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Dreiundvierzigstes Kapitel

Bevor er Paris verließ, schickte er seiner Frau eine Depesche.

»Komme nach Elbeuf, geht nach Thuit, Michel einladen, morgen bei uns zu sein.«

Wie die Gewohnheiten des Hauses nun einmal waren, wollte eine solche Depesche besagen, daß nach Auszahlung der Arbeiter die Familie in die alte Kalesche steigen und nach Thuit fahren solle; ihn erwartete das zweirädrige Wägelchen bei Ankunft des Pariser Zuges am Bahnhofe, und er fuhr hinter den Seinigen drein. Auf diese Weise kam die Mama nicht zu spät ins Bett, und am andern Morgen erwachte man beim Gesange der Vögel, auf dem Lande, mitten im Grünen. Hier war es viel heitrer als in der Glayeul- oder Schwertliliengasse, wo früher vielleicht einmal Schwertlilien wuchsen, wie der Name andeutete, wo man aber seit lange keine andern Farben mehr sah als das Indigoblau, und kein andres Parfüm mehr roch, als dessen süßlichen Duft.

Alles ging nach seinem Wunsche. Um sieben Uhr fuhren die Mama, Frau Adeline, Bertha und Leonie nach Thuit, und bei seiner Ankunft auf dem Bahnhofe um halb zehn Uhr erwartete ihn das zweirädrige Wägelchen. Eine Stunde später kam er in Thuit an und sah, wie beim Scheine einer Laterne seine Frau, seine Tochter und seine Nichte ihm entgegenkamen.

»Was für eine hübsche Ueberraschung!« sagte Frau Adeline.

»Es ist keine Sitzung am Montag, ich konnte abkommen,« sagte er, um diese Rückkehr zu erklären, ohne daß seine Frau darüber erstaunte.

»Wie lieb du bist, daß du daran dachtest, Michel für morgen einzuladen,« sagte Bertha, ihn umarmend.

»Freust du dich?«

»Oh! lieber Papa!«

»Nun, ich bin glücklich, weil ich dich glücklich sehe.«

»Ob sie sich freut!« sagte Leonie, welche auch etwas bemerken wollte, »sie hüpfte vor Freude, als Tante deine Depesche las.«

»Willst du wohl still sein, kleiner Mutwille!« rief Bertha.

Man hatte ihm wie gewöhnlich ein kaltes Abendessen im Speisezimmer aufgetragen, wo ein lustiges Feuer brannte, obgleich es schon April war. Aber er wollte nichts genießen, er hatte gegessen, bevor er Paris verließ, wenigstens sagte er so.

Wenn er in Thuit zu so später Stunde ankam, begab er sich nie in das Zimmer seiner Mutter, denn die Mama schlief, sobald sie sich zu Bette legte, gleich ein und er hätte sie dann aufgeweckt. Erst am nächsten Morgen begrüßte er sie.

Wie stets war's auch an diesem Abend. Am nächsten Morgen, als noch alles im Schlosse schlief, klopfte er an die Thüre des Zimmers, welches seine Mutter im Erdgeschoß bewohnte. Gerade, weil die Mama sofort einschlief, wenn sie sich legte, wachte sie früher auf, und es war nicht zu befürchten, daß sie im Schlafe gestört werde.

»Komm herein,« sagte sie.

Nachdem er sie in ihrem Bette geküßt hatte, bat sie ihn, die Läden zu öffnen.

»Damit ich dich sehe,« sagte sie.

Er that, was sie wünschte, und die schrägen Strahlen der ausgehenden Sonne erfüllten das Zimmer mit ihrem rosigen Lichte.

Er setzte sich zu seiner Mutter ans Bett, ihr gerade gegenüber.

»Wie geht es dir?« fragte sie ihn ansehend.

»Wie immer.«

Sie betrachtete ihn lange aufmerksam.

