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Zwanzigstes Kapitel.

Vierzehn Tage waren seit jenem Abende vergangen und noch lag Friedrich in den Phantasieen eines Nervenfiebers. Die Lampe leuchtete matt hinter dem Schirme hervor und ließ die bleichen, abgehärmten Züge einer greisen Frau erkennen, die mit gefalteten Händen zu Häupten seines Bettes wachte. Es war seine Mutter. Ihr gegenüber saß Auguste.

»Auf diese Nacht haben wir nun so gewartet,« sagte die Meisterin, ohne die sorgenvollen Blicke von ihrem Sohne abzuwenden, »nun wird sie bald um sein, und es rückt und rührt sich nicht mit ihm!«

»Er ist doch aber nicht mehr ganz so leblos als noch gestern Abend,« tröstete Auguste.

»Ja! es sieht so aus, als schliefe er nur!« gab die Mutter zu, bereit sich jeder auch der leisesten Hoffnung hinzugeben. Allein des Kranken Todtenblässe ließ keinen rechten Glauben in ihr aufkommen. »Dem Schlaf ist aber nicht zu trauen!« seufzte sie. »Er wird wohl so stille wegschlafen, wie sein Vater auch. Der Arme soll ja einmal nichts haben! –« Dabei legte sie die Hand tastend auf des Sohnes Stirn und Wangen, sah voll Zärtlichkeit zu ihm herab und sagte: »Und wie hat er mir zugeredet: hab' nur Geduld, Du sollst nicht mehr lang' allein sein, Du kommst zu mir auf die Pfarre und wir wirthschaften zusammen! Er hatte von je das beste Herz! – Das ist nun auch vorbei! Ich wollte nur, ich läge da, denn ich bin alt und bin mein Leben satt – aber wenn Einer so jung ist!« – Sie konnte nicht weiter sprechen, sondern bewegte langsam und schmerzlich den Kopf, als könne sie das Schicksal, das ihr drohte, nicht erfassen.

Auguste hatte ihr theilnehmend zugehört. »Ach,« seufzte sie bei den letzten Worten der Meisterin, »die Jugend thut's nicht. Mancher ist jung und wäre herzlich gern an seiner Stelle!«

»Gnädiges Fräulein, versündigen Sie sich nicht an Gott und Ihren Eltern!« warnte die Mutter.

»Eltern? Ich habe keine Eltern mehr, Frau Brand!«

»Aber doch Geschwister?«

»Die kenne ich fast nicht! Ich bin so allein in dieser Welt,« rief sie leise mit unterdrücktem Weinen, »so allein und verlassen, und so überflüssig, daß ich Gott danken wollte, läg' ich hier an Friedrich's Stelle. Um mich würde keine Thräne fließen, keine! Glauben Sie mir das! – Aber regt er sich nicht, Frau Brand?«

Beide Frauen bogen sich über ihn nieder, Auguste hatte sich getäuscht. Die Lethargie dauerte fort, und nachdem das Fräulein der Mutter geholfen hatte, die Kissen des Kranken zu ordnen und sein wirres Haar von seinen heißen Schläfen zurückzuschlagen, herrschte ein tiefes Schweigen in dem Zimmer.

Draußen begann das erste Grau des Tages aufzudämmern, die Vögel erwachten und zwitscherten ihm entgegen. Das machte die Traurigkeit und Angst noch lastender in der Krankenstube, denn die Natur übt ihren Einfluß auf uns aus, auch, ohne daß wir uns Rechenschaft davon zu geben wissen. Wenn ein Menschenleben seinem Ende zusinkt, scheint der Tagesanbruch uns wie bittrer, kalter Hohn. Auguste saß traurig und in sich versunken da, der Mutter Blicke wurden immer ängstlicher, je mehr die wachsende Tageshelle sie die veränderten Züge ihres Sohnes unterscheiden ließ; aber so sehr sie auch mit ihm beschäftigt war, konnte sie sich nicht erwehren, auch an das Fräulein und an dessen Kümmerniß zu denken, denn Auguste hatte das ganze Herz der Meisterin gewonnen. Frau Brand hatte sich ihr seit der Stunde ihrer Ankunft auf dem Schlosse nicht so fremd gefühlt als Cornelien und dem Baron gegenüber, und mit richtigem Tacte empfand sie es, daß Auguste sich nicht herabzustimmen brauchte, um ihr wohlthuend zu werden. Mitleidig von Natur hatte sie schnell Augustens stillen Gram bemerkt. Jetzt hielt sie sich nicht mehr und mit scheuer Zurückhaltung sagte sie: »Sie sind so gut zu meinem Fritz und schonen sich selber nicht bei Tag und Nacht. Es kann mir leid thun, daß ich nur so gering bin; aber Ihnen drückt auch Etwas das Herz ab, das kann ein Blinder sehen!«

