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Dreißigstes Kapitel

Um neun Uhr kam Dantin in den »Grand J« und ließ durch einen Diener dem Präsidenten seinen Namen melden, in dem Augenblicke, als dieser mit seinem Geschäftsführer plauderte.

»Dantin,« rief Adeline mit gutgespielter Ueberraschung, »heißen Sie ihn heraufkommen.«

Dann sagte er, sich zu Friedrich wendend: »Ein Freund aus Nantes.«

Lebhaft ging er diesem Freunde entgegen, welchem man bei dieser Art der Einführung keine besondre Aufmerksamkeit schenkte, oder der zum mindesten keinerlei Neugierde erregte. Das war nicht der erste Provinziale aus Elbeuf oder aus Rouen oder anders woher, dem Adeline die Ehre, ihn in seinen Klub einzuführen, erwies; das Unglück war nur, daß diese wenig intelligenten Provinzialen sich selten von den Reizen des Baccarats verführen ließen, oder wenn sie einigemal einen Louis aus das rechte oder linke Feld zu setzen wagten, selten weiter spielten, wenn sie ihn verloren hatten. Die Goldstücke hatten in Elbeuf und in Rouen durchaus nicht den nämlichen Wert wie in Paris.

Zu dieser Stunde war fast niemand im Klub, nur einige solide Alte, die ruhig ihr Whist oder Ecarté spielten, aber der Baccarattisch war vereinsamt. Wenn Dantin so zeitig gekommen war, so verband er damit die Absicht, vor dem Spielen die Oertlichkeit in Augenschein zu nehmen.

Das that er mit Adeline, indem er aufs vollendetste den Provinzialen spielte, d. h. vorsichtig ein plumpes bäuerisches Benehmen vermied, aber sich in der Art eines Mannes, wie er ihn vorstellte, bewegte, der zum erstenmal in einen Pariser Klub kommt und sich natürlich neugierig rings umschaut, weil das, was er sieht, ihm gefällt, und ihn zugleich ein wenig überrascht.

Indessen mußte man die Zeit herumbringen; sie konnten nicht fortwährend durch die Säle hin und her spazieren, und andrerseits konnten doch zwei Freunde, die sich nach langer Trennung wiederfinden, sich nicht einander gegenüber setzen und Zeitung lesen.

»Würden Sie etwas dagegen einzuwenden haben, wenn wir einige Carambolagen machten?« fragte Dantin, »es handelt sich darum, die Stunde herankommen zu lassen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.«

Adeline zögerte einen kurzen Augenblick.

»Sei's drum,« sagte er zu sich.

Sie spielten Billard, bis die Ankunft der Spieler den Beginn des Spiels ermöglichte. Dann gingen sie nach dem Baccaratsaal hinüber. Aber mit den Spielern, die um den Tisch herum saßen, war nicht viel los und die herumstehenden Zuschauer waren nicht zahlreich. Dantin ließ sich auch über die Eigenschaft dieser Spieler nicht täuschen, die seiner Ansicht nach nur Lockvögel waren, welche die Aufgabe hatten, mit einigen bescheidenen Spielmarken von fünf Franken, die sie an der Kasse erhalten, das Spiel in Gang zu bringen. Auch der Bankhalter war ebenso sicher ein Lockvogel, der mit fünfzehn von der Kasse vorgeschossenen Louis Bank hielt. Wenn das Spiel ernst gewesen wäre, hätte es der Croupier in einer andern Weise betrieben.

Zwischen der ersten und zweiten Bank, die gehalten wurde, näherte sich Friedrich dem Freunde des Präsidenten, und sie wurden einander vorgestellt.

»Herr Dantin.«

»Herr Vicomte von Mussidan.«

»Der Herr spielt nicht?« fragte Friedrich, der es nicht verschmähte, selbst zum Spiele aufzufordern, und wäre es auch zum Schaden der Freunde seines Präsidenten.

»Wenn man spielen will, muß man es verstehen,« erwiderte Dantin offen und einfach, »und ich gestehe Ihnen, daß bei uns in Nantes sich das Baccarat noch nicht eingebürgert hat.«

»Indessen ...«

»Wenigstens in meiner Gesellschaft; es ist sogar das erste Mal, daß ich dieses Spiel spielen sehe.«

»Es ist sehr leicht.«

»Das scheint mir. Ich will nicht sagen, daß ich morgen keinen Versuch wage, aber heute sehe ich zu; allerhand verstehe ich noch nicht. Warum besorgt zum Beispiel der Bankier nicht das Auszahlen und Einziehen?«

»Der Croupier zahlt für den Bankier aus und zieht für ihn ein.«

»Ah! Das ist also der Croupier, der berühmte Croupier, welcher dem Bankier gegenüber sitzt; ich glaubte, daß man in den Klubs keine hätte.«

Friedrich entfernte sich und dachte bei sich, daß sein Präsident doch recht naive Freunde habe, was ihn übrigens nicht wunderte.