»Ziehe doch die Vorhänge zurück,« sagte sie, »und laß das Fenster offen, ich sehe dich nicht gut.«

»Wird es dir nicht zu kalt werden?«

»Es ist ja herrliches Wetter.«

»Die Luft ist kühl.«

»Geh doch.«

Er gehorchte und setzte sich dann wieder auf seinen Platz. Er war entschlossen, die Entscheidung, welche Berthas Heirat sichern sollte, herbeizuführen.

»Wie blaß du bist!« sagte sie, ihn von neuem betrachtend, »wie verzerrt deine Züge sind! Du bist unwohl, mein Junge.«

»Nicht doch.«

»Du mußt es mir gegenüber nicht leugnen. Ich habe noch gute Augen, wenn es sich um dich handelt. Wenn bei dir, als du noch klein warst, eine Krankheit im Anzuge war, sah ich es eher als alle andern, eher als dein Vater, eher als der Arzt: ich sagte zu ihnen: ›Constant wird etwas bekommen;‹ ich habe mich nie getauscht: das Mutterauge liest in den Kindern. Was fehlt dir? Nicht seit heute erst geht es dir nicht gut: schon während der zwei Wochen, die du bei uns zubrachtest, habe ich oft genug bemerkt, daß du bald blaß, bald rot wurdest, ohne Grund: es gab Augenblicke, wo du zu ersticken drohtest, und manchmal hörtest du nicht, was man zu dir sagte.«

Während seine Mutter sprach, tauchte ein Gedanke in ihm auf, der, wie ihm schien, Berthas Heirat sicherstellen mußte.

»Es ist wahr,« erwiderte er, »daß ich tief bekümmert bin.«

»Wegen deiner Geschäfte?«

»Wegen meines Gesundheitszustandes und wegen Berthas Heirat.«

»Was hast du, mein Junge?« fragte sie in zärtlichem Tone, »wem anders könntest du dich anvertrauen als deiner Mutter?«

»Ich hätte dir gern einen großen Kummer erspart – aber ich kann es dir nicht länger verhehlen: morgen, in einer Stunde kann ich tot sein.«

»Was sagst du mir da! Du, mein Constant!«

»Die Wahrheit, und der Gedanke, daß ich abberufen werden kann, ohne daß Berthas Zukunft, ihr Glück gesichert ist, erfüllt mich mit Angst ...«

»Mein armes Kind! Ist es möglich! Sterben! In deinem Alter!«

»Wenn ich nicht die Gewißheit hätte, würde ich dir etwas davon sagen?«

»Aber was fehlt dir denn?«

Er zögerte einen Augenblick.

»Ein Herzfehler.«

»Aber man kann mit einem Herzfehler lange leben; der Vater Osfrey hatte auch einen und ist über achtzig Jahre alt geworden.«

»Es gibt verschiedenartige Herzfehler. Was ich weiß, ist, daß ich morgen tot sein kann. Du kannst dir wohl denken, daß ich es dir nicht sagen würde, wenn ich nicht die Gewißheit hätte.«

»Oh! Mein Gott!« murmelte sie schluchzend, »mein Sohn, mein liebes Kind!«

Adeline war in peinlicher Erregung, der Schmerz seiner armen alten Mutter brach ihm das Herz. Aber mußte er nicht so reden? Indessen sagte er, sich zu ihr neigend, weich: »Ohne Zweifel kann ich am Leben bleiben, aber ich würde ruhiger, die Voraussetzungen dafür würden günstigere sein, wenn dieser Gedanke an Berthas Heirat mich nicht fieberhaft aufregte.«

»Du würdest ruhiger sein,« murmelte sie, als wenn sie zu sich selbst spräche, »die Voraussetzungen würden günstigere sein?«

»Du weißt, wie gefährlich bei dieser Krankheit die Gemütsbewegungen sind und daß der Kummer das Uebel verschlimmert.«

Sie winkte ihm mit der Hand zu, nicht zu reden, und drehte sich halb nach einem Bilde der heiligen Jungfrau um, das an der Wand über ihrem Bette hing; sie schien inbrünstig zu demselben zu beten. Darauf wendete sie sich wieder zu ihrem Sohne.

»Deine Ruhe, dein Leben über alles,« sagte sie: »Schließe diese Heirat.«

Er umarmte sie und fand lange nur einzelne abgebrochene Worte.

