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9. Kapitel.
Eine Beichte wider Willen


Wo das Vertrauen fehlt, da fehlt dem Bekenntnis die Freiheit!

Wo das Erbarmen fehlt, fehlen ihm Glaube und Kraft.

Ein stilles, trauriges Wiedersehen gab's auf der Burg Penzlin, als Berendt und Sophie Dorothea heimkehrten. Vom Dache des alten Hauses wehte ein schwarzes Banner, die Trauer um die Landesherrin verkündend, und auf den Gemütern aller Burgbewohner lastete ein schwerer Druck – das schnelle, plötzliche Dahinscheiden der geliebten jungen Fürstin hatte ferne Wirkung nicht verfehlt. Die gewaltige Nähe des Todes, der wie ein Würgengel die Hand nach dem Besten, was es besessen, ausgestreckt, übte ihren ganzen erschütternden Einfluß auf das Volk aus, das mit seinem Fürsten trauernd an der Bahre stand. Wochenlang gingen die Glocken des ganzen Landes, des Todes eines gekrönten Hauptes gedenkend und die Lebenden an ihr Ende mahnend. Wie ein Weckruf zur Buße klang's über Dorf und Stadt, und wer noch an Gott und Ewigkeit dachte, ließ diese Klänge in sein Herz dringen und hielt ein strenges Selbstgericht. Die immer mehr Eingang findende Reformation that durch die Gewalt ihrer klaren, nüchternen und reinigenden Predigt das Ihre dazu und ließ Gerichtsschrecken und Ewigkeitsernst vor die Seele eines Volkes treten, das bisher, durch die geistestötende Macht des Papsttums eingeschläfert, in den Sünden des Heidentums dahingegangen war. Jetzt hatte Gottes Stunde geschlagen; es wurde aufgerüttelt aus dem verweichlichenden Schlaf seiner Selbstverblendung und erblickte erwachend, daß es mit satanischen Ketten gefesselt am Rande des Abgrunds lag. Mit Entsetzen seine Lage erkennend, wandte es um, dem Volke gleich, daß vor Jahrtausenden, die Götzenbilder vernichtend, im Sack und in der Asche Buße that. Auch hier hatte Gottes Stunde geschlagen, wie ein zweischneidig Schwert hatte sein Wort getroffen, auch hier hatte das Leid, das er auf Fürst und Unterthan gelegt, gewirkt, wie es gesollt – ein ganzes Volk lag im Beichtgebet auf den Knieen und bekannte seine Sünde. Aber auch hier sollte Gottes Barmherzigkeit leuchten, und dieselben Boten, die einem gesunkenen Geschlecht die Schrecken des Gerichts vor die Augen gemalt, durften das Kreuz unter ihm aufpflanzen und ihm die selige Botschaft verkünden: »Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab!«

Auf der Burg Penzlin herrschte ganz besonders tiefe Trauer um die Landesmutter. Die Maltzans waren zu getreue Anhänger ihres Fürstenhauses und standen durch Berendts Stellung als Rat in einem ganz besonders nahen Verhältnis zu demselben, um nicht den tiefsten Anteil an diesem traurigen Ereignis zu nehmen. Es war, als umlagerten die Schatten des Todes, die sich über das Haus Heinrichs des Friedfertigen gebreitet hatten, auch die Burg des treuen Vasallen; als hätte man ein geliebtes Kind zur letzten Ruhe gebettet, so still war's im Familienkreise. –