Als löse das einfache Wort alle Schmerzen in ihrer Brust, so plötzlich und so heftig stürzten Augustens Thränen hervor. Sie preßte ihr Tuch gegen das Gesicht und trat an's Fenster. Die Meisterin folgte ihr. Sie wußte sich selbst nicht zu rathen und wollte doch so gern helfen. Unschlüssig, was sie thun solle, legte sie die Hand leise auf Augustens Schulter, streichelte sie sanft, wie man einem Kinde liebkost, und fragte leise: »Sie weinen wohl um ihn, und waren ihm wohl gut?«

Auguste richtete sich empor. Das liebevolle, mütterliche Wesen ergriff und rührte sie, dennoch erschrak sie vor dem Irrthum der Meisterin, und schnell gefaßt entgegnete sie: »Ach, Sterben ist noch nicht das Schlimmste! aber verlassen und verrathen werden, das ist's, das ist es! – Ich war Braut und – das ist nun vorbei!« stieß sie mit Ueberwindung hervor.

Damit ging sie an das Krankenbett zurück, dem Gespräche ein Ende zu machen. Auch die Meisterin setzte sich wieder zu dem Sohne hin; indeß ihre Gedanken waren wie verwirrt. Daß man um etwas Anderes weinen könne, als um ihn, däuchte ihr unmöglich, daß Auguste, die so treu mit ihr bei Friedrich wachte, ihn liebe und um ihn verzweifle, hatte ihr so natürlich geschienen. Friedrich wollte ja immer nur eine gebildete Frau. Warum liebte sie ihn denn nicht? warum einen Andern? »Ein Mädchen sitzen lassen! das hätte der Fritz nicht gethan!« sagte sie laut im Selbstgespräch, »denn der ist treu wie Gold!«

Auguste sah sie verwundert an, aber in dem Momente athmete der Kranke tief und langsam, und schlug matt die Augen auf. Sein Blick fiel auf Auguste, er schien sie zu erkennen, denn er hob mühsam die Hand empor, als wolle er sie ihr reichen; indeß die Kraft versagte ihm, und ohne zu der Mutter aufzuschauen, die sich über ihn herabneigte, schloß er die Augen wieder. Es war das erste Zeichen von Bewußtsein, das er seit dem Beginne seiner Krankheit gegeben hatte, und außer sich vor Freude, fiel die Meisterin dem Fräulein um den Hals.

Von dieser Stunde begann die Besserung, obschon sie nur sehr langsam vorwärts schritt. Die Spannung und Sorge der Schloßbewohner ließen allmählich nach, das Leben kam wieder in seinen gewohnten Gang zurück, und die Anwesenheit der Feldheim'schen Familie erwies sich bald als ein Gewinn.

Die Stille des Pfarrhauses verwandelte sich in das lustigste Treiben. Die Eltern waren froh, den Kindern die Freuden des Landlebens auf einem deutschen Dorfe zu bereiten, von denen sie ihnen in Italien so oft erzählt, und die jetzt vierzehnjährige hellblonde Agnes schien recht eigentlich in diese Umgebung hineinzupassen. Bei dem Wanderleben des Vaters hatte das junge Mädchen den Reiz einer festbegründeten Häuslichkeit nicht kennen lernen, so schön sie den Segen eines glücklichen Familienkreises auch genossen. Alles war auf den Augenblick und das nächste Bedürfniß, Alles auf einen schnellen und leichten Ortswechsel berechnet gewesen, und mit leichtem Sinn hatte der Vater darauf gedrungen, jeden Ueberfluß fern zu halten, jedes Entbehrlichgewordene schenkend von sich zu thun, um sich niemals durch hindernde Habe in seinen Plänen gehemmt zu fühlen. Eigene Möbel, eigener Heerd hatten ihm als Fesseln gegolten, frei wie der Vogel, hatte er sich in der Welt umherbewegt, seit er das Vaterhaus verlassen.

