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Sechsunddreißigstes Kapitel

So fest gegründet auch das Vertrauen in die Ehrenhaftigkeit Adelines war, durch diese Partie wurde es erschüttert.

In der Hitze des Spiels war man wohl über diese Beständigkeit des Glücks ein wenig erstaunt gewesen, aber man hatte keine Zeit gehabt, weiter darüber nachzudenken, galt es doch vor allem, das Verlorene wiederzugewinnen. Nicht im Eifer des Gefechts pflegt man zu überlegen, auf welche Art man Schläge erhalten hat, man ist nur darauf bedacht, sie zurückzugeben, die Ueberlegung kommt hinterdrein.

Später hatte man gefunden, daß dieses Glück wirklich sehr außergewöhnlich war und derart, daß keine noch so unantastbare Ehrenhaftigkeit vor Verdacht bewahren konnte.

Um einen Baccarattisch herum sitzen nur Spieler, die von der Erregung des Kampfes wie toll oder von Angst wie gelähmt und daher unfähig sind, etwas andres zu sehen, als was sie persönlich aufs engste angeht: die Augen ihres Feldes und des Feldes des Bankhalters. Außer diesen Mitspielern sind Zuschauer da, die Neugierigen; dann die, welche durch Stiche auf eine Karte alle Spiele notieren, in der Hoffnung eine glückliche Serie zu entdecken, die sie stundenlang manchmal bis zum Anbruch der Morgenröte verfolgen; auch die gewerbsmäßigen Falschspieler finden sich ein und diese üben eine fürchterliche Aufsicht aus, freilich nicht in der Absicht, die Betrügereien zu verhindern, sondern einfach in der, mit denjenigen, welche sie erwischen und anzeigen können, zu teilen; schließlich ist noch das Klubpersonal anwesend, in Sachen des Spiels sehr erfahrene Leute, die stets die Augen offen halten und manchmal auch den Mund aufthun, wenn das, was sie bemerken, von dem Gewohnten abweicht.

Die einzelnen Spiele Adelines waren notiert worden; dieselben bildeten die »Folge« zu denen Salzmanns und ergaben das nachstehende auffallende Gesamtresultat: 1. 4. 0. 6. 6. 0. 5. 9. – 0. 8. 0. 7. 6. 9. – 3. 2. 0. 3. 2. 0. 8. – 0. 3. 0. 1. 3. 7. 0. 2. – 0. 8. 0. 7. 6. 9 ...

Diese Reihe aufeinander folgender Zahlen war für einen Uneingeweihten absolut unverständlich, aber für einen »Freien« sah sie einer Sequenz erschrecklich ähnlich. Es war weder die sogenannte »Ueberrumpelung«, noch der »Donnerschlag«, noch die »Unüberwindliche«, noch das »Katzenpfötchen«, noch der »Luftsprung«, noch die »Toulousische«, noch die »Marseillerin«, noch irgend eine von denen, die in der Welt der Falschspieler als klassisch gelten und daher zu verbraucht sind, als daß man wagte, sie bei ein bißchen anständigen Leuten anzuwenden; aber sie ließ dennoch erkennen, daß sie von einer willfährigeren Hand, als es für gewöhnlich die Fortunas ist, präpariert worden war, von einer Hand, die vielleicht ein wenig plumper und verschwenderischer, als schlau, die Sieben, die Acht und die Neun dem Bankhalter hatte zukommen lassen; vielleicht war sie auch von dem Gedanken, das Zaudern beim Umschlage zu verhüten, geführt worden.

Für diejenigen, welche die Sequenz zugaben, entstand die Frage, ob ein Mann von Adelines Charakter und Ehrenhaftigkeit hatte einwilligen können, mit vorher zurecht gelegten Karten zu spielen.

Hierüber wurde gestritten, als man sich vom ersten Schrecken erholt hatte und den Sieg des Präsidenten des »Grand J« und die Art und Weise, wie er errungen wurde, zu erörtern begann.

