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Erst eine geraume Zeit, nachdem Erich Regina wiedergefunden, hatte er erfahren, daß sie Friedrich kenne, und in einem geschwisterlichen Verhältnisse zu ihm gestanden habe. Schwer von dieser Mittheilung getroffen, unfähig seine Verbindung mit ihr ungeschehen zu machen, hatte er es vermieden, Friedrich's ferner gegen Regina zu erwähnen, die ohnehin sich kaum noch in einem Zusammenhang mit ihren alten Freunden befand. Aber mitten in dem Rausche seiner Leidenschaft, mitten in dem Genusse seines Glückes, hatte das ernste Bild des Freundes vor ihm geschwebt und Rechenschaft von ihm gefordert für den Mißbrauch der Gewalt, die des Mädchens Unerfahrenheit und Liebe ihm über dasselbe eingeräumt.
Er kannte die Strenge von Friedrich's sittlichen Begriffen, er hatte ihn stets unnachsichtig gefunden gegen jene Ueberschreitungen derselben, die man sich gewöhnt hat mit Nachsicht zu behandeln, weil man ihnen bei unserer verkehrten Civilisation keine Schranken zu setzen vermag. Der Gedanke, ein Mädchen, welches seinem Freunde theuer war, verführt zu haben, machte es ihm drückend, ihm zu schreiben. Vergebens suchte er sich vor dem eigenen Bewußtsein mit der wunderbaren Liebe und Hingebung Reginen's zu entschuldigen. Vergebens sagte er sich, daß nicht leicht ein Mann dem verlockenden Zauber dieses eigenthümlichen Begegnens widerstanden haben würde. Was ihn rechtfertigte in den Augen eines Weltmannes, diente nur dazu, ihn vor Friedrich noch strafbarer erscheinen zu lassen, und es war ihm eine Erleichterung, daß Regina, ganz versunken in die Gegenwart, ihrer Vergangenheit und ihres Jugendfreundes bald gar nicht mehr gedachte.
Friedrich, mit sich selbst beschäftigt, hatte es wohl bemerkt, daß die Briefe Erich's seltener und flüchtiger wurden, aber auch er fühlte in diesem Augenblicke keine Neigung zu schriftlichem Verkehr, und so konnte es um so leichter geschehen, daß ihre gegenseitigen Mitteilungen endlich völlig unterblieben, da sie Beide durch die Heidenbruck'sche Familie doch in einem oberflächigen Zusammenhange erhalten wurden.
In dem Leben jedes strebsamen Menschen kommen Zeiten vor, in denen seine geistige Entwickelung aus ihrem gleichmäßigen Gange herausgerissen und zu gewaltsamen Fortschritten gedrängt wird, die meist durch äußere Ereignisse, durch das Herantreten fremder Naturen hervorgerufen werden. Mit dem ersten Besuche der Erbauungsstunden bei der Gräfin hatte eine solche Epoche für Friedrich angehoben, und der Zwiespalt, in welchen Cornelie zu ihrem Vater gerathen war, hatte dazu beigetragen, die Krisis entschiedener und schärfer auszuprägen.
Der Baron nämlich, durchdrungen von dem Grundsatze, daß wer den Zweck will, auch die Mittel wollen müsse, hatte sich offen gegen den Doctor über die bedenkliche Richtung ausgesprochen, welche Cornelie genommen, und mit Erstaunen bemerkt, daß Jener ihrem Thun und Treiben mit großer Achtsamkeit gefolgt war. Auch der Doctor schien über Cornelie besorgt zu sein, ohne wie der Baron, an die Möglichkeit zu glauben, daß man sie durch Gründe der Vernunft von ihrem Irrthum überzeugen könne.
»Religiöse Ueberspannungen«, sagte er, »wollen ihren ungestörten Verlauf haben wie die Kinderkrankheiten, bei denen die gesunde Natur das Beste thut, wenn nicht Zwischenfälle ihre Thätigkeit verhindern. Und so fest ich an die innere Kraft Ihrer Tochter glaube, so fürchte ich, daß sie, durch ein anderes mitwirkendes Element gehindert, nicht frei ist, ihre Kraft zu brauchen!«
»Was meinen Sie damit?« fragte der Baron.