Sophie Dorothea war bleich und still heimgekommen, und alle schrieben ihre Trauer nur dem schweren Verlust zu. Berendt schwieg seinem Weibe gegenüber nicht von dem Kummer ihres Kindes, aber Frau Scholastika wollte nicht daran rühren, ehe Sophie Dorothea ihn ihr nicht selber anvertrauen würde. Doch kam sie später, als die Mutter erwartet hatte. Sie war eine verschlossene Natur und redete von Dingen, die ihre ganze Seele erfüllten, nur, wenn die Verhältnisse sie zwangen. Frau Scholastika hatte Geduld. Der Sommer verging. Sophie Dorothea wurde immer bleicher und stiller. Selbst Ilsabes frisches, fröhliches Wesen vermochte nicht, sie aufzuheitern – die sonst so engverbundenen Gespielinnen verstanden sich nicht mehr wie früher. Ilsabe ahnte nicht den tieferen Grund von Sophie Dorotheas Kummer, aber sie merkte bald, daß etwas Besonderes auf ihr lastete. Sie würde die Freundin nie gefragt haben, mit zartester Rücksicht umgab sie das liebliche Geschöpf, das sein Leid den andern so gern verbergen und sie hellen Auges und frohen Blicks darüber hinwegtäuschen wollte. Auch hatte Ilsabe selbst ein Geheimnis, wovon sie nicht redete, das war ihre Kinderliebe zu Georg, die sie all die Jahre hindurch begleitet hatte. Seit Georg sie im Burggarten zu Schwerin geküßt und ihr von seiner Liebe geredet, war das Kind zur Jungfrau geworden, die das zarte Geheimnis ihrer Seele wie ein Heiligtum hütete und bewahrte. Außerdem trug sie noch etwas anderes im Herzen, was sie eine Weile verbergen mußte – das Bekenntnis ihres Glaubens. Auch hiervon galt es, wie von ihrer jungen Liebe: übers Jahr! und sie dachte oft mit klopfendem Herzen daran, daß dies Jahr zur Neige ging, und blickte sehnend und hoffend auf die kommende Zeit.

An einem hellen Morgen in der zweiten Hälfte des September war Ilsabe zu einem kranken Kinde gegangen und wanderte auf dem Rückweg nach der Burg durch den Wald. Leuchtender Herbst war's, und das Laubholz strahlte in lichtem Golde. Die zarte, schlanke Gestalt, die in weißem Gewande, den mächtigen Hund zur Seite, unter den schimmernden Zweigen dahinschritt, glich der Waldfrau der deutschen Sage, wie sie in jungfräulicher Schönheit segnend und schirmend die Fluren grüßt. Traumhaft ruhig blickten die schönen, dunklen Augen den Waldpfad entlang. Alles war still, nur ein Fink sang melancholisch sein Abschiedsliedchen im Dornbusch und pickte dazwischen an den roten Beeren, die glühend zwischen den welken Blättern hingen. Darüber öffneten sich die Baumkronen und boten einen lieblichen weiten Ausblick in das Land. Hier blieb sie stehen und spähte hinaus. Tiefes Sehnen hatte sie in den Wald getrieben; hier den sonnigen Pfad waren sie einst zu Zweien gegangen, und zwei starke Arme hatten das Mägdlein, als es müde geworden, heimgetragen. Sie preßte die Hände tief aufatmend gegen die Brust, und der Morgenwind küßte das junge Gesicht.

»Übers Jahr! übers Jahr!« jubelte es in ihrer Seele, als sie, die Hand über die Augen gelegt, der Sonne entgegenschaute. Durch die Buchen ging ein Flüstern, sie wußten es, warum sie das stille Plätzchen so liebte – die Waldfrau wartete auf Glück. – – – – – – – – –

Langsam wanderte sie weiter, die Hand auf dem Haupt ihres mächtigen Beschützers, der ihr wie ein Löwe zur Seite schritt. Plötzlich blieb das Tier stehen und spitzte knurrend die Ohren. Sie blickte umher und sah die Gestalt eines Franziskaners den Weg entlangkommen.

»Pater Florian,« flüsterte sie betroffen, »Odin hier!« befahl sie dann laut, in das lange Haar des Hundes greifend. Odin gehorchte widerwillig und ging immer einen Schritt vor seiner Herrin, die klugen Augen fest auf den Mönch gerichtet, weiter.

Jetzt standen sie einander gegenüber. Odin blickte nicht gerade menschenfreundlich auf den Träger des geistlichen Kleides, und es bedurfte einer zweiten Mahnung, um ihn in den Schranken zu halten.

