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Fünfunddreißigstes Kapitel

Mit Wechseln, die diskontiert, und Rechnungen, die eingezogen werden konnten, hatte Frau Adeline die fünfundzwanzigtausend Franken aufgebracht, welche mit den aus dem Spielgewinn herrührenden fünfunddreißigtausend Franken zusammen die sechzigtausend Franken zur Tilgung der Schuld an die Spielkasse ausmachten.

Adeline übergab, sobald er in Paris angekommen war, jene Wechsel seinem Bankier und ließ sich dann die Einkassierung der Rechnungen angelegen sein. Eine derselben, im Betrage von dreitausend und einigen hundert Franken, schuldete ein Tuchhändler in der Rue des deux Ecus, ein alter, sehr alter Kunde des Hauses, der zwar keine großen Geschäfte machte, aber so sicher war wie die Bank von Frankreich.

Adeline wußte so gewiß, daß er sich nur zu zeigen brauchte, um sein Geld zu erhalten, daß er ihn sich bis zuletzt aufgespart hatte. Er hörte schon im voraus den gewohnten Spruch des alten Tuchhändlers: »Ah! da ist Herr Adeline, wir wollen unsre kleine Rechnung berichtigen.« Diese Abrechnung fand dann jedesmal im Speisezimmer bei einem Glase Johannisbeerliqueur statt, wobei man durch ein Glasfenster die Ladendiener im Laden hantieren sah, wie sie hier die vom Fabrikanten gesandten Waren besichtigten, dort ein paar Meter Hosenstoff an einen kleinen Schneider verkauften. Das einzige Unangenehme bei jenen Besuchen war das obligate Vorlegen derjenigen Reste, die einen Fehler hatten. Diese wurden sorgfältig aufbewahrt und gaben zu einer andern nicht weniger ständigen Redensart als die von der »kleinen Rechnung« Veranlassung: »Ah! Herr Adeline, es wird nicht mehr wie ehemals gearbeitet.« Das gab Adeline, ohne sich zu sehr bitten zu lassen, zu.

Als er um die Ecke der Rue Jean Jacques Rousseau bog, sank der Abend nieder, aber es war noch nicht Nacht. Im Halbdunkel der engen Straße kam es ihm vor, als ob etwas vor dem Laden seines alten Kunden nicht so sei, als wie er es seit fünfundzwanzig Jahren gesehen hatte. Wo war denn die Auslage mit ihren Stücken Zeug in allen Farben? Noch einige Schritte weiter und er entdeckte, daß der Laden geschlossen und auf die Läden mit vier Oblaten ein Zettel Papier geklebt war: »Wegen Todesfalls geschlossen.« Da in der Rue des deux Ecus viele Tuchhändler wohnen, trat er bei einem andern seiner Kunden ein, der ihn vom Vorgefallenen in Kenntnis setzte. »Heute morgen ist er an einem Schlaganfalle gestorben, der Vater Huet, und seine Neffen, die aufeinander eifersüchtig sind, haben sofort die Siegel anlegen lassen.«

Die Enttäuschung brachte Adeline in Verwirrung, denn sie warf seinen ganzen Plan über den Haufen. Zu dieser Abendstunde waren die Häuser, wo er sich die ihm fehlende Summe hätte verschaffen können, geschlossen, und so fand er sich in die Unmöglichkeit versetzt, nach dem »Grand J« zu gehen, um seine Schuld zu bezahlen und auf seinem Büreau, das er dann niemals mehr betreten würde, seine Rücktrittserklärung zu unterzeichnen. Er blieb einen Augenblick auf der Straße stehen, unschlüssig, nach welcher Seite hin er sich wenden solle.

Zwar mußte er sich sagen, daß dies nur eine unbedeutende Verzögerung war, und daß es noch vollständig Zeit sei, morgen seinen Rücktritt zu erklären, aber doch war er unzufrieden, gereizt, wie dies vorkommt, wenn man durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall aufgehalten wird. Er hatte sein Schreiben und seine Abschiedsworte an Friedrich vorbereitet, und nun ärgerte es ihn, beides bei sich behalten zu müssen.

Gerade weil er an seinen Klub dachte, trugen ihn seine Füße mechanisch nach der Avenue de l'Opéra, und an der Thüre angekommen, ging er hinauf – schließlich konnte er auch hier ebensogut wie wo anders speisen.

