborne von Hirschsprung aus Kiel« ließ sich ohne Mühe entziffern.

Felicitas versank in tiefes Sinnen . . . Dieser Name hatte auf dem Bachschen Opernmanuskript gestanden! er hatte ferner dem uralten thüringischen Rittergeschlecht gehört, dessen Wappen noch auf allen Wänden des alten Kaufmannshauses prunkte – das kleine silberne Petschaft in Felicitas' Kindertäschchen zeigte aber auch denselben springenden Hirsch . . . wunderbares Rätsel! Das stolze Geschlecht, das in seinen letzten Generationen zu Hobel und Pfrieme hatte greifen müssen, war ja längst erloschen. Heinrich hatte als Kind den letzten Träger des alten Namens noch gekannt – er war jung und unverheiratet als Student in Leipzig verstorben . . . und doch war vor vierzehn Jahren aus dem fernen Norden eine junge Frau gekommen, die im Elternhause den Namen getragen und das Wappen geführt hatte . . . War einst ein Zweig vom alten Thüringer Stamme losgerissen und in die Ferne geschleudert worden? . . . Du stolzer Ritter, der du deine Gestalt auf der Steinplatte im alten Kaufmannshause verewigen ließest, tritt heraus aus deinem Zinnsarge und wandle über dies Gräberfeld! Verschiedene Steine tragen deinen Namen und unter ihnen ruhen Männer mit schwieligen Arbeiterhänden, Männer, die im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot essen mußten, während du die Ansprüche und Vorrechte deines Geschlechts bis in alle Ewigkeit verbrieft und besiegelt hinterließest, während du in dem unzerstörbaren Wahne die Augen schlossest, dein bevorzugtes Blut, die aristokratischen Hände deiner Nachkommen seien gefeit gegen die Befleckung der Arbeit! Tritt her an dies Grab, das den Staub einer weither gewanderten Tochter deines Hauses deckt! Das Brot, das sie aß, war ein ungleich härteres, ein verachtetes – sie mußte im Gaukelspiel vor die Menschen treten, und dies Gaukelspiel zerstörte ihren blühenden Leib . . . Du hast nicht an den Wechsel gedacht, der in der Welt- und Menschengeschichte dort eine Woge gen Himmel trägt und hier einen Abgrund öffnet, um beide dann für einen Augenblick trügerisch wieder zu ebnen und auszugleichen.

Ob noch Verwandte von Felicitas' Mutter existierten? Das junge Mädchen beantwortete sich diese Frage selbst mit einem bitteren Lächeln; auf alle Fälle existierten sie nicht für die Tochter der Meta von Hirschsprung. Sie waren zweimal öffentlich aufgerufen worden und hatten konsequent geschwiegen. Vielleicht hatte diese Linie des alten Geschlechts seine ursprüngliche Reinheit behalten bis zu dem Augenblick, wo eine Tochter derselben dem Taschenspieler Herz und Hand schenkte – sie wurde verstoßen aus dem Paradiese adeligen Glanzes, aus dem Kreise der Ihrigen auf Nimmerwiederkehr . . . So viel war gewiß, ihr Kind beschritt die Schwelle derer niemals, die ihre Familienbeziehung zu der Ehefrau des Taschenspielers öffentlich verleugneten.


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