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Siebenunddreißigstes Kapitel

Diese Art, unter Geltendmachung eines Rechts eine Teilung zu begehren, hatte Adeline zur Verzweiflung gebracht. Dieser Salzmann war wirklich unverschämt. Warum bloß zehntausend Franken und nicht das Ganze? Wenn er, Adeline, verloren hätte anstatt zu gewinnen, würde Salzmann ihm wohl den Vorschlag gemacht haben, einen Teil des Verlustes zu tragen?

Gewöhnlich konnte er niemand etwas abschlagen, aber dieses Mal hatte er geantwortet, wie es diesem Tropfe gebührte.

Zum Glück würde er bald von diesem da und von den andern seinesgleichen befreit sein, denn wenn er auch gerade heute abend, nachdem er seine Schuld an der Kasse bezahlt, seine Demission nicht gegeben hatte, war er nichtsdestoweniger entschlossen, es dennoch zu thun und den »Grand J« zu verlassen, sobald er es anstandshalber, ohne daß es nach einem Rückzug aussah, wie dies momentan der Fall gewesen wäre, ausführen konnte. Es war dies jetzt nur noch eine Sache von wenigen Tagen; die Partie von heute nacht würde schnell vergessen sein; dann wollte er dem »Grand J« den Rücken kehren, um nie wieder seine Treppe hinauszusteigen, weder diese noch die Treppe eines andern Klubs. Die Erfahrung, die er gemacht, genügte, er wollte niemals mehr eine Karte berühren.

Aber er täuschte sich, wenn er glaubte, daß man jene Partie schnell vergessen werde. Am nächsten Tage in der Kammer bekam er nur sein außerordentliches Glück zu hören; einer seiner Kollegen fragte ihn sogar allen Ernstes, ob es wahr sei, was man sich erzähle, daß er fünfmalhunderttausend Franken gewonnen habe. Adeline verwahrte sich aufs entschiedenste dagegen.

»Man spricht von nichts anderm!«

Und an den Blicken, mit denen man ihn verfolgte, sah Adeline, daß man sich in der That viel mehr mit ihm beschäftigte, als ihm lieb war.

Man zischelte sich ins Ohr, man schwieg, wenn er sich nahte; er fand, daß man wirklich ein zu großes Wundertier aus ihm machte. Als er zum erstenmal einen großen Gewinn gemacht hatte, hatten ihn seine Freunde damit aufgezogen; jetzt, schien es, scherzten sie nicht mehr, sondern sie entsetzten sich darüber.

Was war denn dabei so Entsetzliches, daß er nahezu neunzigtausend Franken gewonnen hatte? War das einer von jenen außerordentlichen Gewinnen, die Erstaunen erregen können?

Im Klub traf er wieder mit Salzmann zusammen, und er war starr, als er sah, wie dieser mit ihm verkehrte, als ob in der vergangenen Nacht zwischen ihnen nichts vorgefallen wäre.

»Ich bin Ihnen darum nicht böse, mein lieber Herr Präsident,« sagte der Amerikaner, »ich gebe selbst zu, daß ich an Ihrer Stelle wahrscheinlich die gleiche Antwort erteilt hätte wie Sie. Nur versteht es sich von selbst, daß wenn ich Ihnen jemals wieder ein derartiges Spiel überlasse, wir unsre Bedingungen vorher machen.«

Diese Worte waren zwar seltsam, aber der biedermännische und scherzhafte Ton, in dem sie vorgebracht wurden, benahm ihnen jede Zweideutigkeit. Adeline suchte dahinter also nichts andres, als was er zu verstehen meinte: die Absicht des Amerikaners, seinen ursprünglich ernst gemeinten Vorschlag, nachdem er nichts erreicht hatte, ins Scherzhafte zu ziehen. Allein drei Tage später ereignete sich ein Vorfall, bei dem er sich fragte, ob er sich nicht geirrt habe.

Es war abends, das Spiel war ziemlich belebt und Salzmann hatte gerade die Bank übernommen. Camy hatte die herbeigebrachten Karten gemischt, während Salzmann in gleichgültigem Tone sein: »Messieurs, faites votre jeu!« wiederholte.

Aber das Spiel ging nicht vorwärts, die Spieler schienen keine Lust zu haben, große Summen bei diesem neuen Bankhalter zu wagen.

In dem Augenblicke, wo der Croupier einem Spieler die Karten hinreichte, um abheben zu lassen, streckte ein andrer Spieler die Hand aus und nahm sie weg.