»Fräulein Cornelie hegte schon bei den Lebzeiten ihrer Mutter eine große Theilnahme für Herrn von Plessen, und der Spiritualismus des Kreises, in dem sie sich bewegen, hat, nach allem, was ich davon weiß, ein gutes Theil übersinnlicher Sinnlichkeit in sich, die ganz dazu geeignet ist, ein Mädchen von drei und zwanzig Jahren aufzuregen und an irgend einen ihrer Glaubensbrüder zu fesseln. Fräulein Cornelie liebt den Herren von Plessen!«
Der Vater schwieg. Er wußte, daß der Doctor niemals eine Behauptung aufstellte, für die ihm die Beweise fehlten, aber man konnte an der heftigen Bewegung, mit welcher der Fuß des Barons leise und schnell den Boden trat, seine Stimmung erkennen.
Es liegt etwas Schmerzliches darin, einen Mann von den Folgen seiner Irrthümer leiden zu sehen, wenn wir wissen, daß er im guten Glauben an die Wahrheit seiner Ansichten gehandelt hat. Der Doctor fühlte Mitleid mit dem Vater, und kam dem Kummer desselben durch die Bemerkung entgegen: »Es wird Ihnen in diesem Falle Nichts zu thun bleiben, als nach dem Beispiel Ihres Göthe zu verfahren!«
»Das heißt?« fragte der Baron.
»Sie müssen die Irrende ihre Straße gehen lassen, aber wie der Abbé im Wilhelm Meister es seinen Lehrlingen thut, ihr alle gefährlichen Seitenwege versperren, so daß sie mit dem Gefühl der Freiheit sich gezwungen sieht, das rechte Ziel zu finden.«
Dem selbstständigen Menschen ist ein Aufruf an seine Thätigkeit die beste Stütze gegen sein Leid. Die Aussicht, vorsorgend für Cornelie einzutreten, hob den Vater über sich und sein Empfinden hinaus, und mit der gewohnten Ruhe sagte er: »Es dringt sich mir täglich klarer die jedem Menschen schmerzliche Erfahrung auf, daß ich älter werde, daß das Alter und die Jugend sich nicht mehr verstehen, und daß die Scheidewand zwischen der Vergangenheit und Gegenwart in unseren schnelllebenden Tagen größer ist, als in früheren Zeiten. Ich hatte gehofft, mir in meinen Kindern gleichgesinnte Freunde zu erziehen, ihnen mit der Erfahrung meines Lebens zu nützen, und ich muß finden, daß die Saat jener Ueberzeugungen, die ich von ihrer Kindheit an in ihre Herzen zu streuen mich bemühte, nicht die erwarteten Früchte trägt. Woran liegt das, Doctor?«
»Mein verehrter Freund!« entgegnete dieser, »muß ich Ihnen, dem erfahrnen Landwirth sagen, daß dieselbe Saat auf verschiedenen Boden gestreut, von einem verschiedenen Klima groß gezogen, auch eine von der Saat verschiedene Frucht erzeugen muß?«
»Daraus folgt?« fragte der Baron.
»Daraus folgt, daß man jedes Gewächs in seiner Eigenthümlichkeit und nach seinen äußeren Bedingungen sich entfalten lassen muß, will man überhaupt eine Frucht davon erzielen!«
Es entstand eine Pause. Der Baron kannte den Grundsatz wohl. Er hatte ihn in der Behandlung von Pflanzen und Thieren mit dem glücklichsten Erfolge geübt, ihn auf den Menschen anzuwenden, dem Menschen gleiche Rücksicht und Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, sträubte sich seine Herrschsucht. Denn wunderbar genug, erkennen wir leichter die innere Berechtigung der Wesen an, welche wir die willenlosen, die mit blindem Instinct begabten nennen, als die Selbstberechtigung des Menschen, dessen Vernunft und freien Willen wir als seine wesentlichsten Vorzüge rühmen.