»Eine Mutter gibt ihr Leben hin für ihr Kind,« sagte sie, »sie muß vielleicht auch ihr Seelenheil hingeben. Aber ich darf nicht an mich denken, sondern nur an dich. Du wirst ruhiger sein; komm, sieh mich an, ich will diese unruhigen Augen nicht mehr sehen.«

Sie wollte, daß er ihr von seiner Krankheit erzähle, aber da er sich unwohl fühlte, bestand sie nicht darauf, um ihn nicht zu quälen.

»Gehe im Garten spazieren,« sagte sie, »die Luft wird dir gut thun und dich beschwichtigen, jetzt kannst du ruhig sein.«

Er ging, wie es seine Mutter ihm anempfahl, im Garten spazieren; aber sich beruhigen, konnte er das, da er sich bei jedem Schritte wiederholte, daß er noch vor Abend seinem Leben, welches wieder eine so glückliche Wendung hätte nehmen können, ein Ende gemacht haben müsse? ... Alles in ihm, um ihn, wies diesen Gedanken an den Tod zurück, das Glück seiner Tochter, das er nicht mehr sehen sollte, und der Frühling, der in diesem Garten unter den köstlichen Strahlen der Morgensonne seinen vollen Blütenschmuck entfaltete und seine Wohlgerüche ausströmte.

Und er, er mußte sterben; er sollte seine Tochter zum letztenmal küssen und seine arme Mutter und sein geliebtes Weib. Dies Haus, das er liebevoll ausgeschmückt, um darin seine Tage ruhig zu beschließen, diese Bäume, die er gepflanzt, diese Felder, die er verbessert und die seine Freude waren – es war zum letztenmal, daß er sie sah. Alle diese kunstvoll gezogenen, mit weißen Blüten übersäeten Obstbäume, diese ausschlagenden Sträucher, diese grünen Knospen, die ihre Blättchen im Lichte entfalteten, diese singenden Vögel, dieser würzige Geruch, alles sprach von Lenzesfreude, von Kraft, von Lust, von Leben – und er konnte seine Blicke nicht abwenden vom Tode, den er entschlossen war, nicht zu fliehen, der ihn aber doch mit Entsetzen erfüllte.

Er ging lange allein hin und her, bis endlich Bertha ganz frisch, ganz strahlend in ihrer Frühlingstoilette zu ihm kam.

»Wie werde ich ihm gefallen?« fragte sie, nachdem sie ihn geküßt hatte.

»Du wirst gleich noch hübscher aussehen – deine Großmutter gibt ihre Einwilligung zu eurer Heirat.«

Sie warf sich ihm an den Hals.

»Wie hast du das gemacht?« fragte sie nach dem ersten Ausbruch der Freude. »Was hast du gesagt? Und ich habe trotz alledem an dir gezweifelt!«

»An deiner Großmutter hättest du zweifeln sollen. Vergiß nie, welches Opfer sie deinem Glück gebracht hat.«

Sie bat ihn, ihr zu versprechen, daß er mit ihr Michel entgegengehe, der zu Fuß, auf dem Waldwege von la Londe her, kommen wollte, und als die Stunde herannahte, wo sie ihm voraussichtlich begegneten, machten sie sich auf den Weg.

Er versuchte, an der übersprudelnden Freude Berthas teilzunehmen, mit ihr zu lachen und zu plaudern, aber trotz seiner Bemühungen traten Augenblicke des Stillschweigens und dumpfen Hinbrütens ein, in denen er sie nicht mehr hörte, selbst nicht mehr sah.

Sie gingen nicht weit in den Wald hinein. Als sie in die Nähe eines Kreuzwegs kamen, sahen sie Michel auf einem im Laube liegenden Baumstamme sitzen.

»So eilst du dich?« rief ihm Bertha zu.

»Gerade weil ich mich zu sehr beeilt habe, wartete ich hier die Zeit ab, wo ich anstandshalber erscheinen konnte,« erwiderte Michel, eilig auf sie zukommend.