»Sie hatten nicht nötig, so sehr den Unwissenden zu spielen,« sagte Adeline, als Friedrich in einen andern Saal gegangen war, »der Vicomte von Mussidan ist der wahre Geschäftsführer des Klubs und ist mein zweites Ich.«

»Ich bitte um Entschuldigung, ich wußte das nicht.«

Und Dantin nahm sich vor, vorsichtig zu sein. Wenn der Geschäftsführer und der Präsident eins waren, mußte man auf seine Zunge acht haben. Er hatte den Auftrag erhalten, sich zur Verfügung des Herrn Constant Adeline, des Abgeordneten, des Präsidenten des »Grand J« zu stellen, um diesem die Spitzbübereien entdecken zu helfen, die in seinem Klub vorkamen. Aber welcher Art diese Spitzbübereien, wer die Spitzbuben seien, das wußte er nicht; er sollte sie entdecken. Wo sollte er sie suchen? Gerade weil er die Betrügereien der Falschspieler kannte, war er geneigt, in all denen, welche vom Spiel leben, Betrüger zu wittern: In den Spielern von Profession, den Croupiers, den Geschäftsführern. Das ist übrigens eine allen Polizisten gemeinsame Eigenheit, die ihre Stärke ausmacht; wenn sie weniger mißtrauisch wären, würden sie nichts entdecken. So wie er Adeline am Tage zuvor gesehen hatte, hielt er ihn für den ehrenhaftesten Menschen von der Welt, einen wackeren und würdigen Präsidenten, wie es nur einen geben kann. Aber wenn dieser brave Präsident eins war mit seinem Geschäftsführer, und zwar mit einem Vicomte als Geschäftsführer, d. h. mit einem heruntergekommenen Adligen, war die Sachlage eine andre, als er sie von vornherein betrachtet hatte, und die Klugheit gebot es, sich nicht zu weit vorzuwagen. Ein Abgeordneter ist eine einflußreiche Persönlichkeit und es ist albern, sich ihn zum Feinde zu machen, besonders wenn man nur seine Stellung hat, um davon zu leben, und sie daher zu behalten wünscht; und das war bei Dantin der Fall. In seiner Jugend hatte er mit Vorliebe Donquichotterieen getrieben, und so hatte er es mit fünfundvierzig Jahren nur zum einfachen Inspektor bei der das Spiel überwachenden Polizeimannschaft gebracht; er wollte seine Stellung mit keiner schlechteren vertauschen.

Unterdessen hatte das Spiel begonnen und Dantin verfolgte es mit der sichtlichen Neugierde eines Provinzialen, der zum erstenmal Baccarat spielen sieht. Von Zeit zu Zeit richtete er an Adeline in bescheidener Weise eine Frage, welche seine Nachbarn, wenn sie ein wenig horchten, hören konnten. Solch naive Fragen konnte bloß ein echter Provinziale stellen.

Aber während er von Zeit zu Zeit mit Adeline einige Worte wechselte, paßte er darum nicht minder auf, was am Tische, den er stets im Auge behielt, vorging, gleichzeitig den Bankier, die Spieler, den Croupier und die Diener beobachtend.

Nach und nach war die Partie lebhafter geworden, die Spieler hatten sich eingefunden und die elende kleine Bank von fünfzehn Louis von anfangs war auf hundert, zweihundert, fünfhundert Louis angewachsen.

Er hatte mit Adeline vereinbart, daß, was er auch immer sähe, er nichts sagen würde, denn Adeline wollte vor allem einen Eklat vermeiden, welcher sich am nächsten Tage in allen Pariser Klubs und vielleicht in ganz Paris herumspräche und den »Grand J« und den Ruf seines Präsidenten bloßstellen würde.

Indessen hatte Dantin, obgleich er dieser Weisung nachkam, hin und wieder Adeline angesehen, um seine Aufmerksamkeit auf den Spieltisch zu lenken, aber Adeline schien nicht zu verstehen; nicht wie einer, der nicht will, sondern der nicht sieht, was man ihm zeigt, und deshalb in die Unmöglichkeit versetzt ist, das zu verstehen, worauf man aufmerksam macht. Darauf hatte ihn Dantin beobachtet, indem er sich fragte, ob er mit einem absichtlich Blinden zu thun habe oder nicht, und ob wirklich der Präsident und der Geschäftsführer eins seien.

