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3. Kapitel.
Auf der Burg Penzlin


Eine kluge Frau mit frommem Sinn
Ist des Hauses Reichtum und Gewinn!
Eine fleiß'ge Hand und reines Kleid
Sind mehr als Perlen und Geschmeid'.

In einem hohen Gemach der Burg Penzlin saß eine stattliche, blonde Frau am Rocken. Sie war nicht mehr jung, etwa achtunddreißig Jahre alt, aber ihr frisches, blühendes Äußeres ließ sie eher jünger erscheinen. Ein schlichtes, dunkelgrünes, mit Pelz besetztes Tuchgewand umschloß die schlanke, kräftige Gestalt der Edelfrau; am Halse tief ausgeschnitten, ließ es den weißen, enggefalteten Battistlatz sehen, der oben mit einer Krause schloß. Das Haar war fast ganz von der weißen, aus feinem Battist verfertigten Haube bedeckt, nur vereinzelt stahl sich eine rotgoldene Welle daraus hervor. Am Gürtel hing ein mächtiges Schlüsselbund, und die weißleinene Schürze mit rot und blauer Borte zeigte, daß Frau Scholastika selber in Küche und Keller nach dem Rechten sah.

Ein behaglicher Raum war's, darin sie saß. Die dicken Mauern bildeten den Fensterplatz; da stand das Spinnrad der Hausfrau, daneben auf dem eichenen Tisch ein Kästlein mit ihrem Nähzeug; an der andern Seite ein Betpult, darüber hing an der Wand das Kreuzbild des Herrn und ein Heiligenbild in bunten Farben. An den Wänden lief eine Bank, mit bunten Kissen belegt, die auch den mächtigen, grünen Kachelofen umgab. Auf dem schweren, mit weiß und rot gewirktem Linnen bedeckten Tisch stand ein mächtiger Steinkrug mit blühenden Zweigen – Kreuzdorn, wilden Apfelblüten, und was der Mai sonst bringt. Unbescheidenes Volk kam hereingeschwirrt – surrend umflog es den duftenden Strauß und hing sich schwer an die rosigen Frühlingskinder, um den Honig aus den zarten Kelchen zu trinken.

Frau Scholastika hatte das sommerliche Leben gern und störte die Bienen nicht. Sie durften nur nicht in die Nähe der geschnitzten Wiege neben ihr kommen, denn darin lag eine kleine Frühlingsblume, die ängstigte sich vor den unruhigen Gästen. Ja, das war ja das vielgerühmte Töchterlein des alten Berendt; wie ein goldenes Primelchen lag's mit seinen lichten Härlein in den weißen Kissen, und die großen, blauen Augen sahen aufmerksam im Gemach umher. Zuweilen stieß Frau Scholastika die Wiege an, dann lachte das kleine Fräulein und griff mit den Händchen nach der Mutter.

Alles atmete Behaglichkeit und Ordnung in dem hellen Gemach, von den schneeigen Linnenvorhängen im Fenster und den schön gepflegten roten Nelken und Rosmarin bis auf den blank geputzten Beschlag an Frau Scholastikas Gebetbuch oben im Spinde. Man sah es, hier waltete eine edle, deutsche Frau, die Tugend und Ehrsamkeit liebte und für Mann und Kind, Haus und Gesinde lebte, eine Frau im besten Sinne des Worts, von der der weise Salomo gesagt haben würde: »Wem ein tugendsam Weib beschert ist, die ist viel edler, denn die köstlichsten Perlen.« (Sprüche Salom. 31, 10.)

Leise Schritte ließen sich hören, und eine junge Frau in Witwentrauer trat ein, ein etwa ein halbes Jahr altes Kindchen im Arm. Sie nickte der Hausfrau freundlich zu und setzte sich ihr gegenüber.