»Erlauben Sie,« sagte er.

Gerade in diesem Augenblicke trat Adeline an den Tisch heran und sah, wie der Spieler, welcher die Karten genommen hatte, sich anschickte, sie bedächtig zu mischen.

»Was soll das bedeuten?« fragte Salzmann, der einen kurzen Augenblick zu schwanken schien, ob er sich über dieses Zeichen des Mißtrauens ärgern oder sich darüber hinaussetzen solle.

Obgleich diese Frage herausfordernd klang, erwiderte der Spieler ruhig und gleichmütig: »Nichts andres, als das, was ich thue.«

Und mit der gleichen Ruhe fuhr er fort, die Karten zu mischen, daß sie zwischen seinen Fingern raschelten.

Salzmann war ein langer Schlingel von Amerikaner und so mager, als sei er in Weingeist aufbewahrt gewesen; auf dem erhöhten Sitze des Bankiers schien er noch größer zu sein. Er versuchte jenem Unverschämten einen verachtungsvollen Blick zuzuwerfen, aber der Unverschämte, obgleich ein ganz kleines und schmächtiges Kerlchen, ließ sich nicht einschüchtern, sondern hielt den Blick aus und gab ihn zurück.

»Suchen Sie Streit mit mir?« fragte Salzmann.

»Heißt man das Streit suchen, wenn man von seinem Rechte Gebrauch macht?«

»Meine Herren, meine Herren!« sagte Adeline, lebhaft dazwischen tretend.

»Fürchten Sie nichts, mein lieber Herr Präsident,« sagte Salzmann, »ich räume diesem Herrn das Feld.«

Und mit einer hochmütigen Gebärde, die mit seinen Worten gerade nicht im Einklang stand, erhob er sich von seinem Sessel.

»Auf diese Art wird die Sache keine ›Folge‹ haben,« sagte der Spieler, der ersichtlich den Kopf nicht verlor.

Bei dem Wortgefechte, das sich entspannen hatte und das er durch sein Dazwischentreten beendete, dachte Adeline nicht sogleich über jenes letzte Wort nach; erst später erinnerte er sich dessen und zog es in Erwägung.

»Die Sache wird keine ›Folge‹ haben.«

Was sollte das heißen? War das bloß ein Schrei des Triumphes, den ein Streithahn ausstieß, weil ihm keiner Widerpart zu halten wagte? Oder war es am Ende eine Anspielung auf die »Folge« der von ihm, Adeline, übernommenen Bank, welche Salzmann aufgegeben hatte?

Diese Vermutung erregte ihn aufs tiefste.

Wenn sie begründet war, dann verbarg sich dahinter eine Anschuldigung, die sich gegen ihn richtete.

Bei diesem Gedanken verging ihm Hören und Sehen: »Die Sache wird keine ›Folge‹ haben!« Man glaubte also, daß, da er damals als Nachfolger Salzmanns in die Bank eingetreten war, er dies wieder thun und gewinnen werde, wie er an jenem Abend gewonnen hatte, d. h. die Salzmann dadurch, daß man ihm die Karten mischte, zugefügte Beleidigung fiel auf ihn zurück.

Er schlief nicht in dieser Nacht und bis zum Morgen wälzte er diesen Gedanken in seinem hämmernden Gehirne hin und her.

Seitdem er in seinem Klub lebte, hatte er die Geschichten von Betrügereien zum Ueberdruß erzählen hören, hundertmal hatte er erlebt, daß sich der Verdacht an die Fersen von Personen hing, die, seiner Ansicht nach, die ehrbarsten Menschen waren. Aber nie war ihm der Gedanke gekommen, daß man eines Tags ihn selbst verdächtigen könnte.

Obgleich er stets friedliebend gewesen und das Alter diese seine Naturanlage nur noch mehr entwickelt hatte, war er doch nicht gewillt, diesem Verdachte, der sich bis an ihn heranwagte, eine so geringe Beachtung zu schenken, wie Salzmann es gethan hatte. Er harrte ungeduldig dem Morgen entgegen und machte sich, sobald die Stunde herangekommen war, wo er jemand im Klub anzutreffen hoffte, der ihm den Namen und die Adresse des ihm unbekannten Spielers nennen könnte, auf den Weg nach der Avenue de l'Opéra. Aber er traf gerade niemand, der ihm Auskunft erteilen konnte. Alle die, welche bei dem Auftritte in der Nacht zugegen gewesen, schliefen noch zu Hause, und das zu so früher Morgenstunde anwesende Dienstpersonal wußte von nichts. Ein Diener glaubte, daß jener Spieler ein Kreole sei, aber er wußte es nicht genau, und von wem er eingeführt worden, wußte er auch nicht. Gewiß war er Herrn von Mussidan, Herrn Maurin, Herrn Barthelasse oder Camy bekannt.