Er entfernte sich ein wenig vom Tische und sagte ganz leise zu Adeline, daß er gern zwei oder drei Minuten mit ihm sprechen möchte.

»Haben Sie etwas gesehen?« fragte Adeline ängstlich.

Dantin nickte.

Sie traten in das Kabinett des Präsidenten ein und Adeline schloß sorgfältig die Thüre.

»Was haben Sie gesehen? Sprechen sie leise.«

»Ich habe gesehen, daß der Croupier allein während der drei letzten Banken, die gehalten wurden, fünfundvierzig bis fünfzig Louis eskamotierte,« erwiderte Dantin lispelnd.

»Was wollen Sie damit sagen?« murmelte Adeline, »ich habe nichts gesehen.«

»Ich will Ihnen die Kniffe klar machen, und wenn Sie wieder im Saal sind, werden Sie, nachdem Sie nun aufmerksam gemacht sind, sie sich wiederholen sehen, falls es stets derselbe Croupier ist, denn es gelingt ihm zu schön, um das Ding nicht weiter zu treiben.«

»Aber das ist ja Julien!«

Dies wurde in überraschtem und aufgebrachtem Tone gesagt, der deutlich zeigte, daß Julien der letzte war, welchen Adeline für fähig gehalten hätte, das kleinste Goldstück zu unterschlagen.

»Sie liefern Ihren Croupiers die Kleidung,« fuhr Dantin fort, »und das ist eine weise Vorsicht, welche darthut, daß derjenige, welcher diese Kleidung vorgeschrieben hat, die Gewohnheiten dieser Herren kennt und weiß, wie leicht sie von dem Gelde, das ihnen durch die Finger geht, eine Spielmarke in ihre Rock- oder Westentasche gleiten lassen können; aber man hätte ihnen gleichzeitig eine am Halse fest anliegende Krawatte vorschreiben sollen.«

»Warum denn?«

»Um zu verhindern, daß sie Spielmarken in ihr Hemd hinuntergleiten lassen. Stellen Sie sich Juliens Hemdenkragen vor, er ist sehr lose, nicht wahr? Und auch die Krawatte ist lose. Was geschieht nun? Julien, der schwer zu atmen scheint, besonders im Augenblicke, wenn er auszahlt oder herausgibt, fährt mit seiner Hand in seinen Kragen, um ihn zu weiten, und läßt dabei durch diese Oeffnung eine Spielmarke hinuntergleiten, die an seinem Gürtel sitzen bleibt. Er hat diese Bewegung dreimal gemacht – macht drei Louis, zählen Sie sie. Und wie er das Bedürfnis hat, Atem zu holen, so hat er auch das, seine Nase zu schneuzen; zweimal hat er sein Taschentuch herausgezogen, aber zwei verschiedene Taschentücher, und jedesmal hat er eine Spielmarke aus seiner linken Hand, wo er sie verborgen hielt, in das Taschentuch wandern lassen, das er zusammenwickelte und wieder einsteckte – das macht zwei Louis.«

»Und niemand hat etwas gesehen,« rief Adeline aus, »weder der Geschäftsführer noch der Spielkommissär!«

Das war der Moment, wo es für Dantin galt, auf seiner Hut zu sein.

»Ich muß gestehen, daß sich dies alles sehr sauber und geschickt vollzog. Sehen Sie denn die Kunstgriffe eines guten Taschenspielers?«

»Fahren Sie fort.«

»Zweimal hat er Geld verlangt. Das erste Mal fand die Umwechselung ordnungsmäßig statt, man hat ihm den Betrag gebracht, den er hingab, aber das zweite Mal, als er scheinbar ein Täfelchen von fünfundzwanzig Louis über seine Schulter hinüberreichte, hatte er zwei in der Hand, und man hat ihm nur das Geld für das eine zurückgegeben – das macht fünfundzwanzig Louis.«

»Aber dann wäre ja Theodor sein Mitschuldiger?«

»Sicherlich: das kommt alle Tage vor. Kommen wir zum letzten Handgriffe. Sie haben gewiß zu seiner rechten Seite einen Spieler bemerkt, einen Herrn mit rotem Barte. Nun gut, den hat er zweimal ausbezahlt; er fing mit ihm an und hat ihm seinen Einsatz von fünf Louis gezahlt, dann hat er dem roten Herrn, als letztem der Reihe, nochmals die zehn Louis bezahlt, die dieser auf dem Tische liegen gelassen hatte – das macht fünfzehn Louis. Sie sehen, daß meine Rechnung stimmt, mindestens soweit ich etwas gesehen habe.«

Adeline war niedergeschmettert.