»Es ist hart,« sagte er nach langem Schweigen, »daß man so machtlos ist, das Schicksal seiner Kinder zu bestimmen!« Und wieder entstand eine Pause, bis er sich ermannte und den Doctor bat: »Verlieren Sie Cornelie nicht aus dem Auge!«
»Sie ist mir zu werth, als daß ich es könnte!« sagte dieser, und so natürlich auch die Antwort war, fiel sie dem Baron auf, ohne daß er sich erklären konnte, was ihn an derselben überraschte. Sein Verhältniß zum Doctor war jedoch von jenem Tage an ein engeres geworden, und unfähig sich ganz abzuschließen gegen die neue Zeit, schien er ihre Ansichten am leichtesten im Doctor zu respectiren, und seinen Widerspruch am geduldigsten zu tragen.
So kam es, daß der Doctor und mit ihm Friedrich, wieder häufiger das Heidenbruck'sche Haus besuchten, und da Cornelie, Plessen und Friedrich eben so beschäftigt und eingenommen für ihre religiösen Ansichten, als der Baron und der Doctor bestrebt waren, diese Ansichten zu bekämpfen, mußte das Beisammensein der Freunde meist Gespräche zu Wege bringen, welche mehr oder weniger das religiöse Gebiet berührten. Dabei stellte sich deutlicher als in den Erbauungsstunden, die Meinungsverschiedenheit zwischen Cornelie, Plessen und Friedrich heraus, weil dort alle sich durch Gebete in extatische Zustände zu versetzen strebten, welche absichtlich das Irdische von sich wiesen, während der Baron und der Doctor sie hier immer in dem Hinblick auf die Wirklichkeit zu erhalten wußten, und Friedrich's Studien ihn von selbst in diese zurückführten.
Je weiter er nämlich in der Kenntniß der Werke Fourier's und St. Simon's vordrang, um so mehr leuchtete es ihm ein, daß Beide nicht von dem Bestreben ausgegangen waren, neue religiöse Secten zu begründen. In der Absicht, die materielle und damit auch die geistige Lage der Menschen zu verbessern, waren sie dahin gekommen, die bisherigen religiösen Anschauungen als ein Hinderniß für ihre Zwecke zu erkennen, und sie deshalb verlassend, hatten sie versucht, sie durch andere, ihren Zwecken entsprechendere religiöse Vorstellungen zu ersetzen. – St. Simon's Ausspruch: »Die Religionen sind eine Umwandlung der wissenschaftlichen Anschauungen der Menschheit in Empfindung, und somit eine angewandte Wissenschaft, die zum Verbindungsmittel zwischen dem Gelehrten und dem Volke, zur Grundlage der sittlichen Belehrung dient,« hatte einen großen Eindruck auf Friedrich gemacht. Er war seiner Idee von der Fortentwicklung der religiösen Begriffe entgegengekommen, während diese Ansicht sich doch in schroffem Gegensatze zu der Unumstößlichkeit und Alleingültigkeit der christlichen Offenbarung befand, gegen die Friedrich sich eigentlich nicht aufzulehnen wagte.
Eines Abends, als er sich darüber gegen die Anwesenden ausgesprochen hatte, sagte der Doctor: »Wenn Sie Sich nur von dem Gedanken einer Offenbarung losmachen wollten! Das Christenthum ist eben so wenig eine Offenbarung, als die Dampfmaschine. Sie sind beide lang vorbereitete Resultate vielgestalteter Erfahrungen, das Christenthum im Felde der Religion, die Dampfmaschine im Felde der Mechanik; und weil sie das sind, haben sie eine organische Bedeutung, eine tief eingreifende Wirksamkeit, und die Fähigkeit, durch neue Erfahrungen weiter ausgebildet zu werden. Eine Offenbarung muß uns etwas vollkommen Neues geben. Was aber ist denn neu gewesen an dem Christenthum, als die eben so eigenthümliche als kluge Vermischung des vorhandenen Wissens, Glaubens und Aberglaubens?«
»Neu,« sagte Plessen, »waren die Lehren der Entsagung und der Selbstentäußerung, in einer Welt, welche die Selbstsucht und den Sinnengenuß bis auf das Aeußerste getrieben hatte. Neu und einzig war die Idee der Liebe in einer Welt von Tyrannei, die Idee der Brüderlichkeit, der allgemeinen Gleichheit in einer Zeit der furchtbarsten Sclaverei und Unterdrückung; und göttliche Offenbarung muß man die Verkündigung einer Wahrheit nennen, die nicht nur in jenem Augenblicke dem schmerzlich gefühlten Mangel der Menschheit begegnete, sondern für alle Ewigkeit die gleiche Kraft besitzt.«
»Dieser ewig gleichen Kraft des Christenthums scheint das Suchen der St. Simonisten und Fourieristen nach einer neuen religiösen Befriedigung zu widersprechen!« meinte der Baron.