»Wenn du gewußt hättest! ... sagte Bertha.

Michel sah sie gespannt an. Da nahm Adeline seine Hand und legte sie in die Berthas.

»Die Mama willigt ein,« sagte er, »in einem Monate könnt ihr verheiratet sein, aber für mich und durch mich seid ihr es schon von heute an, umarmt euch, meine Kinder.«

Er wollte, daß Bertha ihrem Verlobten den Arm gebe und ließ sie, während er sie betrachtete, vor sich hergehen.

Und als er sich sagte, daß sie glücklich sein werde, fühlte er mehr Mut in sich – in Bezug auf sie wenigstens war seine Aufgabe erfüllt.

Leonie hatte den Morgen damit zugebracht, Blumen zu pflücken, und der Tisch war ganz damit bedeckt. Aber weder diese Blumen, noch das Lächeln seiner Tochter, die Freude Michels, das Glück seiner Frau konnten Adeline aufrichten. Jeden Augenblick starrte er nach dem Zifferblatts der Standuhr und den darauf hinfliehenden Minuten. Da dachte die Mama: Selbst bei dem Glücke seiner Tochter kann er sich nicht von dem Gedanken an seine Krankheit losmachen.

Sie versuchte ihn zu zerstreuen, sie erzählte Geschichten aus ihrer Jugend, vom Heiraten, sie spielte die Liebenswürdige gegen Michel.

Im Laufe der Unterhaltung fragte Michel Adeline, was das für eine Zeitung sei, der »Ehrliche Mann«.

»Mein Onkel, meine Vettern und ich, haben jeder eine Nummer erhalten. Sie kündigt eine Studie über die Klubs an nebst Porträts, die für jedermann kenntlich sein werden. Sie schreiben mir die Namen unter jene Porträts, nicht wahr?«

Adeline war blaß geworden und hatte, da er die Augen seiner Frau auf sich gerichtet fühlte, nicht sogleich eine Antwort gefunden.

»Ich vermute, daß es ein Skandal- und Revolverblatt ist,« sagte er endlich, »und ich glaube nicht, daß die Porträts von Interesse sind.«

Michel legte weiter keinen Wert darauf. Was lag ihm in der That an dem »Ehrlichen Manne«? er hatte nur rein zufällig davon gesprochen.

Nach dem Frühstück wollte Adeline Michel die Gebäulichkeiten des Pachthofs zeigen, und mit anscheinend gleichgültiger Miene plaudernd, fragte er den Pächter, ob er sich noch immer über die Kaninchen zu beklagen habe.

»Die Kaninchen, sprechen Sie mir nur davon nicht, Herr Adeline, sie fressen mir all meinen Raps; wenn man sie nicht einfängt, werden sie keinen mehr übrig lassen.«

»Nun gut, die nächste Woche können Sie sie einfangen, heute will ich noch ein paar mit der Flinte schießen.«

»Oh! Papa!« sagte Bertha.

»Während ihr spazieren geht; auf dem Rückweg nehmt ihr mich dann mit.«

Er holte seine Flinte, und während die Mama, Frau Adeline und Leonie im Schlosse blieben, schlug er mit Bertha und Michel den Weg nach dem Parke ein.

Bald waren sie beim Rapsstück angekommen.

»Ich bleibe hier,« sagte er, »geht ihr spazieren und erschreckt nicht, wenn ihr schießen hört.«

Als sie weiter gehen wollten, rief er Bertha zurück.

»Gib mir noch einen Kuß,« sagte er.

*

Am nächsten Tage meldeten die Zeitungen von Rouen in warmen und rühmenden Worten den Tod des Herrn Constant Adeline, des hervorragenden Abgeordneten der Seine-Inférieure, des großen Elbeufer Industriellen. Auf der Kaninchenjagd in seinem Parke hatte er die Unvorsichtigkeit begangen, seine Flinte beim Ueberspringen eines Grabens am Laufe zu fassen, und der ihn aus nächster Nähe in den Kopf treffende Schuß hatte ihn auf der Stelle getötet.

 

Ende.

 


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