Nun aber in dessen stille Umfriedung zurückgekehrt, rührte ihn das Unveränderte desselben um so mehr, und mit andächtiger Lust hörte Agnes zu, wie der Großvater in diesem Lehnstuhle gesessen, wie die Großmutter dort an dem kleinen Nähpult die Ausstattung des Knaben genäht, als er in die Stadt geschickt ward, die Kunstschule zu besuchen. Noch lagen in dem Arbeitskästchen die Bilder, welche der dreijährige Knabe nachzuzeichnen pflegte, noch stand der große Stock des Großvaters hinter der hohen englischen Uhr, dem Prachtstück des Hauses, das der verstorbene Baron von Heidenbruck dem Pastor zu seinem fünfzigjährigen Jubiläum verehrt; und von der Uhr bis zu dem kleinsten Hausrath war Alles hier ein Heiligthum, eine Reliquie für Feldheim sowohl als für die Seinen.

Die kinderlose Pfarrerin aber fühlte sich wieder jung, wenn sie mit Agnes die Plätze besuchte, an denen sie den Maler, den Nachgebornen der Familie, als kleines Kind behütet, sie stand mit seligem Lächeln hinter dem Mädchen, wenn es mit Luft die kleinen altmodischen Geschmeide oder gar das verblichene Brautkleid der Tante anversuchte, und dankbar gerührt für so viel Liebe, fühlten sich Frau Feldheim und Agnes wie Töchter zu der Pfarrerin gezogen, deren einsames, stilles Leben ihr schon seit Jahren eine matronenhafte Haltung angeeignet hatte. Vom Pfarrer bis hinab zum jüngsten Knaben Feldheim's war Alles voll Behagen, voller Liebe unter dem bescheidenen Dache, und schon nach wenig Tagen hatte auch Corneliens Verhältniß zu den Gästen des Pfarrers eine Bedeutung für sie gewonnen, die Zufriedenheit der Gatten und der Kinder ihr wohlgethan und sie ihr werth gemacht. Die sichtliche Verehrung, mit welcher Feldheim und seine Frau der Gräfin anhingen, war ein Grund geworden, sie und Cornelie noch schneller zu einander zu führen, und es verging bald kein Tag, an dem sie sich nicht sahen, an dem Cornelie nicht eine Stunde in dem Dachstübchen verweilte, das Feldheim sich zum Atelier erkohren, weil er dort als Kind gewohnt.

Eines Abends, als das Fräulein zu ihm eintrat, hatte er Pinsel und Palette schon fortgelegt, und sah, die Frau im Arme haltend, zu dem geöffneten kleinen Fensterchen in's Dorf hinaus. »Ich sprach in diesem Augenblicke von Ihnen!« sagte er, nachdem er sie willkommen geheißen hatte. »Sie sollten die Gräfin überreden, einen Sommer hier mit Ihnen zu verleben!«

»Wie sehr wünsche ich das selbst!« entgegnete Cornelie, »aber so oft wir sie darum gebeten haben, hat sie es abgelehnt. Noch in diesem Jahre, als ihr Georg die Hoffnung aussprach, sie vor seiner Abreise aus dem Vaterhause wiederzusehen, hat sie versichert, nicht kommen zu können!«

Feldheim sann eine Weile nach, dann rief er: »Ich kenne Sie noch nicht lange, aber mich dünkt, ich kenne Sie gut. Man darf ein offen Wort zu Ihnen sprechen!«

»Unbedenklich!« entgegnete Cornelie.

»Nun denn! so gestehe ich Ihnen ehrlich, ich glaube, die Gräfin sehnt sich hieher, aber sie fürchtet die Rückkehr in das Vaterhaus!«

Cornelie schien betroffen, Frau Feldheim kam ihr zur Hülfe. »Die Gräfin ist so unglücklich,« sagte sie, »daß ihr die Erinnerung an ihre Jugend wehe thun würde, und –«

»Nein!« fiel ihr der Maler in's Wort, »es muß einmal gesagt sein zu einem Wesen, das der armen Helene Schicksal liebevoll im Herzen trägt; nicht die Erinnerung an ihre Jugend ist es, die sie fürchtet, sie scheut die Stille des hiesigen Lebens, weil sie die Einkehr in sich selber scheut.«

Cornelie, von der Schwere dieser Worte getroffen, schloß die Augen mit der Hand. »Und ich habe sie so sehr geliebt!« rief sie aus.