Als Friedrich und Barthelasse ihn hereinkommen sahen, tauschten sie ein Lächeln der Erleichterung aus. Nicht ein Schreiben, welches seinen Rücktritt anzeigte und welches sie fast erwartet hatten, war es, er war es selbst; da er wiederkam, war noch nichts verloren.

Friedrich nahm ihn in Beschlag, um ihm zu erzählen, daß Julien und Theodor weggejagt seien.

»Ich habe die Gelegenheit benutzt, dem ganzen Personal einen heiligen Schrecken einzujagen; ich bin Ihnen gut dafür, daß das Beispiel heilsam sein wird; Sie werden sehen.«

Aber Adeline hörte ihn kaum an. Was lag ihm daran, wie es im »Grand J« in einigen Tagen herging?

Friedrich zog sich daher ziemlich außer Fassung gebracht zurück und teilte Barthelasse den ihm bereiteten schlimmen Empfang mit.

»Stets in der gleichen Laune,« sagte er, »er muß seine Rücktrittserklärung in der Tasche haben.«

»Wir müssen sie mit so vielen, Banknoten bedecken, daß sie nicht herauskommen kann. Ich will die Sequenz vorbereiten.«

»Wird er die Bank nehmen?«

»Wenn wir ihn dazu treiben.«

»Lassen Sie den Baron und Salzmann holen.«

Bei Tische vergaß Adeline seinen Verdruß und wurde munter; es war gerade der Tag der Einladungen und zahlreiche Gäste hatten sich eingefunden. Fremde, die er nie gesehen hatte, saßen unter den Stammgästen und Freunden. Das Essen war vorzüglich, man erzählte drollige Geschichten, und er ließ sich um so lieber gehen, als es das letzte Mal war, daß er als Präsident fungierte, und nach und nach wurden wieder die angenehmen Empfindungen wach, die er in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft gehabt, als er noch alles im schönsten Lichte sah und sich fragte, wie er bisher anderswo, als in einem Klub habe leben können.

Erst als das Spiel begann, wurde er nervös und unruhig.

»Nehmen Sie die Bank heute abend nicht, Herr Präsident?«

Jedesmal, wenn diese Frage in verlockendem und herzlichem Tone an ihn gerichtet wurde, geriet er außer sich. Es war für ihn schon genug, die Musik des Spiels zu hören, das Geräusch, welches die Spielmarken machten, das Rascheln der Karten, das gedämpfte Gemurmel der Spieler, welches von Zeit zu Zeit von dem ewigen: »Le jeu est fait. Rien ne va plus!« übertönt wurde. Man brauchte ihn auch noch in Versuchung zu führen und zu reizen!

Noch nie war er mit sechsundfünfzigtausend Franken in der Tasche in seinen Klub gekommen, und so oft er bei einer zufälligen Bewegung die Banknotenpäckchen streifte, empfand er ein eigentümliches Gefühl, das er sich nicht zu erklären vermochte. Wie viel andre an seiner Stelle, würden der Versuchung, das Glück auf die Probe zu stellen, nicht haben widerstehen können, denn jeder Spieler weiß, daß es ein wesentlicher Unterschied ist, mit einem kleinen und mit einem großen Einsatze sich am Spiel zu beteiligen. Mit einem kleinen ist man in seinen Bewegungen gehemmt und beinahe sicher zu verlieren, mit einem großen, welcher volle Freiheit der Bewegung gewährt, hat man im Gegenteil fast die Gewißheit zu gewinnen; man braucht nur mit Vorsicht und Ueberlegung zu spielen.

»Wie, Herr Präsident, halten Sie heute abend keine Bank?«

Es schien, als habe man sich das Wort gegeben, ihn in Versuchung zu führen.

Nein, gewiß nicht, er wolle keine Bank halten, erwiderte er rundweg.

Und doch?

Daß das Glück fast immer demjenigen lächelt, der zum erstenmal spielt, gilt das nicht auch in gleicher Weise für den, der zum letztenmal spielt? Nur wenn man es unablässig in Anspruch nimmt, wenn man es forcieren will, dann läßt es einen im Stiche.

Und wenn er spielte, würde es ganz gewiß das letzte Mal sein.

