Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einunddreißigstes Kapitel

Wenn Dantin einen Augenblick mit der Antwort gezögert hatte, so lag es daran, daß er nicht alles sagen wollte, was er gesehen hatte.

Außer der Unterschlagung der Spielmarken hatte er auch die betrügerische Füllung der Spielkasse entdeckt, und er überlegte einige Sekunden, ob er auch von dieser »Füllung« sprechen solle.

Er war in einem geschlossenen Klub, und obgleich er über die Stellung, die der Präsident des Klubs, den er jetzt überwachte, einnahm, nichts Näheres wußte, mußte er annehmen, daß dieser Präsident, wie so viele andre, Gehalt bezöge. Nun war es, wie bei allen übrigen, immer die Spielkasse, welche diesen Gehalt zahlte. Wie hätte er unter diesen Umständen von »betrügerischer Füllung« dieser Spielkasse einem Präsidenten gegenüber, der davon lebte, sprechen können? Hieß das nicht ihm ins Gesicht sagen: »Man bezahlt Sie mit gestohlenem Gelde.« Es ist nicht angenehm, dieses jemand zu sagen, und andrerseits wäre es, wenn man nur ein armer Teufel von Angestelltem der Polizeipräfektur ist, mehr als unklug, einem Freunde des Präfekten zu sagen: »Sie sind nichts weiter als ein ›Fresser‹.«

Es war schon stark genug, den Präsidenten des Klubs darauf aufmerksam zu machen, daß sein Croupier Spielmarken unterschlug, aber das ging noch an. Der Croupier konnte für sich selbst operieren und ohne mit jemand anderm als mit seinen Helfershelfern teilen zu müssen. Aber die Spielkasse, dazu hatte nicht der Croupier den Schlüssel, sondern der Geschäftsführer, und wenn jener sie »füllte«, konnte dies nur auf Geheiß des Geschäftsführers geschehen. Wenn sich dann Dantin an das Wort Adelines hielt: »Mein Geschäftsführer ist mein zweites Ich«, so galt es zweimal, sich's zu überlegen, bevor er die »Füllung« anzeigte.

Daher rührte sein Zögern und daher seine doppelsinnige Antwort, die niemand beschuldigte, aber weitere Fragen freistellte.

Mochte der Präsident, wenn er wirklich alles wissen wollte, doch weiter in ihn dringen, er würde auf präzis gestellte Fragen schon antworten.

Drang er nicht weiter in ihn, dann würde er auch nicht mehr sagen, insbesondre nichts über Dinge, die man ihn nicht fragte.

Und nicht nur war der Präsident nicht weiter in ihn gedrungen, sondern er hatte ihn sogar angewiesen, seine Ueberwachung des Spiels weiter fortzusetzen. Er ließ es sich gesagt sein. Man ist nicht lange Jahre Präfekturbeamter gewesen, ohne daß man gelernt hat, seine Zunge im Zaume zu halten.

Und so hatte er der Weisung Folge geleistet und sich wieder auf seinen Posten begeben, indem er die Miene des Provinzialen beibehielt.

»Nun, mein Herr,« fragte ihn Friedrich, »fangen Sie an, das Spiel zu verstehen?«

»Es kommt, aber die Schwierigkeit ist, sich zu entscheiden, ob man noch eine Karte verlangen soll oder nicht, ich würde mich nie entschließen können.«

»Dann spielen Sie nicht?«

»Morgen.«

»Was für ein Tölpel!« dachte Friedrich, indem er sich entfernte.

Der Tölpel fuhr fort, dem Spiele zuzusehen, aber da, während er sich im Kabinett des Präsidenten aufgehalten, die Zahl der Spieler sich vergrößert hatte, stand er nur noch in der dritten Reihe hinter den Spielern, die sich über den Tisch beugten, um ihren Einsatz zu überwachen. Der grüne Teppich war mit roten und weißen Marken und mit Täfelchen von Perlmutter übersät, und mitten darunter glänzten hier und dort einige Goldstücke, welche fieberhaft erregte Spieler, die nicht die Geduld gehabt, sie umzuwechseln, hingeworfen hatten. Da ihn die Gaunereien des Croupiers nicht mehr interessierten, weil er sie schon kannte, richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf die Spieler und auf die Bankhalter. Aber mit Ausnahme einer ganz kleinen »Poussage«, d. h. eines Täfelchens von fünfundzwanzig Louis, das hart an der Grenzlinie des Feldes saß und welchem ein Spieler einen geschickten Stoß gegeben hatte, als sein Feld gewann, sah er nichts Regelwidriges. Alle diese Spieler, Pointierende und Bankhalter spielten in tadelloser Weise.