»Thun Sie das, thun Sie das auch jetzt!« bat Frau Feldheim, »denn die arme Gräfin hat es nöthig!«

»Wir sind uns fremd geworden!« klagte Cornelie. »Als Erich in Italien war, hatte sie eine Leidenschaft für einen Maler gefaßt. Damals sprach sie mir noch davon in ihren Briefen, und schilderte mir den Zustand ihres Herzens. Ob die Sorge, die ich um sie hegte, ob meine Begriffe von der Heiligkeit der Ehe, die ich ihr nicht verhehlen konnte, sie dann bewogen haben, gegen mich zu schweigen, weiß ich nicht – – – dann glaubte ich –« sie hielt inne – »ich hatte mich selbst verloren und sie fast vergessen!« rief sie im Tone schmerzlicher Selbstanklage.

»Ich weiß das!« sagte Feldheim, »meine Schwester hat mir davon gesagt. Wohl Ihnen, daß Sie sich zurück in's Leben finden. Ihr tüchtiger Kopf ist auch zu gut für Weltentfremdung. Sie hatten es doch nur mit sich allein zu thun, die arme Gräfin aber ist, seit Camillo sich mit einer reichen russischen Prinzeß verheirathete, in die Hände eines wahren Dämons gefallen, der seine Gründe hat, sie fest zu halten.«

»Aber der Graf?« fragte Cornelie beängstigt, – »läßt denn der Graf sie schutzlos?«

Der Maler zuckte die Schultern. »Ihre Schwester hat mir selbst gesagt, sie habe einst von dem Grafen volle Freiheit für ihr Handeln gefordert und er habe sie ihr mit seinem Wort verbürgt. Er läßt sie gewähren. Die Gräfin trägt leider davon auch ganz allein die Schuld!«

»Ach! rechtet nicht! rechtet nicht vor solchem Elend!« rief Cornelie und brach in Thränen aus. »Sagt mir, Ihr, die Ihr Menschen seid, was treibt, was thut Helene?«

Feldheim antwortete nicht gleich, schien zu überlegen und sprach endlich: »Geben Sie mir Ihr Wort zu schweigen, so sollen Sie es wissen!«

Cornelie reichte ihm die Hand, er nahm sie und sagte: »Die Gräfin malt von früh bis spät, um mit dem Ertrage ihrer Arbeit die immer neuen Schulden jenes Elenden zu decken, so weit es möglich ist! Er selber hat einen verschwiegenen Mittelsmann gefunden, der die Gemälde außerhalb verhandelt! Im Saale Ihres Herrn Vaters hängt ein solches Bild!«

»In unserm Saale?« fragte Cornelie mit schmerzlichem Erstaunen.

»Das Fest der Madonna von Piedi Grotta« –

»Ist von Agnello!« – fiel ihm Cornelie in's Wort.

Feldheim schüttelte verneinend das Haupt. »Es lebt in ganz Italien kein Maler dieses Namens, alle Werke, welche unter demselben seit drei Jahren Aufsehen in der Kunstwelt machten, sind Arbeiten der Frau Gräfin.«

»Aber die Berichte der Journale über Agnello's zurückgezogene Lebensweise im Gebirge, über seine Anonymität und seine einsamen Reisen in fernen Zonen – –«

»Sie sind offenbar erfunden, der Gräfin freie Hand zu lassen!«

Cornelie fühlte sich wie von grellem Licht geblendet, nicht fähig die Zustände zu übersehen; aber das Elend ihrer einzigen Schwester starrte ihr wie ein bodenloser Abgrund entgegen.

»Und das Alles geschah! sie rang mit aller Noth des Lebens!« rief sie endlich aus, »sie arbeitete Tag und Nacht und ich, ich dachte nur an mich und an mein Seelenheil!«

Sie weinte bitterlich. Als sie sich beruhigt hatte, reichte sie den Freunden die Hände und bat: »Sagt mir, was soll ich thun?«

»Nach Neapel gehen, da die Gräfin es ablehnte hieher zu kommen,« meinte Feldheim.

Cornelie horchte auf, der Gedanke traf sie und schien in ihr eine Reihe von Vorstellungen zu erwecken. »Das gab Ihnen Gott ein!« rief sie aus; – »Sie werden uns Beide erretten!« und sich kurz verabschiedend, entfernte sie sich gleich darauf.