»In meinem Klub,« murmelte er, »in meinem Klub, bei mir, solche Elende!«

Dantin sagte sich, daß wenn der Präsident nicht mehr taugte als andre, die er kennen gelernt, er jedenfalls ein geschickter Schauspieler sei, der die Rolle des von Schmerz und Zorn Erregten bewunderungswürdig spielte. Es war aber, mochte dieser Schmerz nun ein ernsthafter sein oder nicht, jedenfalls klug, sich den Anschein zu geben, als nehme er ihn ernst.

»Mein Gott, Herr Präsident, erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß, was bei Ihnen vorkommt, in vielen andern Klubs ebenfalls geschieht. Ich sage nicht, daß es keine ehrlichen Croupiers gibt, das ist sehr wohl möglich, allein in unserm Gewerbe achtet man nicht auf die ehrlichen Leute, und ich kenne mehr als einen, der dem Ihrigen nichts nachgibt. Ist es doch ein schlimmes Ding, viel Geld ohne mögliche Kontrolle unter den Fingern zu haben, Geld, das in einem gewissen Momente anscheinend niemand gehört! Warum sollte der, der es verteilt, nicht einen Teil davon für sich behalten? Auf diese Art machen so viele Croupiers in zwei oder drei Jahren ein erstaunliches Vermögen, das sich nicht erklären läßt, weder aus ihren mehr als bescheidenen Bezügen, noch aus den Prozenten, die sie von der Spielkasse erhalten, noch aus den namhaften Trinkgeldern von zwanzig, fünfundzwanzig Louis, wie manche Bankhalter sie geben, ohne daß man weiß warum, es sei denn, um sich vielleicht dafür zu bedanken, daß man sie säuberlich bestohlen hat. Sie haben klein angefangen, als Kellner in Cafés zum größten Teil und als Lakaien; sie haben dem Spiel zugesehen und es mit seinen Kniffen und Pfiffen gelernt. Eines Tags treten sie an die Stelle eines fehlenden Croupiers und machen's dann ebenso, wie sie's ihre Vorgänger haben machen sehen. In zwei oder drei Jahren sind sie reich, vorausgesetzt, daß sie nicht selbst Spieler sind. Wenn Sie in Pau, in Biarritz einen mit einem Vollblut bespannten Phaethon vorbeisausen sehen, der allen Wagen, denen er begegnet, in die Quere kommt, brauchen Sie nicht zu fragen, wem er gehört: einem Croupier. Die schönsten Villen gehören den Croupiers, die schönsten Weiber den Croupiers. Wollen Sie, daß ich Ihnen in Paris welche nenne, die vor fünf Jahren das Geschirr spülten und heute Bildergalerieen im Werte von fünf- oder sechsmalhunderttausend Franken besitzen? Ein solches Vermögen wird nicht auf ehrliche Weise in einigen Jahren erworben, noch dazu, wenn man von »Fressern« umgeben ist, die einen großen Teil verschlingen; denn jene Spitzbübereien entgehen geriebenen Kerlen nicht und dann muß mit ihnen geteilt werden. Der rote Herr, welcher doppelt ausbezahlt wurde, war ein »Fresser«, und wenn ich Ihrem Croupier mitteilen wollte, was ich gesehen habe, dann seien Sie versichert, würde er mir einen Teil seines Gewinnes anbieten, um mir den Mund zu schließen. So sind die Croupiers rings von einer Bande umgeben, die ruhig, gefahrlos, ohne etwas zu arbeiten, von ihnen lebt. Gehen Sie einmal in das Café neben der Sankt Rochus-Kirche, wo die Croupiers zusammenkommen, und wenn Sie ihre Klagen hören, werden Sie sehen, wie man ihnen zusetzt.«

Adeline war niedergeschmettert.

»Ist das alles, was Sie gesehen haben?« fragte er endlich.

Dantin zögerte einen Augenblick.

»Ist das nicht genug?« sagte er ausweichend.

»Nun gut, kehren Sie in den Baccaratsaal zurück und beginnen Sie Ihre Ueberwachung von neuem, ich werde Ihnen gleich nachkommen.«


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