Aber bei einem Polizisten ist es ähnlich wie bei einem Jäger auf dem Anstande, er braucht bloß abzuwarten; so wartete er denn.

Auf einmal entstand ein Lärm, und er sah einen Trupp in den Saal treten, dem sich aller Augen zuwandten. Inmitten der Gruppe befand sich ein großer, blonder junger Mann mit einer Brille, der ziemlich unbeholfen daherzukommen schien, der Prinz von Heinick, dem man einen solchen Empfang bereitete, wie dies oft bei denen, die hoch spielen, zu geschehen pflegt. Dantin, der ihn nicht kannte, bemerkte, daß er bald über, bald unter der Brille, die ihm ziemlich tief auf der Nase saß, wegsah.

Sofort trat der Prinz an den Tisch heran und legte, während zwei Spieler sich unterthänigst beeilten, Platz zu machen, ein Täfelchen von fünfundzwanzig Louis auf den Teppich. Er verlor. Er schob ein zweites hin, das er abermals verlor.

»Es ist genug,« sagte er, »ich habe kein Glück; wir wollen sehen, ob ich als Bankhalter auch so wenig Glück haben werde.«

Und aus den Blicken, die man auf ihn heftete, war leicht zu erraten, daß mehr als ein Spieler sich entschloß, sein Unglück sich zu nutze zu machen, wenn er nachher Bankhalter würde. Er hatte genug gewonnen, die Stunde der Vergeltung hatte geschlagen.

Ohne durch Beobachtung des Spiels zu studieren, wie der Wind wehte, setzte sich der Prinz in einen Winkel und wartete dort mit einer gleichgültigen und gelangweilten Miene bis zu dem Augenblicke, wo ihm die Bank übertragen wurde. Darauf drängte sich alles um den Tisch, und es erschien der erste Croupier, ein geborner Bearner, Namens Camy, der lange in Pau, in Biarritz, in Luchon fungiert hatte und nur dann in Thätigkeit trat, wenn es sich um bedeutende Banken oder um vornehme Spieler handelte.

Der Prinz von Heinick hatte, sobald er auf seinem Sessel saß, neue Karten verlangt, und der dienstthuende Lakai hatte dem Croupier drei Spiele gebracht. Dantin war es durch Drängen und geschicktes Durchschlüpfen schließlich gelungen, in die zweite Reihe hinter die sitzenden Spieler zu gelangen, und er war keine drei Schritte vom Bankhalter entfernt, so daß er die beste Gelegenheit hatte, ihn genau zu beobachten. In der vierten Reihe hinter ihm stand Adeline. Als man die Karten auf den Teppich legte, sah Dantin sie sich genau an und nahm wahr, daß die gestempelten Streifbänder unverletzt schienen. Der Croupier zerriß die Hüllen, mischte die Karten und gab sie an einen Spieler weiter, der sie ebenfalls mischte.

»Noch ein wenig, mein Herr, wenn Sie wollen,« sagte der Prinz mit einem liebenswürdigen Lächeln, »ich bin ein abergläubischer Mensch.« Es war ersichtlich, daß es sich nicht um Karten handelte, in welchen schon im voraus absichtlich Sequenzen zurecht gelegt waren; in dieser Richtung konnte Dantin ruhig sein. Er hatte nur noch die Hände dieses liebenswürdigen Bankhalters zu überwachen, um zu sehen, ob er, während er seinen Sessel an den Tisch heranrückte, nicht aus seiner rechten in seine linke Hand ein zum voraus hergerichtetes Häufchen (»Kataplasmen«, wenn das Häufchen hoch, ein »Blasenpflaster«, wenn es niedrig war) spazieren lassen werde. Aber alles ging mit vollkommener Regelmäßigkeit vor sich; es kam keine Unterschiebung vor.

Es hatte Spielmarken, Täfelchen, Goldstücke und selbst einige Banknoten auf den Teppich geregnet.

»Wie viel steht?« fragte der Prinz, sein schlechtes Gesicht damit bekundend.