»Soll Sophie Dorothea nicht auch noch hinaus? Es ist wonnig unten im Burggarten, die Sonne scheint auf die Obstblüte an den Mauern, und alles steht in Duft. Mein kleines Schatzkind wird schon ganz rosig in Penzlin, nicht wahr, du Schwarzhärchen?« Und die junge Mutter küßte das kleine Geschöpf, das die Händchen nach ihr ausstreckte. »Nein, Ilsabe, wir werden zu faul, den ganzen Tag liegen wir in der Sonne,« fuhr sie fort, »was soll daraus werden!?«

Die Hausfrau sah sie liebevoll an. »Was daraus werden soll? Ihr beide sollt recht gesund und rotwangig werden, dazu seid Ihr hier! Menschen, die so durchsichtig aussehen, wie Ihr und Euer Töchterlein, dürfen gern einmal ruhen. Die Arbeit ist das goldene Vorrecht der Gesunden; wem sie Gott der Herr versagt, der soll ruhen nach seinem Willen, bis ihm die Arbeitsfähigkeit von neuem geschenkt wird. Auch ein Kranker kann ihm und den lieben Heiligen dienen durch Stillesein und Gedulden. Ich hab' mir darin schon oft ein Exempel an Euch genommen, Frau Ilsabe, man merkt's Euch nie an, wie schwer Euch das lange Nichtsthun wird, und Ihr stört niemand mit Eurem Kummer.«

Die junge Witwe faßte ihre Hand.

»Sollt' ich so Euch und Eurem Gemahl die Liebe danken, die Ihr an mir übt?« fragte sie. »Kampf und Leid sind überall im Leben, wenn nicht außen, so doch immer wieder innen, in der Seele, die mit der Sünde im Streit liegt. Und wenn der Hochgelobte ein Kreuz auflegt, wie meines, so müssen wir uns doch auch dabei immer wieder sagen, daß es sein muß und daß wir's verdienen, wenngleich Gott der Herr es in seiner Barmherzigkeit uns zum Segen wendet.«

»Ich wollte, mein Herz wäre auch so stark,« sagte Ritter Berendts Gemahl.

»Mein Herz ist gar nicht stark,« entgegnete die junge Frau, »im Gegenteil, es ist ein Rohr im Winde. Aber der Heiland ist stark und eine Hilfe der Witwen und Waisen.«

Sie beugte sich über ihr Kind, die Thränen stiegen ihr in die Augen trotz aller Tapferkeit, und sollten es doch nicht – eine richtige Oertzen wollte sie sein und ihrem Gemahl noch jetzt Ehre machen.

Seit einem halben Jahr war sie hier, und Frau Scholastika wollte ihren jungen Gast nicht wieder fortlassen. Sie hegte und pflegte die zarte Frau wie ein geliebtes Kind, und hatte die Freude, sie immer kräftiger werden zu sehen. Bis sie ganz die Alte sei, müsse sie auf der Burg bleiben, erklärte sie Frau Ilsabe, als diese von der Abreise sprach, und soweit sei es noch lange nicht. Ritter Berendt aber hatte scherzend zu ihr gesagt, ohne hohes Lösegeld werde sie nicht freigegeben auf Burg Penzlin. So blieb sie als ein gern gesehener Gast, und wurde immer mehr als zur Familie gehörig betrachtet. Sie half Frau Scholastika im Hause, soweit ihre Kräfte es erlaubten, und lebte ihrem Kinde, welches wie ein Röslein erblühte. Das Buch des Johann Huß und ein anderes: »Die Nachfolge Christi« von Thomas von Kempen, hatte sie mitgebracht, und schöpfte ihres Lebens Kraft und Trost daraus. Sie wußte, daß das Buch des böhmischen Glaubensboten ein ihr verbotenes war, sie kannte die Gefahr, in die sie sich begab, und hielt ihren Schatz auch sorgfältig verborgen, aber lassen konnte sie nicht davon. Hätte sie nur die Bibel gehabt, über wie vieles hätte sie Aufklärung gefunden, was ihr dunkel und rätselvoll war; etwas lateinisch konnte sie, sie hätte den Hauptinhalt verstanden – aber das Kleinod des Evangeliums lag ja noch in Ketten hinter Klostermauern, und nur die Priester hatten das Recht, dies Buch aufzuschlagen, und teilten ihren Gemeinden so viel daraus mit, als sie für richtig und ihrer Stellung mit deren vermeintlichen Rechten für zuträglich hielten. Ja, man konnte von Glück sagen, wenn das Wenige, was man empfing, rein und unverfälscht war, denn von fast allen Kanzeln klang Menschenlehre und nicht Gottes Wort; da hieß es nicht: »Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde« (1. Joh. 1, 7), sondern: »Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegfeuer springt« – nicht: »Aus Gnaden seid ihr selig geworden durch den Glauben« (Ephes. 2, 8), nein, da mühten und kasteiten sich die Kinder jener Zeit, mit Schweiß und Thränen, und wenn die Zahl guter Werke dann doch nicht voll ward, und Sankt Petrus die Himmelsthür nicht aufschließen wollte, so mußten die lieben Heiligen aus ihrem Vorrat abgeben.