Adeline mußte sich noch gedulden. Zuerst kam Maurin an, aber wie gewöhnlich wußte er nichts, denn in diesem Klub, dessen Geschäftsführer er dem Namen nach war, wurde alles gemacht, ohne daß man ihn fragte, und Friedrich hatte ihn so unterdrückt und in Furcht gejagt, daß er sich klugerweise daran gewöhnt hatte, nichts zu sehen, nicht einmal, wenn ihn die Augen davon bissen. So lief er keine Gefahr, sich bloßzustellen: »Ich werde mich erkundigen, ich werde darüber nachdenken, zählen Sie auf mich,« das waren die drei einzigen Antworten, die er sich gestattete, wenn man ihn etwas fragte, und davon ging er nicht ab. Wo er sich erkundigte, das war bei Friedrich, und was dieser gesagt wissen wollte, das wiederholte er gewissenhaft, ohne etwas beizufügen, ohne etwas wegzulassen. So zog er sich auch bei Adeline aus der Sache: »Ich werde mich erkundigen, zählen Sie auf mich, Herr Präsident.«

Schließlich kam Friedrich; aber auch er kannte den Namen jenes Spielers nicht und wußte nicht, wer ihn eingeführt hatte.

Da wurde Adeline zornig.

Wie? Auf diese Art kamen die Leute in den »Grand J«? Was hatte denn das Komitee für einen Zweck? Was hatte der Präsident für einen Zweck? Wenn er zu nichts da war, so blieb ihm bloß übrig, sich zurückzuziehen. Ein derartig verwalteter Klub war nur ein gewöhnliches, jedermann zugängliches Spielhaus, er wollte es nicht mit seinem Namen decken ... nicht mehr länger.

Friedrich, der den Rücktritt des Präsidenten so sehr fürchtete, begann sich gerade in Sicherheit einzuwiegen und zu glauben, daß die Sequenz oder vielmehr der damit gemachte Gewinn ihnen Adeline für immer in die Hände geliefert habe. Er hatte seine Freude so kindlich an den Tag gelegt, der Puchotier, daß er diesmal gewiß gefaßt und gut gefaßt war, und gerade, als man hoffen durfte, daß niemals mehr die Rede davon sein werde, platzte er mit dieser Drohung seines Rücktritts heraus.

Glücklicherweise war Friedrich nicht der Mann, sich aus der Fassung bringen zu lassen, und sofort traf er seine Verteidigungsmaßregeln: Das komme ihm unerwartet, er habe noch niemand fragen, noch keine Nachforschungen halten können, aber er verspreche, den Namen jenes Spielers und derjenigen, die ihn eingeführt, noch bis heute abend in Erfahrung zu bringen; in einem Klub, wie im »Grand J«, kämen keine Unregelmäßigkeiten vor, er halte es für eine Ehrensache, den Beweis dafür zu liefern, in diesem besondern Falle, wie in allen übrigen.

So passend die Gelegenheit war, sich zurückzuziehen, trieb Adeline die Sache doch nicht aufs Aeußerste, denn er wollte wissen, was sich unter jener Anspielung auf die »Folge« verbarg, und wenn er seine Demission gab, beraubte er sich jeder Möglichkeit weiterer Nachforschung.

»Also auf heute abend,« sagte er, »vergessen Sie nicht, daß ich jenen Namen kennen muß.«

Da die Stunde, wo er sich in die Kammer begeben mußte, herannahte, ließ er es für den Augenblick dabei bewenden und ging ins Palais Bourbon.

Wenn ihn die an den vorhergehenden Tagen bekundete Art und Weise, wie man ihn betrachtete, betroffen hatte, so war dies jetzt unter den bewandten Umständen und bei der ihn quälenden Unruhe noch weit mehr der Fall.

Weshalb diese Neugierde?

Das konnte er doch selbst seine besten Freunde nicht fragen, und schon dadurch fand er sich eigentümlich beengt, verwirrt, als ob er sich schuldig fühle.