»Achtundzwanzigtausend Franken,« erwiderte der Croupier, der mit einem geübten Blicke seinen Ueberschlag gemacht hatte.

»Rien ne va plus,« sagte der Prinz.

»Messieurs, rien ne va plus,« wiederholte Camy.

Der Prinz gab langsam, ohne ein Auge davon abzuwenden, die Karten; die beiden Felder nahmen Karten; er selbst gab sich keine, und als er die Augen seiner Karten zeigte, erhob sich ein Murmeln der Ueberraschung – er hatte auf vier gehalten und gewonnen; das rechte Feld hatte drei, das linke Baccarat.

»Welches Glück!«

Dieses Glück kühlte das Feuer der Spieler ab; die Stunde der Vergeltung schien noch nicht gekommen, und als der Prinz seine gewöhnliche Frage stellte: »Wie viel, ich bitte?« meldete der Croupier nur siebentausend Franken. Die Klugen hielten sich zurück, man mußte erst einmal sehen.

Sie sahen, daß sie unrecht gehabt hatten, zurückzuhalten, denn der Bankier verlor dieses Spiel, indem er eine Figur zog, durch die seine Drei nicht verbessert wurde.

Da faßten die Spieler wieder Hoffnung und der Croupier verkündete, daß zwanzigtausend Franken stünden; aber diesmal hatten sie sich wieder geirrt, denn der Bankier gewann; und was in diesem Falle bemerkenswert erschien, war, daß er ebenso kühn zu Werke ging wie das erste Mal. Der Prinz schlug auf die Sechs um und bekam eine Zwei; seine Gegner hatten der eine eine Sechs, der andre eine Sieben.

Wenn die Spieler bestürzt waren, so war Dantin seinerseits nicht weniger erstaunt. Das war seiner Ansicht nach zu schön, zu sicher; darunter stak irgend eine Spitzbüberei, aber welche? Er sah nichts, und so scharf er sein Ohr spitzte, er hörte nicht das leiseste Geräusch einer Eskamotage in diesem stillen Saale, wo die Beklemmung einen den Atem anhalten ließ. War er taub geworden? Er horchte, ob er das Ticken der Uhr in seiner Westentasche höre, und er vernahm es.

Die Bank ging ungefähr in derselben Weise so weiter; unter vier Spielen gewann der Bankier drei, und beinahe immer mit einer außerordentlichen Sicherheit beim Abziehen. Als man nach Beendigung der Bank dem Prinzen ein Körbchen brachte, um seinen Gewinn wegzutragen, war es mit Marken und Täfelchen fast angefüllt – es war ein heilloses Mißgeschick!

Während der Prinz den ganzen Plunder von Elfenbein und Perlmutter gegen richtige Banknoten einwechselte, versprach er mit seinem liebenswürdigen Lächeln einigen Spielern, daß er am nächsten Tage wiederkommen und ihnen Revanche geben werde.

Für heute abend war es genug. Der Klub leerte sich fast vollständig. Es war gewiß, daß sich nichts Bemerkenswertes mehr zutragen würde.

Adeline führte Dantin in sein Kabinett.

»Nun?« fragte er.

»Der Prinz ist ein Spitzbube.«

»Haben Sie etwas gesehen?«

»Nichts.«

»Wie können Sie dann eine derartige Anschuldigung gegen einen Mann in seiner Stellung, der von einem Mitgliede der großen Klubs bei uns eingeführt worden ist, vorbringen?«

»Sie fragen mich nach meiner Ansicht, und die sage ich Ihnen; wenn Sie wollen, daß ich nichts sage, schweige ich.«

»Aber was veranlaßt Sie, zu glauben ...?«

Dantin erklärte, wie er zur Annahme komme, daß der Prinz ein Spitzbube sei, indem er hauptsächlich auf die Sicherheit beim Abziehen Gewicht legte.