Sobald das Wort »Sequenz« zum erstenmal ausgesprochen wurde, legten die, welche Adeline kannten, lebhaft Verwahrung ein. Warum nicht gar! In seinem Alter! In seiner Stellung! Und dann, an welchen genauen Merkmalen erkennt man denn eine Sequenz? So oft also ein Bankhalter mehr gewinnt, als den Mitspielern lieb ist, müssen es Sequenzen sein! Aber auf diese Einwendungen hatte es an Antworten nicht gefehlt und die, welche von Sequenzen sprachen, ließen sich nicht kurz abfertigen. In der Regel betrügt man nicht mit zwanzig Jahren, sondern später, wenn man allmählich dazu gebracht wird und nur noch diesen Ausweg hat. War denn Adelines Lage so gut, daß er nicht nötig hatte, achtzigtausend Franken zu gewinnen? Wenn ja, wie kam er dazu, die Stelle des Präsidenten eines Klubs mit einem aus der Spielkasse fließenden Gehalt anzunehmen?

Im übrigen war Adeline allen, welche jene Partie besprachen, unbekannt und sie hatten daher keinen Anlaß, ihn zu verteidigen. Daß ein Klubpräsident falsch gespielt hatte, das stand fest. Eine Sequenz war gleichfalls erwiesen. So viele Spieler, denen durch derartige Spitzbübereien, gegen die es fast unmöglich ist, sich zu schützen, einmal das Fell über die Ohren gezogen worden ist, sehen ja Sequenzen überall und häufiger, als sie wirklich vorkommen. Und dann war dieser Präsident nicht der erste beste, sein Name hatte einen guten Klang, er war Abgeordneter, man las diesen Namen in den Zeitungen und folglich gewannen die Anschuldigungen an Wahrscheinlichkeit, es war merkwürdig, es würde einen Skandal absetzen.

Es hatte ein Gerede gegeben, das sich sofort in der ganzen Pariser Gesellschaft der Klubs und der Boulevards verbreitete: »Der Präsident des ›Grand J‹ hat in seinem Klub eine Sequenz gespielt.«

»Ist er nicht Abgeordneter?«

»Richtig.«

»Ah! Das ist nicht übel!«

»Wenn gar die Präsidenten sich damit abgeben!«

Gerade diese doppelte Eigenschaft als Abgeordneter und als Präsident machte die Sache pikant; die Geschichten derjenigen Leute, die niemand kennt, sind für das Boulevard nicht interessant. Es kommt oft genug vor, daß bedeutende Summen gewonnen werden und noch dazu auf eine erstaunliche Art, ohne daß sich jemand außerhalb der Klubs, in denen jene Partieen gespielt wurden, darum kümmert, aber dann zählen die Betreffenden auf dem Boulevard nicht mit, sie existieren für dasselbe nicht, sie sind nicht vorhanden, wie der Engländer sagt. Adeline war aber wohl vorhanden: im Palais Bourbon, in den Journalen und folglich »war die Sache gar nicht übel«. Selbst diejenigen, welche die Achseln gezuckt hätten, wenn man ihnen von einer in einem der bekanntesten Pariser Klubs, unter den Augen von hundert Personen, von einem Fremden aus Peru oder Indien ins Werk gesetzten Sequenz erzählt hätte, spitzten die Ohren, als beigefügt wurde, der Schuldige sei ein Abgeordneter, eine bekannte Persönlichkeit. Das war ein Pariser Ereignis und sogleich, ohne daß man näher zusah, hieß es: »Das ist wohl möglich!« und sie erzählten die Geschichte weiter und machten auch andern diese Möglichkeit plausibel: »Ein Abgeordneter, das ist nicht übel!«

Neben denjenigen, die die Sache besprachen, weil sie merkwürdig war, beschäftigte sich aber damit noch eine andre Sorte von Leuten, die sich persönlich dafür interessierten, und zwar diejenige, welche vom Spiel und von den Spielern lebt, von den großen »Fressern« an, welche die Klubs unsicher machen, bis herunter zu den »Beitreibern«, den »Kostgängern« und den »Lockvögelstatisten«: Ah! Mit dem Abgeordneten Adeline war es dahin gekommen; es war gut, daß man das wußte. Man könnte aus ihm Vorteil ziehen und ihn ein bißchen schröpfen: man könnte ihn vorschicken, um die Erlaubnis zur Eröffnung von Klubs in den Bädern zu erpressen, wenn sich die Präfekten störrisch zeigten, auch dafür, um die von den Präfekten beabsichtigte Schließung der Klubs zu verhindern, könnte man ihn brauchen; dem einflußreichen Abgeordneten, dem Freunde des Ministers etwas abzuschlagen, würden die Präfekten nicht wagen. Und er selbst, der Abgeordnete, würde denen, die Geld von ihm erpressen wollten, nichts abzuschlagen wagen, »weil es dahin mit ihm gekommen war«. Gerade in diesen Kreisen frißt einer den andern auf.

