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Achtunddreißigstes Kapitel

Friedrich hatte sich von dem scheinbaren Zugeständnis, welches ihm Adeline damit machte, daß er nicht sofort seine Demission gab, nicht täuschen lassen. Nicht weil er auf seinen Vorsatz verzichtete, zögerte der Präsident mit dem Rücktritt, sondern weil er vorher den Namen jenes Spielers erfahren wollte. Wer ihn kannte, konnte darüber nicht im Zweifel sein, und Friedrich fing an ihn gut zu kennen. Die Gefahr war daher eine drohende.

Wie derselben zuvorkommen?

Die Frage war ernst genug, daß er die alleinige Verantwortlichkeit für deren Prüfung und Entscheidung nicht auf sich nehmen wollte, sie mußte von den Verbündeten gemeinschaftlich entschieden werden.

Anstatt sich um den Spieler zu kümmern – das hatte ja Zeit bis später – holte er, sobald Adeline gegangen war, Barthelasse zu Hause ab und begleitete ihn zu Raphaëlla.

Aber die Beratung konnte nicht sofort beginnen, da Raphaëlla in diesem Augenblicke Besuch von Herrn von Cheylus hatte. Der Besuch zog sich in die Länge, und mehr als einmal glaubte Barthelasse, daß Friedrich, dessen Ungeduld und Unzufriedenheit sichtbar waren, aufstehen werde, um diesem Zwiegespräch ein Ende zu machen.

Endlich ging Herr von Cheylus und Raphaëlla kam in den kleinen Salon herein, wo sie warteten.

»Was gibt es?« fragte sie, durch ihr Erscheinen beunruhigt.

Friedrich erklärte, was es gab und was sie herführte.

In ihrem Bunde spielte Raphaëlla die Rolle desjenigen Verbündeten, der die andern für alles, was übel ausschlägt, verantwortlich macht, und sich selbst alles zurechnet, was zum Guten ausschlägt.

»Ihre Sequenz hat einen hübschen Erfolg gehabt,« sagte sie gegen Barthelasse gewendet.

»Wegen der Sequenz tritt er nicht zurück, sonst hätte er nicht bis jetzt gewartet.«

»Das weiß ich nicht, aber in jedem Fall hat sie es nicht verhütet, wie Sie sehen; und meines Erachtens ist es durchaus nicht bewiesen, daß es nicht Ihre Sequenz ist, die ihn zum Rücktritt, welchen er schon früher hin und her erwog und gewiß noch lange hin und her erwogen hätte, bestimmt. Warum haben Sie ihm auch so hohe Karten gegeben, lauter Acht und Neun; konnte er nicht mit weniger Augen gewinnen, die kein Aufsehen erregt hätten?«

»Ich wollte seinen Bedenken beim Abziehen zuvorkommen; bei ihm war so etwas möglich, da er spielte, ohne zu wissen, daß er gewinnen mußte. Wenn man mit dem Bankhalter im Einverständnis ist, kann man machen, was man will, aber das war hier nicht der Fall, und dann schien es mir, daß es nicht so übel wäre, wenn er sich ein wenig bloßgestellt fühlte.«

»Und das sind die Folgen; er fühlt sich so gründlich bloßgestellt, daß er geht.«

Barthelasse schüttelte mit einer energischen Gebärde den Kopf.

»Gerade weil er sich nicht hinreichend bloßgestellt fühlt, deshalb geht er,« schrie er; »wenn er keinen Ausweg mehr gesehen hätte, wäre er bei uns geblieben.«

»Das ist eine Idee.«

»Und eine gute noch dazu.«

»Sei dem, wie ihm wolle, er geht,« sagte Friedrich, um eine unnütze Erörterung abzuschneiden.

»Nun gut,« rief Raphaëlla aus, »er wurde schließlich langweilig!«

»So fassest du das auf?« sagte Friedrich erstaunt.

»Soll man sich deshalb totgrämen? Er war so närrisch geworden, daß es kein Leben mehr mit ihm war.«

»Aber so liegt die Frage nicht,« sagte Friedrich, »es handelt sich vielmehr darum, zu wissen, ob wir ohne ihn weiterleben können.«

»Und wie das?« sagte Barthelasse.

»Wir werden ihn durch einen andern ersetzen,« sagte Raphaëlla, »es gibt nicht bloß einen Präsidenten in der Welt; ich habe schon daran gedacht.«

»Es gibt nicht viele so gute, wie der da,« sagte Barthelasse.