»Es sind keine Sequenzen,« schloß er seine Ausführungen, »es liegt auch sehr wahrscheinlich keine Eskamotierung vor, aber etwas ist nicht richtig, und ich werde nach diesem Etwas suchen, ich hoffe sogar, daß ich es entdecken werde, nur muß ich zuvörderst die Karten haben, mit welchen der Prinz gespielt hat.«

»Sie waren neu.«

Dantin widersprach nicht, aber er bestand darauf, die Karten zu untersuchen. Aber da es an diesem Abend unmöglich war, in dem Korbe mit Bestimmtheit diejenigen aufzufinden, welche der Prinz zum Spielen benutzt hatte, so wurde vereinbart, daß diese Untersuchung auf morgen vertagt werden solle. Diese Verzögerung ärgerte Adeline, der noch am selben Abende den Croupier Julien und den Spieldiener Theodor aus seinem Klub fortzujagen wünschte. Aber es blieb nichts übrig, als zu warten und den Prinzen nochmals Bank halten zu lassen, ohne bei irgend jemand Verdacht zu erregen, selbst auf die Gefahr hin, daß die Bank morgen noch unheilvoller werden würde als die, welche soeben zu Ende gegangen war.

So geschah es auch. Alles verlief genau wie am Abende vorher – die nämliche Art zu spielen und abzuziehen, der nämliche Gewinn, die nämliche Unmöglichkeit für Dantin, etwas zu entdecken.

Sobald die Bank zu Ende war, begab er sich, der Verabredung gemäß, in das Kabinett des Präsidenten, wo dieser fast gleichzeitig eintrat, von Bunou-Bunou begleitet, der ins Geheimnis gezogen war, um der Sache mehr Feierlichkeit zu verleihen. Sie brachten die Karten der letzten Bank mit. Voll Eifer nahm sie Dantin in Empfang, befühlte sie, untersuchte sie, alle mußten durch seine Hände gehen und vor seinen Augen Revue passieren.

»Ich kann nichts finden,« sagte er endlich.

»Sie sehen, mein Herr, mit welcher Leichtfertigkeit Sie den Prinzen verdächtigt haben,« sagte Adeline streng; »glücklicherweise wird niemand etwas davon erfahren.«

»Ich schwöre, daß er ein Falschspieler ist,« rief Dantin aus.

»Man muß nicht ohne Beweise anklagen,« sagte Bunou-Bunou in schulmeisterndem und nicht weniger strengem Tone als Adeline. »Wenn wir nicht so vorsichtig vorgegangen wären, in welche Lage würden Sie uns gebracht haben?«

Wie Adeline hatte sich Bunou-Bunou gegen den Gedanken aufgelehnt, daß der Prinz von Heinick ein Gauner sein könne, und wie Adeline betrachtete er den Polizeibeamten mit verächtlichem Bedauern.

»Diese Polizisten!«

Adeline hatte seinem Kollegen nicht nur von Dantins Verdacht gegen den Prinzen Mitteilung gemacht, sondern auch von der gegen Julien und Theodor gerichteten Anschuldigung. Und da sie nun die Entmutigung des Beamten sahen, fragten sich alle beide, ob die Anschuldigungen nicht ebensoviel wert seien als die Verdächtigungen.

Dantin war ein zu feiner Kopf, um nicht zu erraten, was in ihnen vorging, aber was sollte er sagen? Bunou-Bunous Bemerkung: »Man klagt nicht ohne Beweise an,« schloß ihm den Mund; dieser Beweis fehlte ihm.

»Da Ihre Beaufsichtigung zu keinem Ergebnis geführt hat, wenigstens bezüglich der Spieler,« sagte Adeline, »so denke ich, ist es überflüssig, daß Sie dieselbe fortsetzen; Sie brauchen morgen nicht wiederzukommen.«

»Sehr wohl, mein Herr,« sagte Dantin, »ich werde meinen Bericht erstatten.«

Er ging auf die Thüre zu; schon im Begriff, sie zu öffnen, kehrte er nochmals lebhaft um, indem er sich an die Stirne schlug: »Die Brille!« rief er aus.

Adeline und Bunou-Bunou sahen ihn an, als ob er einen Anfall von Verrücktheit habe.

»Solch eine Brille trägt man nicht umsonst. Auf diesen Karten sind Zeichen, die wir nicht mit bloßem Auge sehen, aber die er mit seiner Brille sieht. Haben Sie eine Lupe?«

»Wir haben keine bei uns,« sagte Bunou-Bunou mit spöttischer Miene.

»Die Optiker haben zu dieser Stunde geschlossen, aber glücklicherweise habe ich eine zu Hause, ich will sie holen: in zwanzig Minuten bin ich wieder hier; ich bitte Sie, meine Herren, gewähren Sie mir zwanzig Minuten.«

»Wir wollen es Ihnen nicht abschlagen,« sagte Adeline bereitwillig.


 << zurück weiter >>