Indessen spielte sich dieses ganze skandalöse Treiben hinter dem Rücken desjenigen ab, der die Veranlassung dazu war, ohne daß er etwas hörte oder nur ahnte, daß man sich in andrer Hinsicht mit ihm beschäftigen könne, als um ihm Glück zu wünschen und ihn vielleicht anzupumpen, wie ihm dies auch das erste Mal, als er eine beträchtliche Summe gewonnen hatte, begegnet war. In letzterer Beziehung war seine Voraussicht eingetroffen und sogar in höherem Maße, als er es sich einbildete.

Nach Beendigung seiner Bank hatte er den Klub nicht sogleich verlassen, um sich ruhig schlafen zu legen – wozu sich schlafen legen? Er war viel zu sehr erregt, zu verwirrt, zu unruhig, um einschlafen zu können, denn ohne ein leidenschaftlicher Spieler zu sein, spielte er doch wie ein solcher mit stockendem oder heftig pochendem Herzschlage, mit Anspannung aller Nerven, und er war in keiner Weise mit jenen mit einer soliden Verdauung gesegneten Spielern zu vergleichen, die am Morgen nach einer durchspielten Nacht, in der sie vom Gipfel des Glücks in den Abgrund des Elends geschleudert oder vom Elende auf den Gipfel des Glücks gehoben worden sind, ihren gewöhnlichen Beschäftigungen nachgehen, als ob sie bloß geträumt hätten. Nachdem er sich von den ihn Beglückwünschenden, die ihn zuerst umringten, losgemacht hatte, unternahm er einen Rundgang durch den Klub, um seiner Erregung Herr zu werden und sich selbst wiederzufinden.

Aber man hatte ihn nicht lange unbelästigt gelassen. Die sich zunächst in Scharen herangedrängt hatten, waren die Uneigennützigen gewesen, welche sich gern vom Erfolge blenden lassen und wie die Mücken in den Sonnenstrahlen tanzen; andre, die stets auf eine gute Gelegenheit lauern, hatten abgewartet, bis er allein war: »Mein lieber Herr Präsident ...«

Sie sind nicht selten in den Klubs, die Bettler, die hier ohne andre Hilfsquelle als diejenige einer zeitweise geschickt bewirkten Anleihe oder einer im Vorbeigehen ergatterten Spielmarke leben. Solange sie das Geld für ein Frühstück oder das Mittagessen in der Tasche haben, verlassen sie den Klub nicht. Alles, was man für den Abonnementspreis haben kann, genießen sie, aber sie gestatten sich niemals die Verschwendung einer Extraausgabe, und wären es nur einige Sous. Beim Gehen wagen sie kaum ordentlich aufzutreten, aus Furcht, daß ihre abgetretenen Sohlen ganz vom Oberleder losgehen könnten, aber sie sind nichtsdestoweniger am anspruchsvollsten, wenn sie sich von den Lakaien ihren Ueberzieher reichen lassen: »Bedienter«! Es erfüllt sie mit Stolz, dies Wort aus ihrem Munde kommen zu hören, und sie machen sich nichts aus dem verächtlichen Lächeln, mit dem sie bedient werden.

»Mein lieber Herr Präsident ...« Adeline kannte diese Einleitung zu gut, um nicht zu erraten, was für ein Lied folgen werde: »Fünfundzwanzig Louis, zehn Louis, ein Louis«. Es war schwer, es diesen armen Teufeln abzuschlagen, von denen mehrere ehemals ehrbare Namen trugen und die das Spiel in den Abgrund geschleudert hatte.

Diese Betteleien, die er bis zu einem gewissen Punkte erwartete, hatten ihn nicht überrascht, aber eine hatte ihn wirklich starr gemacht.