»Und wo sollen wir jenen andern finden?« fragte Friedrich.

»In der Kammer.«

»Es ist doch nicht Herr von Cheylus?«

»Allerdings, gerade er ist es, und deswegen habe ich ihn kommen lassen: ich habe ihm eine feine Geschichte vorgemacht, und wenn Adeline geht, nimmt er an.«

»Man wird uns zu Leibe gehen, und er wird uns nicht schützen können.«

»Warum sollte er es nicht können? Seinen Gegnern gegenüber ist man oft zuvorkommender als seinen Freunden gegenüber. Das ist der Grund, warum ich an Herrn von Cheylus gedacht habe, als ich einsah, daß es eines schönen Tags mit dem Puchotier nichts mehr sein werde, und deshalb habe ich ihn kommen lassen. Um euch in gute Stimmung zu versetzen, will ich beifügen, daß er sich mit zwölftausend Franken, anstatt mit sechsunddreißigtausend, die uns der Puchotier kostet, begnügt. Ich habe ihm gesagt, daß Adeline sich zurückzöge, weil wir jene Summe nicht mehr bezahlen könnten.«

»Mir ist Adeline für sechsunddreißigtausend Franken lieber als Cheylus für zwölftausend,« sagte Barthelasse.

»Es handelt sich nicht darum, was Ihnen lieber ist, sondern was möglich ist. Adeline ist tot, es lebe Cheylus!«

»Sind Sie gewiß, daß er so ganz tot ist?« unterbrach Barthelasse.

»Unglücklicherweise,« erwiderte Friedrich.

»Wollt ihr mich den Versuch machen lassen, sein Leben noch zu verlängern?« fragte Barthelasse.

»Reden Sie doch keine Dummheiten,« erwiderte Raphaëlla.

»Wie gesagt, wollt ihr, daß ich's versuche? Für euch ist es aus mit ihm, nicht wahr?«

»Gewiß.«

»Und das macht euch unwirsch: ihr würdet alle beide sehr froh sein, wenn er unser Präsident bliebe?«

»Weiß Gott!«

»Nun gut, laßt mich machen.«

»Was?«

»Ihr werdet sehen. Da es doch aus mit ihm ist, ist nichts zu befürchten, nicht wahr? Gelingt mir mein Streich, so bleibt er, schlägt er im Gegenteil fehl, so geht er darum nicht zweimal.«

Es entspann sich zwischen ihnen hierüber ein längeres Gespräch. Raphaëlla reizte die Wichtigthuerei Barthelasses, den sie für einen vollkommenen Dummkopf hielt, und dazu verzehrte sie die Neugier, daß er nicht sagen wollte, durch welches Mittel er Adeline dahin zu bringen hoffte, von seinem Rücktritt abzustehen.

»Sie werden schöne Dummheiten machen!« sagte sie bei seinem Weggehen.

»Gut, wir werden sehen.«

Er wollte auch Friedrich aus dem Wege zum Klub keine Aufklärungen geben.

»Da wir nichts aufs Spiel setzen, laßt mich machen.«

Unter diesen Umständen erübrigte für Friedrich nur, den Namen, welchen Adeline wissen wollte, in Erfahrung zu bringen; aber das gelang ihm nicht. War jener Spieler auf eine Einladungskarte hin, welche nach wie vor in Massen und fast überall verteilt wurden, in den Klub gekommen? Hatte ihn jemand eingeführt, ohne ihn, wie vorgeschrieben, in die Liste einzutragen? Jedenfalls konnte man es nicht feststellen. Auch begnügte sich Friedrich, als Adeline gegen ein Uhr kam, einfach zu erwidern, er hoffe, jenen Namen im Laufe des Abends zu erfahren.

Adeline war noch keine fünf Minuten in seinem Kabinett, als Barthelasse an die Thür klopfte und eintrat.

»Kann ich einige Worte mit Ihnen reden, Herr Präsident?«

Adeline wollte erwidern, daß er beschäftigt sei, aber er besann sich, indem er sich sagte, daß er Barthelasse, dessen Hartnäckigkeit er kannte, schneller angehört, als hinauskomplimentiert haben werde.