Eine erschütternd traurige Zeit war's, diese Zeit des Verfalls der Gemeinde Jesu Christi. Schon im dreizehnten Jahrhundert hatte der Heiligenschein um St. Petri Stuhl angefangen, seinen Schein zu verlieren, stiegen doch Männer auf den Thron der Kirche, die nicht würdig waren, den Hirtenstab zu führen. Sie mißbrauchten ihre Macht auf jede erdenkliche Weise durch Erpressungen und Übergriffe, begaben sich in weltliche Streitigkeiten, und scheuten keine Mittel, um sich zu behaupten. Der Ablaßhandel blühte; Bonifacius IX. Seit 1389 Papst. schrieb sogar ein Ablaßjubiläum aus, und der Säckel der Statthalter Christi ward nimmer leer.

Zucht- und Sittenlosigkeit kannten keine Grenzen mehr, und die Bußpredigt eines Wicklef im vierzehnten Jahrhundert verhallte im Winde. Wohl trafen seine Worte, aber man hielt sich die Ohren zu, und nur die Macht eines Herzogs von Lancaster, der schützend hinter ihm stand, bewahrte den kühnen Mann vor dem Martyrium. Er starb eines natürlichen Todes; seine Lehren, die einen Keim der Reformation enthielten, wurden in einigen Familien fortgepflanzt – in den breiten Schichten des Volkes war der Boden noch nicht für sie bereitet. Trotzdem drangen sie bis ins Ausland, und in Böhmen nahm ein Mann sie auf, der in der Vorgeschichte der Reformation unvergessen bleibt. Johann Huß (1373 bis 1415) brachte ein reines Bekenntnis ungescheut ans Licht, griff die Abendmahlslehre der römischen Kirche an und geißelte scharf den Wandel der Geistlichkeit. Aber man wußte ihn still zu machen. Wir wissen es, daß ein deutscher Kaiser Sigismund. es nicht für nötig hielt, sein einem Ketzer gegebenes Wort zu halten, daß ein heiliges Konzilium, nachdem es sich gedrungen gefühlt, den Höchstgestellten in seiner Mitte wegen seiner Lasterhaftigkeit seines Amtes zu entsetzen, Papst Johann XXIII. im Jahre 1415 auf dem Konzil zu Konstanz abgesetzt. seiner Heiligkeit dadurch nicht zu schaden glaubte, daß es einen armen Gefangenen in den feuchten Kellern des Dominikanerklosters Konstanz fast verhungern ließ, und dem vor seine Schranken Geforderten keine Darlegung und Verteidigung seiner Lehre erlaubte, sondern ihn mit dem Todesurteil überschrie und ihn auf den Scheiterhaufen schleppte.

Das Andenken dieses edelsten Vorkämpfers der Reformation wird unvergessen bleiben, so lange die Erde steht; in unserer Seele aber wird, so oft wir die Gestalt des Märtyrers von Konstanz vor das Auge unsres Geistes treten lassen, das Wort Wiederhall finden: »Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben!« (Jak. 5, 11.)