»Neu,« sagte Cornelie, »war vor Allem die Idee der Kindschaft, welche uns Gott verbindet, und die es uns möglich macht, uns als Kinder in Gehorsam und in Glauben unserm Vater hinzugeben.«
Als sie aber die Worte vom kindlichen Gehorsam ausgesprochen hatte, färbte eine glühende Röthe ihre Wangen. Sie scheute es dem Auge ihres Vaters zu begegnen, so daß ihre Blicke sich auf den Doctor richteten. Er fühlte Mitleid mit ihrer Fassungslosigkeit, und um die Aufmerksamkeit so schnell als möglich von ihr abzulenken, rief er: »Wenn ich nur Nichts vom Glauben hören müßte! – Descartes hat einmal gesagt: ›Der Mensch muß Nichts glauben, was die Vernunft nicht für wahr erkennt, und was nicht von der Erfahrung bestätigt wird.‹ Und Descartes hat Recht. Kein vernünftiger Mensch schließt einen Contract ab, oder geht einen Pact ein, ohne sich die positivsten Beweise dafür geben zu lassen, daß er nicht dabei zu kurz kommt. Niemand läßt sich sobald auf's Glauben ein, wenn es das Mein und Dein von hundert Thalern gilt. Da aber, wo es sich um das ganze Leben und Sein des Menschen handelt, da begnügt man sich ohne Prüfung mit einem Glauben, für dessen Wahrheit es unmöglich ist, sich jemals einen tatsächlichen Beweis zu schaffen.«
»Die Fähigkeit des Glaubens ist eine Gnade!« bedeutete Plessen.
»Nennen Sie es eine organische Eigenschaft,« sagte der Doctor, »und ich werde Ihnen einräumen, daß sie mir fehlt, ohne mich darüber zu beklagen.«
Friedrich hatte nachdenkend der Unterhaltung zugehört. Jetzt, da Plessen dem Doctor aus religiöser Nichtachtung nur mit einem Schweigen antwortete, bemerkte er: »Es ist allerdings ein nicht fortzuleugnendes Factum, daß das Christenthum auf mannigfache Weise vorbereitet war, daß sowohl im Platon, wie in den Lehren der Essäer, zu denen Jesus gehörte, ein Theil seiner Elemente sich in mehr oder weniger vollendeter Form ausgesprochen findet. Aber was nimmt das dem Christenthume von seiner eigentlichen Bedeutung?«
»Von seiner eigentlichen Bedeutung Nichts!« rief der Doctor. »Es nimmt ihm nur den goldenen Heiligenschein der Offenbarung und der ihm eigenthümlichen Transcendenz, ohne den St. Joseph ein jüdischer Zimmermann, sein Sohn, der Heiland, ein verständiger Empörer gegen Kirche und Staat, und das Christenthum Nichts weiter ist, als der Ausdruck einer bestimmten menschlichen Entwicklungsstufe, als welchen ich es auch in gebührendem Grade anerkenne.«
»Zerlegen Sie den menschlichen Organismus, den Sie ja gern als Bild gebrauchen, in seine chemischen Bestandtheile,« wendete Plessen ein, »so bleiben Ihnen jene Stoffe zurück, die sich in den verschiedensten Zusammenstellungen durch die ganze Welt verbreitet finden; und doch soll es Ihnen schwer werden mit allem Wissen und Erkennen, den Menschen wieder zusammenzufügen, dessen Organe zu zersetzen Ihnen leicht war. Es bleibt ein letztes Wunderbares übrig, eine Kraft, die Sie nicht wägen und nicht messen können, die Sie aber zugeben müssen, weil Sie sie thätig sehen. Diese Kraft ist nicht mit dem Gedanken zu erfassen, sie will empfunden sein; und weil man sie empfindet, muß man an dieselbe glauben!«