»Würden Sie mir erlauben, Herr Präsident,« sagte Barthelasse, sich setzend, »Sie zu fragen, ob das Gerücht, das man mir hinterbracht, begründet ist? Ist es wahr, daß Sie die Absicht haben, Ihren Rücktritt zu erklären?«

»Ja, das ist wahr.«

»Und warum? frage ich Sie ... wenn Sie es erlauben.«

»Weil hier Dinge vorgehen, die ein anständiger Mensch nicht mit ansehen kann.«

Barthelasse schlug seinen biedermännischsten, einschmeichelndsten Ton an: »Ich bin weit herumgekommen, Herr Präsident, und auf meinen Reisen habe ich einen Spruch gehört, der sich mir eingeprägt hat, der heißt: ›daß das Gewissen ein böses Tier ist, das der Mensch gegen sich selber hetzt‹. Sollten Sie vielleicht von dem häßlichen Tier gebissen worden sein? Das frage ich Sie.«

Die erste Regung Adelines war, Barthelasse die Thür zu weisen, aber er überlegte, daß eine Unterhaltung, die derart begann, ihn Dinge kennen zu lernen versprach, die für ihn ein Interesse hatten, und er hielt sich zurück, entschlossen, bis zu Ende zu hören.

»Sehen Sie, Herr Präsident,« fuhr Barthelasse fort, »man hat grundfalsche Ansichten über das Spiel. Was ist das Spiel? frage ich Sie. Eine Sache der Geschicklichkeit, nicht mehr. Diejenigen, welche geschickt sind, gewinnen, diejenigen, welche ungeschickt sind, verlieren. Ich, zum Beispiel, hätte ich, wenn ich nicht geschickt gewesen wäre, die zwei Millionen erworben, welche mein bescheidenes Vermögen ausmachen? das frage ich Sie. Was war ich in meiner Jugend? Ein armer Teufel von Ringkämpfer, ohne andre Zukunft als die, mir von Zeit zu Zeit eine Rippe oder eines schönen Tags das Genick brechen zu lassen und auf dem Stroh zu sterben. Ich habe mich umgesehen, ob ich nichts Bessres entdecken könnte. Ich ging viel ins Café und in die kleinen Klubs, das gehörte zum Gewerbe. Ich habe die Augen aufgemacht und habe gesehen, daß die im Spiel Gewinnenden diejenigen waren, welche Geschick hatten, welche die Karte eskamotieren konnten, um das Ding beim rechten Namen zu nennen. Da fragte ich mich, was denn eigentlich ein Dieb sei, und nachdem ich nachgedacht hatte, gab ich mir zur Antwort, daß ein Mann, welcher ohne Arbeit, ohne Mühe, ohne Vorstudien Geld erwirbt, ein Dieb sei und diesen Namen vollständig verdiene, daß dagegen derjenige, der dies Geld durch seine Geschicklichkeit, sein Gewerbe und seine Kunst erwerbe, niemals ein Dieb sein könne.«

Barthelasse machte eine Pause und suchte auf dem Gesichte seines Präsidenten die Wirkung, welche dieser Anfang hervorbrachte, zu lesen.

»Fahren Sie fort,« sagte Adeline.

Barthelasse, der bisher seine Worte sorgfältig abgewogen hatte, fühlte sich ermutigt und drückte sich nun freier und rascher aus.

»Ich war überzeugt, nicht irre zu gehen, und machte mich ans Werk. Während ich mein Handwerk als Ringkämpfer betrieb, bearbeitete ich jeden Abend auf dem Schleifsteine eines Augenarztes meine Finger, denn ich hatte, wie Sie sich wohl denken können, keine so zarten Finger, wie ein Klavierspieler, und nachts in meiner kleinen Kammer versuchte ich die Karte zu eskamotieren und noch dazu ohne Licht, denn das Schwierige dabei ist, es ohne Geräusch fertig zu bringen; das wissen Sie so gut wie ich. Man sieht nicht, wie die Karte verschwindet, man hört es, und in der Dunkelheit konnte ich mir nichts weismachen, meine Ohren merkten, was vorging. Zwei Jahre lang habe ich keine vier Stunden nachts geschlafen. Zum Schlusse belohnte der liebe Gott meine Standhaftigkeit: ich hörte mich nicht mehr. Das war gerade zur Zeit des Krimkrieges. Ich hatte ein wenig Geld zusammengescharrt und schiffte mich damit in Marseille auf einem Dampfer, der Offiziere überfuhr, nach Konstantinopel ein. Wir waren noch keine zwölf Stunden auf dem Meere, als man sich auch schon gründlich zu langweilen begann. Um sich zu zerstreuen, spielte man. Das war mein Debüt; ich kann, ohne mich zu rühmen, sagen, daß es glücklich verlief; die Offiziere hatten volle Börsen mit ins Feld genommen. In Konstantinopel gewann ich zehntausend Franken. Sogleich schiffte ich mich wieder nach Frankreich ein; da waren auch Offiziere, die als Rekonvaleszenten heimkehrten, an Bord. Wenn sie auch weniger Geld hatten, als ihre Kameraden, so hatten sie doch ein wenig ... das sie verloren. So habe ich zehn Reisen gemacht, und dadurch legte ich den Grund zu meinem kleinen Vermögen.«