Aber diese ihm durch den Kopf gehenden Gedanken wies er wiederum weit von sich, indem er sich sagte, daß das die gewöhnlichen Sophistereien der Spieler sind, die dreißig, fünfzig Jahre lange »heute« ihre letzte Partie spielen und am nächsten Tage wieder anfangen, – aber diesmal sollte es bestimmt seine letzte sein.

Eins indessen gab ihm doch zu denken, das war der Tod seines Kunden in der Rue des deux Ecus. Warum mußte der Vater Huet gerade in dem Momente sterben, als er ihn bezahlen und die sechzigtausend der Kasse schuldigen Franken voll machen sollte? Lag darin nicht ein Wink der Vorsehung, war die Unmöglichkeit zu zahlen nicht ein Fingerzeig? Es gibt keinen Spieler, der nicht abergläubisch wäre, und wer oft am eifrigsten über den Aberglauben spottet, der verfällt ihm doch selbst, wenn er ihm in den Kram paßt. Und so kam auch Adeline dazu, sich einzureden, daß, wenn es ja auch Thorheit wäre, zu glauben, der Vater Huet sei eigens gestorben, damit er ans Spielen komme, dieser Todesfall doch wohl etwas bedeuten könnte.

Eines Versuchs war die Sache doch am Ende wert.

Es gab ein einfaches Mittel, diese Probe zu machen, das war, das Glück zu versuchen, nicht mit den sechsundfünfzigtausend Franken, nicht einmal mit einigen der Banknoten, die jene Summe bildeten, sondern einfach mit fünf Louis oder zehn Louis des Geldes, das er in seiner Börse hatte.

Dieses Auskunftsmittel hatte das Gute, daß er das Geld, welches ihm seine Frau übergeben hatte, unberührt lassen und dabei das Glück, wenn es sich ihm wirklich zuwendete, festhalten konnte. Nicht sowohl den Kühnen ist Fortuna hold, als vielmehr denen, welche sie zu fassen wissen, wenn sie ihnen nahe vorbeischwebt.

So das »Für und Wider« erwägend, irrte er durch die verschiedenen Räume des Klubs, blieb hier bei einem Billard stehen, um einigen Carambolagen seinen Beifall zu spenden, erteilte dort, wo in einem andern Zimmer ein guter Freund Ecarté spielte, einen guten Rat, nahm im Lesezimmer ein Abendblatt in die Hand, von dem er trotz der Mühe, die er sich gab, nicht zwei Zeilen las. Als aber jener Gedanke über den Tod des Vater Huet ihm durch den Kopf gefahren war, betrat er den Baccaratsaal, zog fünf Louis aus seiner Börse und setzte sie auf das Feld gerade vor sich, das linke.

Der Bankhalter gab die Karten und verlor zur Rechten, wie zur Linken.

Das war freilich ein recht kleiner Gewinn für Adeline, allein er war darüber so glücklich, wie wenn er anstatt hundert Franken tausend Louis gewonnen hätte, denn so unbedeutend er an sich war, welche Bedeutung gewann er nicht als Anzeichen, daß ihm das Glück lächle!

Er ließ die hundert Franken stehen und gewann noch einmal.

Wahrhaftig, der Tod des Vater Huet schien doch ein Wink der Vorsehung zu sein.

Er wollte Gewißheit haben. Er nahm die dreihundert Franken, die er eben gewonnen hatte, vom linken Felde hinweg und setzte sie auf das rechte. Links verlor, das rechte Feld gewann.

Friedrich, der sich in seiner Nähe hielt, trat ganz an ihn heran: »Was für ein Glück, Herr Präsident!«

Adeline ließ seine sechshundert Franken stehen und gewann abermals.

»Ist das nicht köstlich!« rief Friedrich aus.

»Ich an Stelle des Präsidenten,« sagte Barthelasse »würde mein Glück nicht mit solchen Lappalien vergeuden, ich würde es für meine Bank aufsparen.«

Nur wer niemals gespielt, wird Adelines Aufregung nicht begreifen. Viermal, Schlag auf Schlag hatte er das Schicksal befragt, und viermal hatte ihm das Orakel eine günstige Antwort erteilt; hiergegen war jeder Einwand hinfällig.

»Ich meine, Sie sollten die Bank nehmen,« sagte Herr von Cheylus, hinzutretend.

»Ich will den Präsidenten einschreiben,« sagte Barthelasse.