Ehrerbietig grüßte die Jungfrau im Vorübergehen, der Mönch aber hielt sie an. Es war dieselbe breite Erscheinung mit den gewöhnlichen Zügen, die den Stempel kalter Berechnung trugen; nur etwas älter und stärker war Pater Florian geworden, seit er mit Georg Maltzan an dieser Stelle den Wortstreit gehabt. Er hatte Ilsabe lange Zeit nicht gesehen, überrascht ruhten seine Augen auf der schönen Erscheinung, er streckte ihr die Hand entgegen und sagte: »Ich hab' Euch lange nicht gesehen, Jungfrau Ilsabe, gar groß und schön seid Ihr geworden! Übrigens habe ich ein Wörtchen mit Euch zu reden,« fuhr er fort, und die grauen Augen blickten sie überlegen an. »Kommt ein Stücklein mit mir.« Im Tone ruhigen, kühlen Befehls, der gar keine Widerrede erwartet, geschweige duldet, waren die letzten Worte gesprochen. Ilsabe bemerkte es, aber ihre Erziehung hätte ihr nicht erlaubt, sich zu widersetzen. Sie war bleich geworden bei seinen Worten, faßte sich jedoch rasch und ging scheinbar ruhig neben dem Priester her. Pater Florian ging gegen seine Gewohnheit nicht auf Schleichwegen, sondern gerade auf sein Ziel los. Wahrscheinlich hielt er es nicht für nötig, einem Mägdlein gegenüber Vorsicht und Klugheit anzuwenden.

»Wie kommt Ihr dazu, Euch so fern von mir zu halten,« herrschte er die Jungfrau an, »Ihr scheint gänzlich vergessen zu haben, daß ich nicht nur Euer Beichtvater bin, sondern daß ich berufen bin, Euch zur Beichte zu fordern.«

Sie errötete, antwortete aber nicht. Ein heißer Kampf wogte in ihrer Seele. Sie sah, daß der Augenblick gekommen war, wo sie bekennen mußte, zu wessen Lehre sie sich im Herzen schon so lange gehalten. Eine namenlose Angst kam über sie, warum forderte Gott der Herr ihr Bekenntnis in diesem Augenblick, wo sie in die höchste Gefahr dadurch geriet!? Sie kannte den fanatischen Mönch – geriet er in Zorn, so war seine Handlungsweise vollständig unberechenbar, jede menschliche Hilfe war ihr hier tief im Walde fern, nur der treue Wächter an ihrer Seite, der den Geistlichen noch immer knurrend von der Seite anblickte, konnte ihr beistehen. Aber im Blick auf die kommende Gefahr wuchs auch ihr Mut, sie gedachte daran, daß Laurentius Tilenius sie gelehrt, daß wir leiden müssen um des Namens willen des Herrn, daß aber kein Haar von unserm Haupte fällt ohne seinen Willen. Ihr Glaube wuchs in diesem Augenblick, in ihrer Angst blickte sie von den anstürmenden Wogen hinweg auf ihn, dem Wind und Meer gehorchen, und in ihrer Seele schrie es: »Herr, hilf mir!« –

»Warum schweigt Ihr?« fuhr der Kleriker fort, »ich verlange Rechenschaft über Eure Handlungsweise. Mir ist die Gewalt über Euch gegeben, und ich fordere in diesem Augenblick, daß Ihr Euch vor mir, als Eurem Beichtvater, demütigt und Eure Beichte ablegt. Ihr habt Euch schwer versündigt, aber ich will die Strafe, die ich Euch auflegen will, mildern, wenn Ihr mir jetzt Gehorsam erweisen und Euch unter meine Zucht beugen wollt. Hier unter Gottes freiem Himmel mögt Ihr mir beichten – es hört uns niemand.«

Er setzte sich auf einen Baumstumpf und gebot ihr mit einer Handbewegung, vor ihm niederzuknieen.

Aber das Mädchen rührte sich nicht. Todesbleich stand sie vor ihm, die schwarzen Wimpern halb geschlossen; kein Wort kam von ihren Lippen.

»Reizt meinen Zorn nicht,« rief der Mönch, während ihm schon die dunkle Röte ins Antlitz stieg, »ich verlange, daß Ihr hier an dieser Stelle knieend vor mir beichtet.«

Ihre Brust arbeitete in heißem Kampf, dann öffnete sie die großen Augen und sagte, dem Manne fest in das zornige Gesicht blickend: »Nein, Ehrwürden, ich beichte Euch nicht.«

Wütend sprang er auf. »Was soll das bedeuten?« schrie er. »Augenblicklichen Gehorsam verlange ich.«

Mit eisernem Griff umfaßte er das Handgelenk des Mädchens. Da stürzte die Dogge auf den Mönch – »Odin!« schrie sie laut, und das mächtige Tier lag zitternd zu ihren Füßen.

Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen, dann sagte Ilsabe: »Vergebt mir, Ehrwürden, ich wollte nicht im Trotz von Euch scheiden, ich will Euren Befehl erfüllen, aber es ist die letzte Beichte, die ich vor Euch ablege,« sie richtete sich hoch auf und fuhr fort: »Ich bin eine Bekennerin der neuen Lehre geworden!«

Keine Muskel zuckte, keine Bewegung verriet Erstaunen in dem kalten Gesicht, aber die fleischigen Finger, die noch immer die kleine Mädchenhand umfaßt hielten, umklammerten sie fester, so daß es schmerzte.

»Wir wollen sehen, ob es Eure letzte Beichte war!« knirschte er zwischen den Zähnen, dann umfaßte er die Zitternde und wollte sie mit sich fortreißen. Er kam nicht weit. Mit einem Wutgeheul warf sich das gereizte Tier auf ihn und hätte ihn mit den gewaltigen Zähnen zerfleischt, wenn nicht Ilsabe ein Machtwort gesprochen hätte.

»Laßt mich los, Ehrwürden,« fuhr sie, sich an den Mönch wendend, fort, »wenn Euch Euer Leben lieb ist. Ich stehe keinen Augenblick für den Hund mehr ein, so lange Ihr mich antastet.«

In ohnmächtigem Zorn gab er sein Opfer frei und schlug sich fluchend in die Büsche.

»Wir sehen uns noch wieder, Jungfrau Ilsabe!« schrie er ihr nach, sein zerrissenes Gewand aufnehmend. Sie achtete nicht weiter auf ihn, rief den Hund zu sich und ging rasch davon. Endlich blieb sie hoch aufatmend stehen. Sie hatte den Saum des Waldes erreicht, und ihr Blick schweifte den sonnenbeglänzten Pfad entlang, der sich durch die Wiesen zur Burg hinüberschlängelte. Schweigend stand sie in der Morgenhelle; in den leuchtenden Augen flammte es, als sie in den blauen Himmel hinaufblickte. Unwillkürlich faltete sie die Hände, war's ihr doch wie ein Gotteswunder, daß sie hier oben frank und frei auf der Höhe stand, und sie gedachte dankbar dessen, der seinen Kindern seine Engel sendet, daß sie ihren Fuß nicht an einen Stein stoßen.

Es graute ihr, wenn sie an den Augenblick zurückdachte, wo die Hand des Franziskaners sie umklammert hielt, und zu dem Gedanken an das Entsetzliche dieser Lage gesellte sich ein Unwillen über die Unwürdigkeit des geistlichen Standes, ein heiliger Zorn über die Verlästerung des höchsten der Ämter. Sie hatte in Laurentius Tilenius einen Priester kennen gelernt, dem der Engel des Herrn mit der entsündigenden Kohle die Lippen berührt, der, ergriffen vom heiligen Geiste, seine Sünden unter dem Kreuz niedergelegt und als ein begnadigtes Gotteskind mit bebenden Lippen und überströmendem Herzen Zeugnis ablegte von dem Lamme Gottes, das auf dem Stuhl sitzet und die Schlüssel der Hölle und des Todes in den Händen hält. Sie hatte den Schatz des Evangeliums aus den Händen dieses Priesters nach dem Herzen Gottes empfangen, sie hatte auch die Gnade kennen gelernt, die der Herr auf das heilige Amt der Schlüssel gelegt, und den Segen empfangen, der einer aufrichtigen Beichte folgt, der Beichte des freien evangelischen Gotteskindes.

Der klaren Erscheinung des geheiligten Knechtes Gottes mußte sie den verworfenen Kleriker gegenüberstellen – war's bei Ilsabes Verstand und Gaben, bei ihrer tiefen Erkenntnis zu verwundern, daß sie, ganz abgesehen von ihrem Standpunkt gegenüber der Lehre Luthers, es verabscheute, in die Hände dieses Mannes ihr Beichtgeheimnis zu legen? Das Blut schoß ihr ins Gesicht bei dem Gedanken an die Gewaltthaten der Kirche Roms. Dies sollte der Segen der Beichte sein!? Eine Verdrehung war's des Gotteswortes, ein Mißbrauch heiliger Hirtenpflicht, eine Nichtachtung der Gnadengabe, die der Herr in seiner Weisheit seinen schwachen, in ihren Sünden so oft zweifelnden Kindern geschenkt, indem er den in heißer Seelenarbeit nach Wahrheit und Gewissensfreiheit Ringenden den Beichtstuhl öffnete, daß ihnen ihre Last abgenommen werde, und der Stellvertreter Gottes sie berate und stärke. Eine Verzerrung war's des Herrenwortes: »Einer bekenne dem andern seine Sünde!« (Jak. 5, 16.) Ja, die Männer des Vatikans kannten das Wort Gottes und wußten es sich zu nutze zu machen, aber in entsetzlichem Sinne – die vernichtende Prophezeiung des Herrn: »Der mein Brot isset, der tritt mich mit Füßen,« war an den Statthaltern Christi in erster Linie zur Wahrheit geworden.