Die Kinder der allein seligmachenden Kirche hatten die Asche des ketzerischen Böhmen in alle vier Winde gestreut und lebten in ihren alten Sünden weiter. In immer tieferes Verderben sank die Kirche im fünfzehnten Jahrhundert. Die Geistlichen rühmten sich sogar ihres bösen Wandels und ihrer Unkenntnis der heiligen Schrift. Ja, sie gingen so weit, zu erklären, die Bibel sei ein Buch voller Dornen und Unkraut, und für Laien erwachse aus ihrem Gebrauch nur Ketzerei. In Rom saß zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts Alexander Borgia (1492-1503) auf Petri Stuhl, ein Mann, dessen Name für alle Zeiten gebrandmarkt ist in der Geschichte der Päpste. Sein redlich gesinnter Nachfolger, Pius III. (Franziskus Piccolomini), starb wenige Wochen nach der Wahl. Der auf ihn folgende Julius II. war von besserem Charakter als Alexander VI., taugte aber als streitbarer Mann und Politiker nicht für das Kirchenregiment.

So stand es zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts um die Kirche, und die, welche sie führen und regieren sollten, hatten den Grundstein zu ihrem Verderben gelegt. Die Quelle echter Frömmigkeit war versiegt, ein armes, blindes Volk machte eine Unzahl äußerer Gebräuche beim Gottesdienst mechanisch mit und meinte, darin das Wesen und den Inhalt des Christentums zu erkennen. Mit dem Verlöschen des Glaubens erwachte der Aberglaube und griff mächtig um sich, was sich besonders in der ausgebreiteten Reliquienverehrung und der Verfolgung der sogenannten Ketzer und Hexen kund gab.

Nicht besser als überall im Reiche sah es in den kleinen norddeutschen Herzogtümern aus, und Mecklenburg machte durchaus keine rühmliche Ausnahme. Reich an Mönchs- und Nonnenklöstern übten diese ihren ganzen verderbenden Einfluß auf die Kinder ihrer Zeit aus. Zucht und Sitte waren völlig untergraben, und das bis zur Verdummung unterdrückte und betrogene Volk lebte unter der einschläfernden und geisttötenden Macht des Wahn- und Aberglaubens. Der Adel erging sich in Streifzügen und Wegelagereien und bekriegte entweder seine eigenen Fürsten oder war unter sich selbst und mit den Klosterherren verfehdet. Kurzum, es herrschte Unordnung und Zwist, Gottlosigkeit und Verworfenheit an allen Enden, und es war höchste Zeit, daß mit dem neuen Jahrhundert ein neuer Tag anbrach, und die Morgenröte aufging über den dunklen Landen. Schon im fünfzehnten Jahrhundert hatten sich Stimmen erhoben, um dem Verderben ihrer Kirche und den Notständen im Volks- und Gemeindeleben Einhalt zu thun, aber sie waren auf dem Scheiterhaufen zum Schweigen gebracht. Dennoch wurden sie wieder laut, und sogar aus seiner eigenen Mitte traten Männer wider den Klerus auf und deckten rücksichtslos die Schäden der Kirche auf. Als letzter Herold vor dem Kommen des jungen Tages trat im Jahre 1516 ein Prediger, Namens Nicolaus Ruß, auf, dem einige in Mecklenburg ansässig gewordene Hussiten ein Licht über den Zustand der Kirche aufgesteckt hatten. Von der Wahrheit überzeugt, trat er unerschrocken für dieselbe ein und kämpfte mutig gegen den papistischen Aberglauben und das Leben der Geistlichen. Aber Gottes Stunde war noch nicht gekommen, sein auserwähltes Rüstzeug noch nicht erschienen – und alles ging seinen Gang, wie vorher. Die Wenigen, welche nicht mit in den Sünden der großen Masse leben wollten, zogen sich still in ihre Häuser oder Burgen zurück und schlossen sich möglichst von ihren Mitmenschen ab – ein Mittel, welches gewiß nicht in jeder Richtung ein gottgewolltes und richtiges ist, welches sich aber in jener Zeit der Sucht nach Ketzer-Verfolgung und andererseits der Beschönigung der Sittenlosigkeit als das einzig zweckmäßige erwies. Nach der erstgenannten Seite hin hielt es freilich nicht lange vor; man suchte gerade in dem Sichfernhalten dieses Häufleins den Grund zur Ketzerei. – – –