»Diese Voraussetzung, welche noch deistisch genug ist, zugegeben,« meinte der Doctor, »so folgt daraus noch nicht, daß man, um diese übermenschliche Kraft zu empfinden oder zu denken, sie in menschlicher Gestalt darstellen und sie mit menschlichen Eigenschaften und Fehlern ausstatten müsse, wie es das Christenthum nach dem Beispiel seiner heidnischen und jüdischen Vorläufer gethan hat. Es ist beschränkt und doch natürlich, weil der Mensch in seinem Wesen eben beschränkt ist, daß er sich nicht wohl etwas Höheres als sich selbst zu denken vermag; aber die Alten, namentlich Platon, hatten einen viel reinern, unpersönlichern Gottbegriff, als den des christlichen Gottvaters!«
»Ich möchte wohl die Alten lesen,« sagte Cornelie, »um mir eine Einsicht in ihre religiösen Vorstellungen zu verschaffen.«
»Thun Sie das,« meinte Herr von Plessen, »und die Erscheinung des Christenthums wird Ihnen um so glorreicher daraus entgegentreten. Wir können gleich morgen mit dem Platon den Anfang machen, ich bin zu jeder Zeit zu Ihren Diensten!«
»Es wird Dich überraschen,« äußerte der Baron, »wenn Du Dich überhaupt der vorchristlichen Epoche zuwendest, wie vollständig in den griechischen und römischen Denkern der Gottbegriff als einig höchstes Wesen ausgebildet war. Auch die Lehren von einer allwaltenden Vorsehung, von Lohn und Strafe nach dem Tode, sind vollkommen unter ihnen entwickelt. Selbst die Neigung zu jenen Spitzfindigkeiten und Grübeleien über theologische Gegenstände, die ihren Höhenpunkt beim Auftauchen der antikatholischen Reformationen erreichten, trifft man in gleicher Stärke sowohl bei den Juden, als bei den Römern und Griechen wieder.«
»Am Auffallendsten werden Sie es finden,« fügte der Doctor hinzu, »daß nicht einmal die Mythologie des Christenthums eine neue ist.«
»Die Mythologie des Christenthums?« wiederholte Herr von Plessen, »was wollen Sie damit sagen?«
»Wie wollen Sie die Geschichte des Heilandes, der Madonna und ihres beiderseitigen Zusammenhanges mit St. Joseph und Gottvater, die Geschichte von der Auferstehung und zweiten Erdenwandlung Jesu, und von seiner Himmelfahrt anders bezeichnen, als mit dem Namen der christlichen Mythologie?«
»Ich bedachte freilich nicht,« meinte Plessen, »daß man – –«
»Als Jude geboren,« fiel ihm der Doctor in's Wort, der richtig die Einwendung seines Gegners berechnet hatte, »daß man, als Jude geboren, mit ungeblendetem Auge jenen unerklärlichen Wundern gegenüber steht, und nicht begreifen kann, wie es möglich ist, Dinge, die sich im unauflöslichsten Widerspruche mit der sechstausendjährigen Erfahrung der Menschheit befinden, für etwas Anderes als für mythologische Allegorien zu halten, die sie bei den Egyptern auch gewesen sind!«
»Bei den Egyptern?« fragte Cornelie.