Sie war still und nachdenkend den ganzen Abend; als der Baron zur Ruhe gegangen war, ließ sie sich Schreibgeräthe in den Saal bringen, setzte sich vor dem Bilde ihrer Schwester nieder und schrieb fast bis zum Morgen. Früh als der tägliche Bote in das nächste Städtchen ging, nahm er zwei Briefe für die Gräfin und für Plessen mit. Man konnte sie als Bekenntnisse bezeichnen. Der Brief an Plessen lautete:

»Je näher der Tag unserer beabsichtigten Verbindung und Deiner Ankunft mir rückte, um so banger ist mein Herz geworden, um so ernstlicher bin ich in mich gegangen, mich zu prüfen und diese Prüfung hat mir unwiderleglich dargethan, daß wir uns schon seit längerer Zeit nicht mehr auf gleichem Standpunkte befanden, daß wir es wußten, und uns nur der Muth gebrach, es auszusprechen! Ich klage Dich, ich klage mich deshalb nicht an, mein Freund! Der Irrthum, der uns umfing, hatte seine Quelle in unserer ganzen Glaubensrichtung, diese ist nicht mehr dieselbe und wir dürfen uns also auch nicht länger täuschen über die Bedeutung, die wir für einander hatten, die wir künftig für einander haben können!

Erfahrungen der schmerzlichsten Art haben mich belehrt, daß der blinde Glaube, den wir zu unserem Panier erhoben hatten, ein Verbrechen gegen die Vernunft, daß er die Quelle alles Aberglaubens und die Ursache der traurigsten Verwirrungen im Leben werden kann. Du selbst, Lieber! hast es mir einst gestanden, wie die gänzliche Ungleichartigkeit unserer Naturbegabung, die mich Dir zuweilen als eine erwünschte Freundin erscheinen ließ, Dir noch öfter fremd und abstoßend gewesen ist, und wie Du stets Bedenken getragen haben würdest, Dich mit mir zu verbinden, hätte nicht ein Fingerzeig des Höchsten, wie Du es nanntest, Dich zu mir geführt. Weil Du es so betrachtest, bist Du auch jetzt geneigt, ein Bündniß aufrecht zu erhalten, das uns kein Heil verspricht, denn wir empfinden, denken, glauben nicht mehr gleich – und was ist die Ehe, was kann sie sein, wo diese Grundbedingungen ihr fehlen?

Grade unsere Unzusammengehörigkeit konnte uns die Lehre geben, daß es ein Frevel war, in jenem Zufalle, der uns verbunden, den Fingerzeig eines Gottes sehen zu wollen, den wir als den Allweisen, den Allgütigen verehren. Gott kann es nicht wollen, daß sein Ebenbild, der Mensch, hervorgehe aus den Umarmungen zweier Gatten, denen die rechte Liebe fehlt, die sich keine ausfüllende Nothwendigkeit, und die dahin gekommen sind, einander als die Mittel der Selbsterziehung zu betrachten, jener egoistischen Selbsterziehung, die den Nächsten vergißt, wenn er nicht ebenfalls benutzt wird, die eigenen Tugenden an ihm auszuüben und zu entfalten.

Wir glaubten uns einseitig und ausschließlich in uns selbst vollenden zu können und vergaßen, daß wir nicht als Einzelwesen dastehen, sondern daß jeder von uns mit angeborenen Verhältnissen, mit angeborenen Pflichten auf die Welt kommt, und daß man sich durch eine Erziehungsweise nicht erheben kann, die uns von jenem naturgemäßen Boden unseres Liebens und Wirkens entfremdet. Wir glaubten uns zur höchsten Selbstlosigkeit erheben zu müssen, und wir verarmten an Liebe, wir wollten werden wie die Kinder und verlernten, uns wie sie dem Zuge unserer Herzen, unserer Neigungen unbefangen hinzugeben. Wie aber durften wir es wagen, uns diesem Zuge der Natur zu überlassen, da wir uns sagten: ›des Menschen Dichten und Trachten sei böse von Jugend an?‹ Wie durften wir es wagen, von dem allweisen Gott der Liebe zu behaupten, daß er den Menschen also erschaffen?

Ich sehe mit schmerzlichem Erschrecken, wie sehr ich irrte, wie viel ich versäumte, wie viel ich gut zu machen habe, an meinem Vater, an meinen Geschwistern und vor Allen auch an Dir. Ich würde versuchen, Dir meine Zukunft zu weihen, zu Deinem Wohl zu leben, hätte ich es nicht zu klar empfunden, daß eine Frau dem Manne nie wohlthuend zu werden vermag, dem sie sich nicht aus innerer Notwendigkeit in freudigem, liebendem Müssen dienstbar macht. Die rechte Liebe ist ein Nichtanderskönnen, ist ein Unwillkürliches, ist ganz Empfindung ohne Reflexion – und alles Beste in uns muß ja so naturgemäß aus uns hervorgehen, wie die Blüthe aus dem Stiel der Blume. So habe ich Dich nicht geliebt, so könnte ich Dich nicht lieben, bei aller Sympathie, die mich zu Dir gezogen hat. Nenne es keine Härte meines Wesens, daß ich mit diesem nackten Geständniß vor Dich trete; ich schulde es Dir und mir, Dir keinen Zweifel zu lassen; ich darf, nun ich den Zustand meines Innern kenne, nicht die Folgen eines Irrthums auf unsere Häupter herabziehen, in den wir uns unwissentlich verstrickt haben.