Es war zu Ende des Jahres 1509, als Frau Ilsabe von Oertzen das Buch des Johann Huß nach Penzlin gebracht. Sie las es bei verschlossenen Thüren, sprach nie ein Wort davon, daß sie es bei sich hatte, und schloß es nach jedem Gebrauch wieder ein. Trotzdem konnte sie eine gewisse Angst nicht ganz verscheuchen, seit sie aus Burg Penzlin mehr von Ketzerei und ihrer Bestrafung gehört. Die alte Burg wußte ja ein Stücklein davon zu erzählen. In dem Thorgebäude befand sich unter dem Keller ein abschreckendes Gefängnis, der Hexenkeller genannt, in welchem die unglücklichen Frauen und Jungfrauen, die man der Ketzerei beschuldigte, gebunden und in die dunklen Vertiefungen gesperrt wurden, bis man sie auf die Folter legte oder nach dem Scheiterhaufen führte.

Augenblicklich war der Hexenkeller leer, und Ritter Berendt hatte ihr das finstere Gemäuer mit seinen grauenhaften Werkzeugen gezeigt, aber Frau Ilsabe hatte sich schaudernd abgewandt und atmete auf, als sie wieder in Gottes freier Luft war.

Im Garten unter der Linde saß die Burgherrin mit einem Gast, dem Prior des Franziskanerklosters zu Neubrandenburg, und ihren beiden Söhnen, Joachim und Georg, einem hochgewachsenen Jüngling von etwa achtzehn Jahren und einem frischen achtjährigen Knaben. Ein älterer Sohn war früher gestorben.

Berendt und Ilsabe gesellten sich zu ihnen.

»Was ist Euch denn geschehen, Frau Ilsabe, Ihr seid ja so weiß wie ein Linnen?« fragte Frau Scholastika die Kommende.

»Nichts,« antwortete sie, »Euer Gemahl zeigte mir das Hexengefängnis. Der Anblick der Folterwerkzeuge hat mich erschüttert und es überlief mich kalt bei dem Gedanken an die Unglücklichen.« Eine unüberwindliche Befangenheit schien sich bei diesen Worten des jungen Weibes zu bemächtigen. Sie fühlte die stechenden grauen Augen des Priors auf sich gerichtet und senkte verwirrt und errötend den Blick. Warum sah er sie so scharf prüfend an, als ahnte er, daß sie das Buch des Böhmen gelesen? Sie wandte sich an ihren Liebling, Georg, den Ritter der kleinen Ilsabe, und bat ihn, ihr Töchterlein herabzuholen, aber sie konnte den Augen des Mönchs, die noch immer fest auf dem Antlitz der jungen Frau ruhten, nicht entrinnen:

»Ihr habt recht, edle Frau,« sagte er schließlich, ohne den Blick von ihr zu wenden, zu Ilsabe, »daß Ihr jene Verurteilten beklagt; die Ketzerei ist die größte Sünde, die es giebt, und die Umkehr von derselben muß sehr schwer sein, so vereinzelt kommt sie vor. Diese Leute sind ebenso wahnumfangen, wie eigensinnig, so daß sie keiner Vernunft mehr Raum geben und selbst in ihr Verderben hineinrennen. Denkt zum Beispiel an Johann Huß und seine Anhänger. Ketzern ist eben nicht zu helfen!«

Ilsabe hatte sich so weit gefaßt, daß sie dem Franziskaner ruhig ins Auge sehen konnte, und fragte: »Was haben denn jene unglücklichen Frauen und Jungfrauen gethan? Falsche Lehre konnten sie doch nicht verbreiten!«