»Ja, liebes Fräulein! Die Mythologie des Christenthums stammt aus dem Isisdienste. Rhea gebar nach demselben den Osiris, den allwaltenden guten Geist, der sogar auch unter dem Zeichen des Auges dargestellt und verehrt wird, und bei dessen Geburt eine Stimme ertönte, welche durch die Welt rief: Der Herr des Alls tritt hervor an's Licht! Nach Osiris brachte Rhea den Typhon zur Welt, der unzeitig aus ihrer Hüfte entsprang, und endlich die Isis. Typhon ist das böse, von Unwissenheit und Falschheit aufgeblasene Princip, das die heilige Lehre zerstört, dem Guten entgegentritt und es vernichtet. Isis aber, die Alliebende, das Ewigweibliche, der Urquell der Gnade, sammelt und erhält durch diese ihre Gnade die vernichtete Lehre immer wieder, und baut das Gute stets auf's Neue auf. Da haben Sie den Gottvater, den Teufel und die Jungfrau. Selbst der Mensch gewordene Gottessohn ist in dem Horus, dem Bastardsohn der Götter, vorgebildet, während die Lehre von der Menschwerdung und dem Erdenwallen der Gottheit zur Erziehung der Menschheit, den allerältesten religiösen Vorstellungen angehört.«
Gläubigen Naturen kann nichts Schlimmeres begegnen, als wenn man Thatsachen wider sie in's Feld führt. Gegen Gründe der Vernunft kann der Glaube sein Recht behaupten, sie nicht einzusehen, nicht anzuerkennen. Gegen historische Thatsachen aber läßt sich nicht streiten, und bei aller Ueberspannung Corneliens war ein Wahrheitsgefühl in ihr rege geblieben, das sich nicht unterdrücken ließ, so oft sie es auch, auf Plessen's Anrath, als gefährliche Zweifelsucht in sich zu unterdrücken gestrebt hatte. Von Jugend auf gewöhnt, den Doctor und seine Duldsamkeit zu verehren, fiel ihr eine ihm sonst fremde Härte auf, sobald seine Behauptungen sich gegen Plessen richteten. Sie zürnte ihm deshalb und war doch unfähig, wie ihr geistlicher Freund es that, seine Einwendungen mit dem nichtachtenden Hochmuth des Glaubens von sich abzuweisen.
Der feinen Beobachtung Plessen's entgingen weder der Eindruck quälenden Erstaunens, welchen diese Unterredung in Cornelie hervorgerufen hatte, noch die veränderte Stimmung des Barons gegen ihn selbst; und seine nervöse Reizbarkeit bewältigte ihn dergestalt, daß er, unfähig zu antworten, in eine schweigende Niedergeschlagenheit versank, von welcher Cornelie sich eben so gepeinigt fühlte, als ihr Freund.
Sie hätte viel darum gegeben, in diesem Augenblicke die Gesellschaft verlassen und Plessen allein sprechen zu können, aber Niemand dachte daran, aufzubrechen. Man war zu dem Ausgangspunkte der Unterredung zurückgekehrt, und Friedrich und der Doctor hatten sich in eine Discussion über die socialen Zwecke und die ausführbaren Seiten des St. Simonismus und Fourierismus vertieft, als der Lieutenant nach Hause kam, und sich neben der mit Näharbeit beschäftigten Cousine niedersetzte.
»Wovon sprachen sie?« fragte er dieselbe leise.
»Von allerlei speculativen Dingen,« entgegnete Auguste in gleichem Tone, »durch die die Menschen auch nicht besser werden. Ich denke, wenn Jeder auf der Welt das Seine thäte, und sich nicht um fremde Angelegenheiten mehr bekümmerte als um die eigenen, da könnte man ein gut Theil Nachdenken und Frömmigkeit ersparen!«
Ohne den Ausfall gegen Cornelie zu beachten, sagte der Lieutenant: »Und doch sorgst Du Dich stets nur um mich!«
Sie antwortete mit einem liebestrahlenden Blicke und mit dem unterdrückten Ausruf: »Das ist ja so natürlich!« als grade ein Diener erschien, dem Baron die Briefe zu überbringen, welche mit der Abendpost gekommen waren.