Als er gegen drei Uhr morgens im Begriffe war, nach Hause zu gehen, hatte er in der Vorhalle Salzmann getroffen, der sich ebenfalls anschickte, wegzugehen.

Sie hatten gleichzeitig ihre Ueberzieher angelegt und waren auch gleichzeitig die Treppe hinabgestiegen.

»Sie gehen nach Hause, Herr Präsident?« fragte Salzmann.

»Jawohl.«

»Schön, wenn Sie gestatten, gehen wir zusammen bis auf die Place de l'Opéra.«

Gewöhnlich ging Adeline zu Fuß nach Hause; nach dem Spiele beruhigte und erfrischte der Gang sein Blut; manchmal sogar schlug er, um sich besser zu erholen, einen weiteren Weg ein. Aber diesen nächtlichen Spaziergang machte er mit leichter Tasche und die Spitzbuben, welche ihn angehalten hätten, würden ihre Zeit verloren haben; an diesem Morgen da hatte er aber mehr als achtzigtausend Franken in Banknoten bei sich.

»Ich werde einen Wagen nehmen,« erwiderte er.

»Dann bitte ich, bevor wir uns trennen, um einen Augenblick Gehör, nur zwei Minuten.«

Die Stunde war eigentümlich gewählt, besonders da einige Augenblicke vorher die Unterhaltung in einer für sie beide bequemeren Weise hätte stattfinden können; indessen wollte ihm Adeline diese Bitte nicht abschlagen.

»Gern.«

Sie waren auf das in diesem Augenblicke vollständig verödete Trottoir der Avenue gelangt, während auf dem Fahrwege einige Wagen des Klubs auf das Herauskommen der Spieler warteten.

»Sie werden zugeben, mein lieber Herr Präsident,« sagte Salzmann, »daß derjenige, welcher Ihnen jene Bank verschaffte, eine glückliche Hand gehabt hat.«

»Das ist wahr.«

»Und Sie werden auch zugeben, denke ich, daß die Eingebung, welche ich gehabt habe, Ihnen meinen Platz zu überlassen, nicht weniger glücklich war, als die Hand ... für Sie wenigstens.«

Adeline, der die Wendung, welche diese seltsame Unterredung zu nehmen begann, kaum voraussah, horchte bei diesem Worte auf.

»Aber, wenn sie für Sie glücklich gewesen ist,« fuhr Salzmann fort, »war sie es für mich eigentlich nicht, denn wenn ich zu Ende gespielt hätte, würden sich jetzt die neunzigtausend Franken, die in Ihrer Tasche sind, in der meinigen befinden ... und offen gesagt, Sie wären mir gerade recht gekommen.«

»Jeder spielt auf seine Art,« gab Adeline, der vorbeugen wollte, zurück.

»Unzweifelhaft, aber man kann nur das spielen, was in den Karten drinnen ist, und in den meinigen war eine hübsche Serie. Indessen seien Sie versichert, daß ich Ihnen nicht den Vorschlag machen will, zu teilen, obgleich ich manchen kenne, der an meiner Stelle nicht so bescheiden wäre, ich möchte Sie bloß um fünfhundert Louis bitten, nicht als mein Anteil, sondern als Darlehen, da ich es nötig habe, äußerst nötig.«

Ohne daß Adeline Salzmann etwas nachtrug und ohne daß er etwas Nachteiliges über ihn wußte, mochte er ihn doch nicht leiden, und diese Art, die fünfhundert Louis zu verlangen, indem er sich an ihn, wie an einen Genossen wendete, bestärkte ihn in seiner Voreingenommenheit.

»Ich bedaure, Ihrem Wunsche nicht entsprechen zu können,« sagte er trocken, »allein es ist mir ganz unmöglich.«

»Indessen ...«

»Ganz unmöglich.«

Und Adeline trat auf einen der Wagen zu und öffnete den Schlag.

In diesem Augenblicke kamen mehrere Spieler aus dem Klub herunter und traten auf das Trottoir.

»Rue Tronchet,« sagte Adeline, den Schlag schließend.

Der Wagen fuhr fort: Salzmann war wie aus den Wolken gefallen. Unter den Blicken der Spieler, die er aus sich ruhen fühlte, hatte er weder etwas beifügen noch Adeline zurückhalten können.


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