Die Jungfrau stand noch immer unter den Bäumen. Jetzt trocknete sie sich die glühende Stirn, dann rief sie die treue Dogge und wandte sich zum Gehen. Das mächtige Tier blickte wedelnd zu ihr empor, sie ließ die Finger über sein weiches Fell gleiten. Dann nahm sie ihr weißwollenes Gewand auf und lief wie ein ausgelassenes Kind über die Wiese. Die Dogge folgte ihr mit lautem Freudengebell in großen Sätzen. Am andern Ende der Wiese standen mächtige Buchen, die ihre tiefen Schatten auf die grüne Fläche warfen.

»Komm', Odin,« rief sie, »hier ist es schön. Hier wollen wir den Pater vergessen, denn so zornsprühend kann ich unmöglich heimkommen!«

Sie warf sich in das taufrische Gras, legte die Arme unter den Kopf und blickte in die goldenen Wipfel, durch die der blaue Himmel freundlich hindurchschimmerte. Die Dogge hatte sich zu ihren Füßen gesetzt, das mächtige Haupt mit den klugen Augen nach allen Seiten wendend und Ausschau haltend.

»Sei ruhig, Alter, jetzt werden wir nicht wieder gestört,« sagte sie, »der Pater hat genug von mir und meiner Ketzerei, und dich mit deinem knurrigen Gesicht kann er erst recht nicht leiden. Komm' her, mein altes Tier, wie gut, daß du bei mir warst, wer weiß, wo ich sonst jetzt wäre.«

Odin sah seine junge Herrin mit verständnisvollem Blick an, als wäre er keinen Augenblick über den Sinn ihrer Auseinandersetzung in Zweifel, und leckte ihre Hand.

»Ja, du bist klug!« sagte sie und streichelte ihn.

Nachdem sie eine Weile im Grase gesessen, sprang sie auf: »Jetzt müssen wir weiter.« Langsam ging sie der Burg zu. Oben unter der Linde, die einst vor Jahren das Buch des Märtyrers von Konstanz beschirmt, blieb sie stehen. Die gewaltigen Wipfel rauschten noch immer, und der Wind streute die bunten Blätter zu den Füßen der Jungfrau. Sie ging bis an den Stamm und schaute durch die Luke der alten Mauer. Das Gras wuchs darauf, und die letzten Sommerblumen schaukelten sich in bunter Farbenpracht auf den zarten Stielen in der klaren Luft. Epheu und Farren blickten aus der Luke und wunderten sich über das Menschenkind, das den Weg in ihre Einsamkeit gefunden. Das Farrenkraut ärgerte sich, es war bange, daß sein zartes gefiedertes Gewand zerdrückt werden könnte und zog sich scheu in ein Eckchen zurück, etwas Unverständliches von Unbescheidenheit und Aufdrängelei flüsternd. Aber der Epheu stieß es unwillig in die Seite und warf ihm einen verweisenden Blick zu. Dann schmiegte er sich an das weiße Gewand der Jungfrau, als wollte er sie willkommen heißen. Ilsabe freute sich über das lauschige Plätzchen, der stille, grüne Epheu war von jeher ihr Liebling gewesen, sie pflückte ein Blatt und blickte sinnend auf das Bild der Treue. Dann setzte sie sich und schaute durch die Luke hinab auf die Heerstraße. Odin hatte sich neben sie gelegt, sein mächtiges Haupt ruhte auf ihren Knieen.

Lange saß sie so in Gedanken versunken. Es war Mittag geworden, vom Kirchturm läutete die Betglocke. Sie faltete die Hände und neigte das Haupt. Als der letzte Ton verklungen war, richtete sich die Dogge auf. Das Mädchen wandte sich um. Zwei Arme hielten sie warm umschlungen, zwei blaue Augen blickten sie leuchtend an, – »Georg!« jauchzte sie, und er küßte ihr das Glück von den Lippen.

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