Ohne daß es gerade wie Flucht aussah, aber doch mit einem Gefühle der Erleichterung eilte er sofort in den Sitzungssaal, obgleich der Präsident seinen Sessel noch nicht eingenommen hatte; er setzte sich auf seinen Platz, wo er Bunou-Bunou zum Nachbar hatte.

Wie alle Tage saß dieser über sein Pult gebeugt da und schrieb, denn es war so seine Gewohnheit, mindestens eine Stunde vor Eröffnung der Sitzung zu kommen und seine Korrespondenz zu erledigen. Derart wurde er zu einem Gegenstand der Heiterkeit und Unterhaltung für das Tribünenpublikum, das sich die langen Minuten des Wartens damit verkürzte, in dem weiten, öden Halbkreise, wo nur hin und wieder ein Diener die Runde machte, den guten alten Herrn mit dem weißen Kopfe zu betrachten, der, unverwandt über seine Akten gebeugt, schrieb, schrieb, schrieb.

»Gerade schrieb ich an Sie,« sagte Bunou-Bunou, nachdem Adeline ihm die Hand gedrückt und sich zu ihm gesetzt hatte.

»Wie? Wo wir uns doch sehen mußten?«

»Es ist ein offizielles Schreiben; lesen Sie es, Sie werden sehen, um was es sich handelt.«

»Ihr Austritt aus dem Komitee des ›Grand J‹,« sagte Adeline heftig bewegt, »und warum?«

Bunou-Bunou schien verlegen.

»Ich bitte Sie,« drängte Adeline.

»Ich bin müde des Abends und habe das Bedürfnis, mich zeitig zur Ruhe zu legen, Sie begreifen daher ...«

Adeline fürchtete sich davor, es zu begreifen, aber er hatte doch den Mut, die Sache näher zu erörtern. So schrecklich die Wahrheit sein mochte, er mußte sie erfahren.

»Das ist Ihr Grund nicht,« sagte er beklommenen Herzens, »Ihr wahrer Grund. Ich appelliere an Ihre Freundschaft, sprechen Sie offen zu mir, wie zu einem ... Freunde.«

»Nun denn, ich habe bedenkliche Dinge erzählen hören, sehr bedenkliche Dinge.«

Adeline erbleichte.

»Sie wissen besser als ich, daß man in Paris den Klubs Spitznamen beizulegen pflegt, wie zum Beispiel: die ›Cremerie‹, die ›Mirlitons‹, der ›Grand J‹. Aber mit jenen Spitznamen sind zuweilen noch andre, ihre Eigenschaft andeutende verbunden. So gibt es angeblich einen, der ›Attika‹ genannt wird, einen andern, den man ›Böotien‹ nennt, und diese dem Griechischen Grèce, Grec hat die Nebenbedeutung von Falschspielerei, Falschspieler. Anm. d. Uebers. entlehnten Benennungen sind bezeichnende. Und das ist nicht alles; der ›Grand J‹ heißt angeblich ›l'Epire‹ (Epirus) oder in der Sprache der Boulevards ›Le Pire‹ (der Schlimmste). Da will ich mich denn lieber zurückziehen. Ich weiß nicht, ob ich mich irre, aber es scheint mir, als ob ich durch mein längeres Verbleiben meine Wiederwahl in Frage stellte. Was sollte ich machen, wenn ich nicht mehr Abgeordneter wäre? Ich wäre zu nichts mehr zu gebrauchen.«

Die Sache war zwar bedenklich, wie Bunou-Bunou sagte, allein doch nicht so sehr, als Adeline befürchtet hatte. Er atmete wieder auf.

»Sie haben recht,« sagte er, »und ich stimme Ihnen so vollständig bei, daß ich mich auch zurückziehen werde.«

»Sie wollten das thun?«

»Wir haben am Mittwoch Komiteesitzung; kommen Sie hin, wir wollen beide unsern Rücktritt gleichzeitig erklären.«

»Ah! mein lieber Freund,« rief Bunou-Bunou aus, »welche Freude bereiten Sie mir!«

Und auf der Tribüne sah man mit Erstaunen, wie der Abgeordnete mit den weißen Haaren seinem Nachbar in leidenschaftlicher Aufwallung die Hände drückte. Aber man hatte keine Zeit, diese rührende Scene näher zu erörtern; eine Flut von Abgeordneten überschwemmte den Saal, und draußen hörte man den Trommelschlag der salutierenden Wache.


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