»Wo soll das hinaus?« murmelte Adeline, der sich mit Gewalt zurückhielt, um nicht loszubrechen.

»Da hinaus: Ich nehme an, daß Sie hunderttausend Franken, Ihr ganzes Vermögen aufs Spiel setzen; Sie verlieren neunzigtausend; es bleiben Ihnen zehntausend – Sie setzen sie aufs Spiel. Sie spielen um das Glück Ihrer Familie, um Ihre Ehre. Sie sind mächtig erregt, nicht wahr? Sonst wären Sie ja kein guter Familienvater, und Sie sind einer. In diesem Augenblicke neigt sich eine kleine Fee zu Ihrem Ohr und sagt Ihnen: ›Du wirst dich mit einer Nadel stechen und dir ein wenig weh thun, aber du wirst die zehntausend Franken und die neunzigtausend, die du verloren, gewinnen und so deine Familie, deine Ehre retten, du wirst als ein guter Familienvater handeln.‹ Was würden Sie thun?«

Adeline konnte kaum mehr an sich halten, aber Barthelasse schloß ihm mit seinem freundlichsten Lächeln den Mund.

»Antworten Sie mir nicht. – Sie würden sich ein wenig weh thun, Sie würden sich stechen. Nun wohl, ertragen Sie den kleinen Stich, der, ich gebe es zu, unangenehm sein mag, und lassen Sie die kleine Fee, die ich bin, handeln. An sechs Monaten werden Sie drei- oder viermalhunderttausend Franken und in einem Jahre Ihre kleine Million gewonnen haben, womit Sie das Glück Ihrer Tochter, die ein so liebenswürdiges Mädchen ist, sicherstellen. Wie, was sagen Sie dazu?«

Adeline erstickte fast vor Unwillen.

»Sie haben Ihre Rolle als Fee schon begonnen?« sagte er.

»Bloß eine kleine Artigkeit, eine Zuvorkommenheit, um Ihnen zu zeigen, was man in diesem Genre leisten kann; aber es ist wirklich nicht der Mühe wert, davon zu reden, es soll noch besser kommen.«

»Und geschieht das im Einverständnisse mit Herrn von Mussidan?«

»Er thut nichts ohne mich, ich thue nichts ohne ihn.«

»Ah!«

Dieser Aufschrei verwirrte Barthelasse, welcher bisher den Unwillen Adelines für Verlegenheit gehalten hatte, die einer empfindet, dem es unangenehm ist, wenn man ihm offen von gewissen Dingen spricht. Auch hatte er vermieden, Adeline während des Schlusses seiner Rede anzusehen. Was bedeutete dieser Aufschrei? War der Präsident zornig?

»Schicken Sie mir Herrn von Mussidan,« sagte Adeline, »ihm will ich Antwort geben.«

»Aber ...«

»Schicken Sie mir Herrn von Mussidan.«

Barthelasse eilte recht beunruhigt hinaus. Friedrich war nicht weit.

»Nun?«

»Ich weiß nicht recht; im Anfang ging es gut, aber dann scheint er zornig geworden zu sein, er ist mir ein Rätsel, dieser Mann; übrigens will er sich mit Ihnen auseinandersetzen, er verlangt nach Ihnen.«

Friedrich trat in das Kabinett und fand Adeline mit ganz verzerrtem Gesichte.

»Der Elende hat alles gesagt,« schrie Adeline, die geballten Fäuste erhebend, »Sie, Sie, ein Mussidan, Sie haben aus mir einen Dieb gemacht! ...«

Friedrich stand einen Augenblick fassungslos, dann erholte er sich: »Dieb! Warum Dieb? Gibt es denn beim Spiel Diebe?«


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