Er machte sie auf, sah sie durch und bemerkte dann: »Da sendet mir Erich einen Brief von Larssen, dem der Ortswechsel doch in jedem Betrachte vortheilhaft gewesen zu sein scheint. Er spricht mit Ernst von unternommenen philologischen Forschungen, von einem Versuch sich in der Journalistik zu bethätigen, und es bewährt sich wieder einmal, daß jeder Mensch im Grunde leicht zu einem ihm und Anderen förderlichen Dasein gelangen kann, wenn er nur auf den ihm gemäßen Lebensweg gebracht wird.«
Der Doctor und der Lieutenant sahen sich mit verständnißvollem Blicke an, und wie vorhin Cornelie betroffen worden war durch ihren Ausspruch über den kindlichen Gehorsam, so fühlte jetzt der Baron, daß er mit seinem Urtheil grade jenen Wünschen Georg's entgegenkam, denen er sich immer abgeneigt bewiesen hatte.
»Onkel!« rief Richard, der sich wie ein Mann zu fühlen begann, da das Ende seines achtzehnten Jahres und mit ihm die Zeit seiner Selbstständigkeit sich nahte – »Onkel! da kommst Du ja ganz auf den Grundsatz, den Brand uns vorhin als eine Lehre Fourier's gepredigt hat: ›Jeder nach seiner Fähigkeit und jede Fähigkeit nach ihren Werken.‹ Hieß es nicht so? Und das ist im Grunde ganz dasselbe, was Georg immer behauptet, wenn er unter die Hinterwäldler gehen möchte!«
Der Baron würde eine solche Bemerkung zurückzuweisen versucht haben, hätte Georg selbst sie gemacht. Von Richard ließ er sie sich gefallen. Er fühlte für ihn die Zuneigung, welche das beginnende Greisenalter immer mächtiger an die Jugend fesselt, während doch im Grunde des Jünglings ganze Entwicklung dem Baron schmerzlich die Mißgriffe darthun mußte, die er in der Erziehung seiner eigenen Kinder begangen hatte.
Richard war das Muster eines geistig und leiblich gesunden Jünglings. Freimüthig bis zur Rücksichtslosigkeit, auf sich selbst gestellt und selbstvertrauend, unabhängig und doch voll Unterordnung, wo er Liebe und Wohlwollen für sich voraussetzen durfte. Daher kam es, daß der Doctor sowohl, als Friedrich und Georg ihn höher hielten, als es sonst einem so jungen Menschen zu Theil zu werden pflegt, während er selbst eine fast leidenschaftliche Hingebung für den Lieutenant hegte, und nur Plessen und Auguste sich gegen ihn und mit ihm nicht zu stellen wußten.
Auch jetzt, als Richard der Neigung des Lieutenants für Amerika gedachte, sagte Auguste, sei es, um dem Onkel zu gefallen, der Nichts von solchen Plänen hören wollte, oder aus eigenem Mißbehagen an denselben: »Wie herzlos ist das!«
»Was ist herzlos?« fragte Richard.
»Daß Du nichts Besseres für Georg verlangst, als solch ein jämmerliches Loos!«
»Jämmerlich?« entgegnete der Jüngling, »Du grade mußt es ja ganz prächtig finden! Da ist von speculativen Dingen nie die Rede, da brauchst Du Dich nur um Deine eignen Angelegenheiten zu kümmern, und kannst kochen, nähen und commandiren den ganzen langen Tag!«
Auguste ward bleich vor Aerger, sie nannte ihn unerträglich, auch der Onkel schüttelte mißbilligend den Kopf, und der Lieutenant sagte, da man sich grade erhob, leise zu ihm: »Du hast gehorcht!«
»Nein! ich höre nur scharf!« entgegnete Richard, »und Du weißt es nicht, wie ich diese Auguste hasse!«
»Das ist ungerecht! Auguste ist die Güte selbst!«
»Ja! für Dich – – grade darum aber hasse ich sie!« stieß der Jüngling heraus, und hing sich an des Lieutenants Schulter, der sich um diese Worte, als um einen Ausdruck jugendlicher Eifersucht, nicht weiter kümmerte.