Adeline, der noch schwankte, ließ sich durch dieses Zureden von allen Seiten mehr und mehr bestricken.

Aber er wollte nicht nachgeben; der Gedanke an seine Frau hielt ihn zurück. Er lief von neuem durch die Säle und versuchte von neuem beim Billard, beim Ecarté und beim Schachspiel zu verweilen; dann kam er gegen seinen Willen, unbewußt in den Baccaratsaal zurück, wo während seiner Abwesenheit einige bedeutende Gewinne die Partie lebhafter gestaltet hatten.

Ein Stammgast des Klubs, ein Amerikaner Namens Salzmann, hatte gerade die Bank übernommen und Camy war im Begriff, drei Spiele Karten, die ihm gebracht worden waren, zu mischen.

»Messieurs, faites votre jeu.«

Aber die Einsätze waren gering. Ohne daß man Salzmann etwas Bestimmtes vorwerfen konnte, traute man ihm doch nicht recht, und er machte auch seine Sache als Bankhalter nicht hübsch; diejenigen, welche ihn kannten, hielten zurück, und es waren fast nur Fremde, die setzten.

Er gewann. Beim zweiten Spiele waren die Einsätze noch geringer, und doch schien es, als wolle er die mißtrauischen Spieler beruhigen, denn anstatt ein Päckchen Karten in die linke Hand zu nehmen und sie mit der rechten abzuziehen und auszuteilen, zog er vom Talon ab, das heißt, er nahm eine nach der andern, der vor ihm liegenden Karten weg, vor aller Augen, was die Eskamotierung, den »Spiegel« und andre Taschenspielerkunststücke unmöglich macht. Diesmal verlor er rechts und gewann links. Dann erhob er sich: »Meine Herren, ich gebe das Spiel an einen andern weiter.«

»Wer tritt als ›Folgender‹ ein?« fragte der Croupier.

Das war der entscheidende Augenblick. Adeline stand seitwärts am Tische, Friedrich zu seiner Linken, Herr von Cheylus zu seiner Rechten.

»Sie sind an der Reihe, Herr Präsident.«

»Vorwärts,« sagte Herr von Cheylus.

Adeline wunderte sich nicht über dieses Zureden seines Kollegen; er kannte aus Erfahrung das Interesse, das dieser daran hatte, ihn gewinnen zu sehen; übrigens war es nicht so sehr dieses Zureden, als die Antwort, die ihm das Orakel erteilt hatte, was ihn vorwärts trieb.

Er setzte sich in den Sessel.

»Messieurs, faites votre jeu.« Dieser Zuruf hatte einen andern Klang, als der von Salzmann; Adeline war ein feiner Bankhalter. Die Täfelchen, die Banknoten regneten auf den Teppich.

»Le jeu est fait. Rien ne va plus,« sagte Camy mit eintöniger Stimme.

Adeline, als Nachfolger Salzmanns behielt auch dessen Art und Weise abzuziehen bei; eine Karte nach der andern zog er vom Talon ab, um sie den Feldern und sich selbst zuzuteilen.

Das linke Feld nahm eine Karte und der Bankier gab sich eine Neun, da er zwei Fehlkarten hatte; er gewann zur Rechten, die Eins und Sechs, und zur Linken, die Vier, Sechs und Fünf hatte.

»Fortsetzung des Glücks,« murmelte Herr von Cheylus.

Das mußte wieder eingebracht werden; Spielmarken, Täfelchen, Banknoten fielen dicht und dichter. »Wieviel steht?« fragte Adeline.

»Siebzehntausend Franken.«

Adeline gab die Karten und schlug um, eine Neun und eine Fehlkarte.

Bei den Spielern machte sich eine Bewegung der Unschlüssigkeit geltend. Aber es galt mehr als je, den Verlust wieder einzubringen, der Wind würde sich schon drehen.

Aber er drehte sich nicht. Beim folgenden Spiele gewann der Bankhalter mit Acht, beim vierten mit Neun, beim fünften abermals dadurch, daß er umschlug, beim sechsten unter allgemeinem Erstaunen und der Bestürzung einer gewissen Anzahl von Spielern noch einmal mit einer Acht.

Als die Körbchen, in denen sich sein Gewinn angehäuft hatte, an die Kasse gebracht und derselbe nachgezählt wurde, fanden sich siebenundachzigtausend Franken.


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