Ich halte Dich werth und in Ehren, denn Du bist sehr gut und bist mir immer ein milder, nachsichtiger Freund gewesen. Ich danke Dir Förderung aller Art, Dein Wohl und Weh wird mir stets theuer sein, Dein Andenken geheiligt, und doch kann ich Dein Weib nicht werden. Das Einzige, was ich für Dich zu thun vermag in unserer Lage, ist, daß ich es bin, die unser Bündniß löst, daß ich Dir Deine Freiheit wiedergebe, die Du wohl auch ersehnst, und die Deine Großmuth sich scheut von mir zu fordern.

Du suchtest Ruhe und Dein milder Sinn wird sie finden in der betrachtenden Stille, zu der Du Dich zurückzuziehen vorhast, Du wirst auch meiner dann wieder freier und liebevoller denken, und wirst vergeben, was Dich an mir kränkte, was meine Unbefriedigung Dir an Weh gebracht.

Ich aber will fortan streben, mich wiederzufinden, indem ich mich vergessen lerne, mich zu erziehen, indem ich mich an Andere hingebe. Ich will versuchen, immer nur das Nächste anzugreifen, damit mir schlichtes Thun das reflectirte Wollen abgewöhne und meinen Hochmuth niederhalte, der die Quelle aller unserer Leiden war.

Eine Liebespflicht ruft mich in die Ferne; ich hoffe, mein Vater gestattet mir, sie zu erfüllen und Helenen Beistand und Trost zu bringen, die ihrer sehr bedarf. Die Entfernung wird sich wohlthuend legen zwischen Dir und mir, und das Bewußtsein uns über das Weh eines solchen freiwilligen Scheidens forthelfen, daß wir damit das Rechte thaten und Uebel von uns abgewendet haben.

So sei denn der Segen des Himmels mit uns Beiden und das Auge Gottes auch auf dem Pfade, den ich zu gehen denke. Lebe wohl, guter, lieber Freund! erinnere Dich meiner, wie ich an Dich gedenken werde, in Neigung und in Mitgefühl, und bete für mich, wie ich zu Gott flehen werde um Dein Heil, um Deinen Frieden, – – damit laß uns scheiden!«

Tief aufathmend hatte sie den Brief beendet. Dann faltete sie die Hände zum Gebete; aber kaum hatte sie es gethan, als sie sich erhob. »Wozu jetzt beten!« rief sie aus, »ist es doch Gottes Ruhe, die ich fühle, war es doch eine Gottesstimme in der eignen Brust, die mich schon lang ermahnte, zu handeln, wie ich jetzt gethan. Das mußte sein, es war Nothwendigkeit, und also war's Gebot!«

In diesem Moment fielen ihre Augen auf das Oelgemälde, das Werk der Gräfin. »Und hält nicht auch Helene ihre Handlungsweise für Nothwendigkeit? Ist es ihr nicht Notwendigkeit, dem Manne beizustehen, der sie beherrscht? Schien es ihr nicht eine Notwendigkeit, als sie vom Grafen ihre Freiheit forderte? Hielt er es nicht für nothwendig, sie zu gewähren? – Wo ist die Gränze? wo die Wahrheit?« fragte sie sich prüfend, und ohne Bedenken antwortete sie sich: »Das, was der Mensch in ruhiger Ueberlegung fortdauernd als eine Nothwendigkeit für sich erkennt, das ist Gesetz für ihn, dem muß er folgen; und darin liegt der Friede,« schloß sie die Selbstbetrachtung, »den ich jetzt empfinde.«

Daß sie mit dieser Erkenntniß den Gott entthronte, der über der Erde die Thaten der Menschen lenkt und wägt, daß sie den Gott in ihre eigene Brust versetzte, den sie fortan zum Gesetzgeber und Richter über sich erhob, dessen war sie sich in dieser Stunde nicht bewußt; aber die Gedanken, die in uns entstehen, sind die Pfeiler, aus denen sich unsere Zukunft aufbaut.


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