»Ketzerei haben sie getrieben, allerlei Böses gethan, von dem Eure reine Seele nichts ahnt,« sagte er mit einem Seitenblick, »Bücher gelesen, die die Ketzerei befördern, den heiligen Vater geschmäht und noch hundert andre Bosheiten verübt. Das bloße Lesen eines ketzerischen Buches legt ja schon den Keim dieser furchtbaren Sünde in das Menschenherz. Doch was rede ich zu Euch von Ketzerei,« schloß er mit widerlicher Freundlichkeit, »erinnert Ihr mich doch gar lebhaft an ein lieblich' Heiligenbild im Kloster zu Neubrandenburg, und im Geiste sah ich Euer schönes Haupt im Glorienschein. Auch habt Ihr wohl nach dem eben gehabten Anblick für alle Zeiten genug von dem bloßen Wörtlein Ketzerei!«

Die Edelfrau senkte das Auge, dann richtete sie es durchdringend auf den Mann in der Kutte. Er hielt ihren Blick aus und sah ihr kühl forschend ins Antlitz. Schweigend wandte sie sich langsam um und ging dem Knaben entgegen, der sorgsam ihr Töchterlein die steinernen Stufen herab in den Garten trug. Sie nahm es ihm hastig aus den Armen, drückte das Kind leidenschaftlich an die Brust und eilte hinauf in ihr Gemach. Dort legte sie die Kleine in ihre Wiege und ging an das geöffnete Fenster. Rings lag das weite Land im Blütenschmuck; in der Ferne schimmerten blaue Höhenzüge, freundliche Dörfer zu den Füßen, dazwischen tannenumrauschte Seen, junge Saaten und blütenweiße Thaler. Aus dem ersten Buchengrün schauten die festen Türme der Burgen stolz hinab in die mecklenburgischen Lande und grüßten die Heimat. Ja, schön war die weite Welt, wie sie dalag im schimmernden Festgewand – aber, warum ließ er, der sie so wunderlieblich erschaffen, es zu, daß so viel Ungerechtigkeit und Sünde darinnen regierten, warum ließ er seine Kirche, die Gemeinde der Heiligen, bis an den Rand des Abgrunds kommen? Sorgenvoll sah sie auf das schlafende Kind – in welch eine Zeit war es hinein geboren, was für Kämpfe und Not mochten seiner warten! Und sie selbst – das Herz schlug ihr laut bei dem Gedanken an das Buch in der Truhe, an das, was ihre Seele eingesogen und nicht wieder lassen wollte. Und weiter eilten ihre Gedanken – sie preßte die Hände vor die Augen, als wollte sie dieselben fernhalten, und sank lautlos an der Wiege auf die Kniee. Lange verharrte sie in dieser Stellung, ihr Haupt ruhte neben dem des schlafenden Kindes.

»Herr, nur das nicht,« kam es endlich bebend von ihren Lippen, »du kennst mein schwaches, sündiges Herz, du kennst meine Todesangst vor den Schmerzen der Folter und weißt, daß ich dich verleugnen würde! Herr Gott, barmherziger Heiland, erbarme dich meiner und bewahre mich davor um meines unschuldigen Kindes willen!« Es war das offene Bekenntnis einer Menschenseele, die den Heiland sucht, aber das Leuchten von seinem Angesicht noch nicht geschaut hat, das Gebet einer Mutter, welche Bande der Liebe an die Erde fesseln, deren Geist aber das ewige und unbefleckte Erbe sucht, das behalten ist im Himmel. Ein demütiges Bekenntnis der Schwäche des eigenen Herzens und der Erdenliebe war's – aber dahinter stand leuchtend das Verlangen, ein wahres Gotteskind zu sein, die Sehnsucht, ihm treu zu bleiben, der die Arme am Kreuz nach uns ausgebreitet.

Ob diesem Gebet das dem Heiland alles anheimstellende »Dein Wille geschehe« heute noch fehlte, der große Herzenskundiger droben wird es nicht verworfen haben, denn er wußte, daß ihre Seele in kurzer Zeit bereit sein würde, auch den [unleserlich]sten Kelch aus seiner Hand zu nehmen und unter des [unleserlich]es Kreuzes glaubensvoll zu sprechen: »Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du willst.«

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